BT-Drucksache 17/14119

Das Recht auf Ausbildung umsetzen - Berufliche Perspektiven für alle garantieren

Vom 25. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14119
17. Wahlperiode 25. 06. 2013

Antrag
der Abgeordneten Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte
und der Fraktion DIE LINKE.

Das Recht auf Ausbildung umsetzen – Berufliche Perspektiven für alle garantieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa hat infolge der globalen Finanzkrise und
der damit verbundenden rigiden Kürzungspolitik dramatische Ausmaße ange-
nommen: Für März 2013 weist die Eurostat-Statistik aus, dass in der Europä-
ischen Union (EU) durchschnittlich 23,8 Prozent aller Menschen unter 25 Jah-
ren ohne Arbeit sind. Das bedeutet, dass jeder vierte junge Mensch in der EU in
seiner beruflichen Perspektive und sozialen Teilhabe eingeschränkt ist. In den
von der Krise am stärksten betroffenen Ländern Spanien und Griechenland be-
trifft das sogar mehr als die Hälfte aller jungen Menschen.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Europäische Kommission auf die Einfüh-
rung einer „Jugendgarantie“ verständigt. Mit der Jugendgarantie soll nun er-
reicht werden, dass „jungen Menschen binnen vier Monaten nach Verlust einer
Arbeit oder dem Verlassen der Schule eine hochwertige Arbeitsstelle bzw. wei-
terführende Ausbildung oder ein hochwertiger Praktikums- bzw. Ausbildungs-
platz angeboten wird“ (Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Einführung
einer Jugendgarantie, COM(2012) 729). Die EU reagiert mit der Jugendgarantie
auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die, wird sie nicht eingedämmt, Armut,
Perspektivlosigkeit und soziale Konflikte weiter verschärfen wird bis hin zu
einer „Gefahr der Radikalisierung einer ganzen Generation“ (Joachim Möller,
Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Quelle: DER
SPIEGEL, Heft 21/2013).

In Deutschland geht die Bundesregierung davon aus, dass die Ziele der Empfeh-
lung zur Jugendgarantie an die EU-Mitgliedstaaten bereits weitgehend erfüllt
sind. Sie verweist in diesem Zusammenhang pauschal auf die Stärke des dualen
Systems der Berufsausbildung und die niedrige Jugendarbeitslosigkeit von rund
8 Prozent. In der Tat hat das duale System durch die ausgewogene Verknüpfung
von Theorie und Praxis ein hohes Integrationspotenzial. Dennoch verschleiert
die offiziell angegebene Jugendarbeitslosigkeit den hohen Handlungsbedarf in
der Bundesrepublik Deutschland.
Der Berufsbildungsbericht 2013 legt dar, dass lediglich 66,9 Prozent aller aus-
bildungsinteressierten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten haben. Die
Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge erreicht mit nunmehr 551 271
den zweitniedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Nur noch 21,7 Prozent
aller Betriebe bilden aus. Mehr als 260 000 Jugendliche landeten in Bildungs-
maßnahmen des Übergangsbereichs. Auch wenn die Bundesregierung unbeirrt
darauf verweist, dass es mehr offene Stellen (33 275) als unversorgte Bewerbe-

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rinnen und Bewerber (offiziell 15 650) gibt, weist der Berufsbildungsbericht
u .a. folgende Ergebnisse auf: Fast 90 000 „andere ehemalige Bewerber ohne
Angabe eines Verbleibs“ werden unter der Rubrik „Vermittlungsauftrag abge-
schlossen“ geführt, obwohl sie keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Auch
über 107 000 Bewerberinnen und Bewerber unter der Rubrik „andere ehemalige
Bewerber mit bekanntem Verbleib“ werden statistisch erfasst, als wären sie in
eine Berufsausbildung eingemündet. Bei über 60 000 jungen Menschen, die eine
Ausbildung beginnen wollten, aber nun weiter zur Schule gehen, ein Praktikum
absolvieren oder an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen, läuft
zwar der Vermittlungsauftrag der Bundesagentur für Arbeit (BA) weiter, aber
auch sie werden von der Gesamtzahl der Ausbildungssuchenden abgezogen. Gar
nicht erst aufgenommen in die Statistik der BA werden Jugendliche, die keinen
Schulabschluss haben. Diese Zahlendreherei verschleiert das Ausmaß des viel
zu geringen Angebots an betrieblichen Ausbildungsplätzen und geht zu Lasten
vieler junger Menschen, deren berufliche Perspektive und Teilhabe an der Ge-
sellschaft eingeschränkt werden.

