BT-Drucksache 17/1433

Kernfusionsforschung kritisch überprüfen - ITER-Vertrag kündigen

Vom 21. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1433
17. Wahlperiode 21. 04. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, Bärbel Höhn,
Dorothea Steiner, Winfried Hermann, Ulrike Höfken, Dr. Anton Hofreiter, Oliver
Krischer, Ingrid Nestle, Friedrich Ostendorff, Dr. Hermann Ott, Markus Tressel,
Daniela Wagner, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kernfusionsforschung kritisch überprüfen – ITER-Vertrag kündigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland steht in der Verantwortung, sich für einen sicheren und zivilen Ein-
satz von Zukunftstechniken einzusetzen. Als weit entwickeltes Industrieland
und Hochtechnologielieferant hat Deutschland zudem besondere Verantwortung
bei der Bewältigung weltweiter Herausforderungen.

Inzwischen gibt es die Übereinkunft, die Erderwärmung infolge des Klimawan-
dels durch internationale Anstrengungen möglichst auf maximal 2 ˚C zu be-
grenzen. Hierzu können insbesondere weitere Fortschritte bei einer dem Nach-
haltigkeitsgebot genügenden Energieversorgung beitragen.

Die Energieforschung muss sich in Anbetracht des Klimawandels stärker auf
Antworten für drängende, technologisch lösbare Probleme ausrichten, die in ab-
sehbarer Zeit die Energie- und Klimaprobleme der Welt lösen. Eine Technolo-
gie, wie die Kernfusion, die seit 60 Jahren erforscht wird und noch mindestens
weitere 50 Jahre Entwicklung bis zur erhofften Anwendbarkeit braucht, erfüllt
diese Maßgabe nicht.

Der Bau des Kernfusionsreaktors ITER stellt mit seinen explodierenden Kosten
zudem eine unkalkulierbare Gefahr für die öffentlichen Haushalte der EU und
Deutschlands dar.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. darauf hinzuwirken, dass das ITER-Abkommen einvernehmlich aufgehoben
oder, falls dies nicht kurzfristig erreicht werden kann, außerordentlich gekün-
digt wird;

2. den Bundestag zeitnah und umfassend über die Entscheidungen und Ergeb-
nisse der Sitzungen des ITER-Council zu unterrichten;
3. unverzüglich damit zu beginnen, die Fusionsforschungsmittel aus dem Bun-
deshaushalt schrittweise auf die Erforschung der erneuerbaren Energien und
der Energieeinsparung zu übertragen.

Berlin, den 20. April 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Drucksache 17/1433 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Das Hauptprojekt der Kernfusionsforschung wird mit dem Fusionsreaktor ITER
derzeit im südfranzösischen Cadarache gebaut. Dort soll erstmals mit brennen-
dem Fusionsplasma bewiesen werden, dass durch Fusionsprozesse mehr Ener-
gie gewonnen werden kann als für die Zündung der Plasmareaktion aufgebracht
werden muss. Beteiligt sind die EU, Japan, die USA, Russland, China, Südkorea
und Indien. Nachdem das Projekt 1985 von Ronald Reagan und Michail
Gorbatschow angestoßen wurde, soll der ITER 2018 funktionsfertig erstellt
sein. 2026 ist die erste Fusionsreaktion geplant.

Beim Bau des Kernfusionsreaktors ITER wird mit erheblichen Kostensteigerun-
gen gerechnet. Nach dem ITER-Abkommen trägt Europa von den Gesamtbau-
kosten einen Anteil von 45,5 Prozent, alle anderen Partner von je 9,1 Prozent.
Für den EU-Beitrag ist laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung
abzusehen, dass er von ursprünglich 2,8 Mrd. Euro bei Vertragsunterzeichnung
2006 auf schätzungsweise 5,6 Mrd. Euro steigen wird, was schon jetzt eine Ver-
doppelung der Kosten bedeutet.

Um die aufwachsende Finanzierungslücke wenigstens teilweise aus dem ent-
sprechenden EU-Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Atomgemein-
schaft (Euratom) bestreiten zu können, wird die zeitliche Verschiebung einkal-
kuliert. Das ursprünglich dem Bau zugrunde liegende Szenario kann ohnehin
zeitlich nicht mehr eingehalten werden. Damit zeigt sich auch bei ITER das
fusionsspezifische Phänomen des „moving target“, eines sich immer weiter in
die Zukunft verschiebenden Ziels, das zudem immer teurer zu werden droht.
Derweil werden auch die technischen Lösungen für die einzelnen Komponenten
des Fusionsprozesses immer komplexer und teurer.

Die nationale Fusionsforschung wird immer stärker auf die Zuarbeit zum ITER
ausgerichtet. Da eine solche finanzielle und technische Herausforderung ohne-
hin nur durch internationale Kooperation zum Erfolg führen kann, wird auch die
deutsche Fusionsforschung stets mit dem wichtigen Beitrag für die interna-
tionale Gemeinschaft begründet. ITER ist das weltweit zweitgrößte Forschungs-
projekt nach der Internationalen Raumstation ISS.