Die Ausbildungsplatzmisere konnte auch mit der Selbstverpflichtung der Be-
triebe im Rahmen des Nationalen Pakts für Ausbildung und Fachkräftesiche-
rung nicht behoben werden, obwohl die Ziele des Paktes vorsahen, 60 000 neue
Ausbildungsstellen und 30 000 neue Ausbildungsbetriebe zu gewinnen. Da-
rüber hinaus sind trotz eines steigenden Fachkräftebedarfs und sinkender
Schülerzahlen die Eintritte in Bildungsmaßnahmen des Übergangsbereichs bun-
desweit nur leicht rückläufig. In einigen Bundesländern, beispielsweise in Nie-
dersachsen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg, sind es jedoch immer
noch fast 40 Prozent aller Jugendlichen, die in eine Übergangsmaßnahme ein-
münden. Im vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) herausgegebenen
wissenschaftlichen Diskussionspapier „Reform des Übergangs von der Schule
in die Berufsausbildung“ (Heft 122) wird nicht davon ausgegangen, „dass das
Übergangssystem in Zukunft als ‚Ganzes‘ austrocknen wird“, da die Versor-
gungslage auf dem Ausbildungsmarkt regional erheblich variiere und zudem
erhebliche Zweifel bestünden, dass die Betriebe „allen Schulabgängern unab-
hängig von ihrer Vorbildung und Motivationslage Ausbildungsplätze anbieten
werden“.

Insgesamt hat die Ausbildungsplatzmisere der vergangenen Jahre dazu geführt,
dass sich die Zahl derer, die keine Berufsausbildung abschließen konnten,
potenziert hat. Mittlerweile sind es ca. 1,4 Millionen junge Menschen zwischen
20 und 29 Jahren, zwischen 20 und 35 Jahren sind es bereits 2,2 Millionen Men-
schen. Sie sind damit gegenüber Menschen mit Berufsabschlüssen einem weit-
aus höheren Risiko ausgesetzt, arbeitslos zu werden bzw. zu bleiben. Es fehlen
noch immer verbindliche Angebote und Initiativen, damit sie einen vollqualifi-
zierenden Berufsabschluss erlangen. Ungeachtet dessen hält die Bundesregie-
rung weiter an dem auf dem Dresdner Bildungsgipfel 2008 formulierten Ziel
fest, die Zahl der jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlos-
sene Berufsausbildung bis 2015 von 17 Prozent im Jahr 2005 zu halbieren. Von
diesem Ziel ist sie weit entfernt.

Junge Menschen brauchen verlässliche berufliche Perspektiven. Vor diesem
Hintergrund ist eine Garantie auf Ausbildung und Beschäftigung auch in
Deutschland notwendig. Das bedeutet, dass alle jungen Menschen, die eine Aus-
bildung aufnehmen wollen, auch eine gute Ausbildung bekommen. Eine Ver-
mittlung in Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen ohne garantierten An-
schluss in eine vollqualifizierende Berufsausbildung ist abzulehnen. Darüber
hinaus ist ein Praktikum nach der Beendigung einer Ausbildung als Berufsein-
stiegsinstrument abzulehnen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14119