Als Nachfolger von ITER ist schon heute der Fusionsreaktor DEMO projektiert,
mit dem im Idealfall ab 2035 im Versuchsmaßstab Elektrizität generiert werden
könnte. Auch DEMO wird allerdings noch keinen Strom liefern. Erst wenn
DEMO seine Tests besteht, können die Voraussetzungen für den Bau eines kom-
merziell nutzbaren Fusionsreaktors bestimmt werden, der dann tatsächlich
Strom liefern soll. Die Schätzungen der Zukunftsenergieforscher gehen davon
aus, dass dies frühestens im Jahr 2055 sein kann – wenn überhaupt. Bis dahin
werden allein die Forschungskosten insgesamt wohl auf 100 Mrd. Euro geklet-
tert sein.

Die Gesamtausgaben der Bundesrepublik Deutschland für die Kernfusion belau-
fen sich auf ca. 135 Mio. Euro jährlich mit steigender Tendenz. Insgesamt wur-
den bis 2009 bereits 3 303 Mio. Euro Forschungsmittel für die Option der
Fusionsenergie verausgabt. Da die Fusionsforschung immer im Kontext der nut-
zenorientierten Energieforschung diskutiert wurde, muss sie sich einer kri-
tischen Überprüfung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses stellen. Eine Erfolgs-
evaluation hat es bisher aber nur in Ansätzen gegeben; die systemimmanenten
Restriktionen und Schwierigkeiten sind daher kaum bekannt.

Ein wie 2002 im Sachstandsbericht des Büros für Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen Bundestag (TAB) eingeforderter öffentlicher Diskurs über die
Kernfusion als Zukunftsoption wurde bisher nicht angestoßen.

In der spärlich und nur in Fachkreisen geführten Erörterung sind daher insbeson-

dere die Nachteile der kapitalintensiven Großtechnologie Kernfusion weitge-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1433

hend ausgeblendet. Sowohl die Proliferationsgefahr als auch die Steuerbarkeit
der anfallenden Energiemenge werden bisher kaum öffentlich diskutiert. Die
Unkenntnis geht sogar bei politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern so
weit, dass wissenschaftlich unbestrittene Erkenntnisse, wie beispielsweise die
entstehende Radioaktivität oder das bisher fehlende geeignete Material, gänz-
lich ausgeblendet werden.

Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat darauf
hingewiesen, dass die Menge des radioaktiven Inventars in Fusionsreaktoren
etwa genauso hoch ist wie in Kernspaltungsreaktoren derselben Leistung.
Nach der EU-Sicherheitsstudie SEAFP enthält ein 1000-MWe-Fusionsreaktor
etwa 2 kg Tritium. Das entspricht einer Aktivität von 700 Billiarden (7*1017)
Becquerel (vgl. Bundestagsdrucksache 14/8959).

Das Versprechen einer zukünftig unendlich verfügbaren Energie ignoriert, dass
der frühestgenannte Zeitpunkt für die Einsetzbarkeit der Kernfusion zu spät ist.
2050 müssen die industrialisierten Nationen der Welt ein Energiesystem instal-
liert haben, das mit einem Minimum der heutigen CO2-Emissionen auskommt,
um die internationalen Vorgaben für die Klimaschutzziele zu erreichen. Dazu
wird neben dem Umsteuern auf erneuerbare Energien ein völlig anderer Um-
gang mit dem Energieverbrauch gehören.

Eine neue Technologie, die unendlich viel Energie zu vermutlich höchsten Prei-
sen liefert, wird 2050 nicht das sein, was industrialisierte Gesellschaften brau-
chen. Die Entwicklungs- und Schwellenländer dagegen werden sie sich in der
Mehrheit nicht leisten können.

Vor diesem Hintergrund ist es geboten, öffentliche Mittel lösungsorientiert in
Technologien zu investieren, die absehbar den Hauptanteil der Energieversor-
gung übernehmen werden, und die Anstrengungen der Energieforschung stärker
auf weltweit anwendbare Lösungen zu fokussieren.

Des Weiteren ist vor dem Hintergrund der genannten Kostenexplosion ein Fest-
halten an ITER nicht mehr tragbar. Das ITER-Abkommen ist daher zu beenden.

Europäischer Vertragspartner von ITER ist Euratom. Die Bundesrepublik
Deutschland als Mitglied bei Euratom muss daher in den entsprechenden Gre-
mien darauf hinwirken, dass Euratom mit den weiteren ITER-Vertragspartnern
eine Beendigung des Projektes und eine Aufkündigung des ITER-Abkommens
vereinbart. Ist dies nicht möglich, sollte Euratom den ITER-Vertrag einseitig
und außerordentlich kündigen. Das Völkervertragsrecht sieht ausdrücklich
außerordentliche Kündigungs- oder Rücktrittsrechte vor. Nach Artikel 62 des
Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge kann von einem Vertrag
zurückgetreten werden, wenn eine Änderung der bei Vertragsabschluss gegebe-
nen Umstände das Ausmaß der noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend
umgestaltet. Die erheblichen Kostensteigerungen sind eine tiefgreifende Um-
gestaltung der zu erfüllenden Pflichten. Dies war bei Abschluss des Vertrages
nicht abzusehen. Euratom kann das ITER-Abkommen daher außerordentlich
kündigen. Die Bundesregierung muss unverzüglich für eine Beendigung des
Projektes sorgen.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.