Die Bundesregierung muss nach dem Scheitern des Ausbildungspaktes und dem
europäischen Vorstoß der Jugendgarantie nun endlich reagieren und das Recht
auf Ausbildung umsetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Empfehlung der Europäischen Kommission über die Einführung einer
Jugendgarantie als Ausgangspunkt zu nehmen, in Deutschland das Recht auf
Ausbildung für alle jungen Menschen umzusetzen. Die „freie Wahl der Aus-
bildungsstätte“ nach Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes muss mittels
eines auswahlfähiges Angebots an Ausbildungsplätzen, das die Zahl der
Bewerberinnen und Bewerber um mindestens 12,5 Prozent übersteigt,
garantiert werden;

2. allen jungen Menschen den Zugang zu einer guten Ausbildung zu ermög-
lichen, indem eine gesetzliche Umlagefinanzierung von Ausbildungsplätzen
geschaffen wird, die alle Betriebe für die Ausbildung junger Menschen in die
Pflicht nimmt;

3. eine ehrliche Ausbildungsberichterstattung auf den Weg zu bringen, die den
tatsächlichen Bedarf an Ausbildungsplätzen ausweist und alle Ausbildungs-
verläufe, insbesondere den Übergang von der Schule in Ausbildung, umfas-
send abbildet. Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz erhalten, dürfen in
der Statistik nicht als „versorgt“ gezählt werden, unabhängig davon, ob sie an
Ersatzmaßnahmen teilnehmen, die Suche aufgeben, sich eine Alternative ge-
sucht haben oder als „nicht ausbildungsreif“ deklariert wurden;

4. eine grundlegende Neuausrichtung der Berufsausbildungspolitik vorzuneh-
men, der die folgenden Eckpunkte zugrundeliegen:

a) um ein Abdrängen in Kurzausbildungen mit deutlich schlechteren Berufs-
und Aufstiegsperspektiven zu verhindern sowie dem Trend zu höheren
Qualifikationsniveaus Rechnung zu tragen, wird allen ausbildungsinteres-
sierten jungen Menschen der Abschluss einer vollqualifizierenden Erst-
ausbildung gesichert;

b) um prekäre Ausbildungsbedingungen zurückzudrängen, wird die Kon-
trolle der Ausbildungsqualität deutlich gestärkt, indem die Kontrollfunk-
tion einer neutralen Institution, die eine paritätische Zusammensetzung
der Sozialpartner aufweist, übertragen wird;

c) im Berufsbildungsgesetz wird anstelle der derzeitigen Ermessensbestim-
mung ein Rechtsanspruch auf eine Ausbildung in Teilzeit verankert, um
Auszubildenden in Elternzeit oder mit Verantwortung für pflegebedürftige
Personen eine gleichwertige Ausbildungsform mit finanzieller Absiche-
rung gegenüber der Vollzeitausbildung zu garantieren;

d) das Bundesausbildungsförderungsgesetz wird mit dem Ziel reformiert, für
Schülerinnen und Schüler bzw. Auszubildende in vollzeitschulischen
Ausbildungen eine gute soziale Absicherung zu schaffen, die ihnen ein ei-
genständiges Leben außerhalb des Elternhauses ermöglicht und dabei den
Ausbildungs- und Lebensbedarf angemessen abdeckt;

e) der öffentliche Dienst übernimmt hinsichtlich der Ausbildungsbeteiligung
und -qualität sowie der Übernahme von Auszubildenden in unbefristete
Vollzeitstellen eine Vorbildfunktion. Dabei wird die Ausbildungsquote
insgesamt gesteigert, der Anteil von Frauen, Menschen mit Migrations-
hintergrund sowie mit Behinderungen ist entsprechend zu berücksich-
tigen;
f) Praktika nach einer abgeschlossenen Ausbildung als Berufseinstieg sind
grundsätzlich auszuschließen;

Drucksache 17/14119 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

5. die öffentliche Berufsorientierung, -beratung und -vermittlung grundlegend
zu reformieren, indem folgende Maßnahmen umgesetzt werden:

a) die Berufsberatung und -vermittlung von an Ausbildung Interessierten er-
folgt rechtskreisübergreifend (Zweites und Drittes Buch Sozialgesetzbuch)
nach einheitlichen Qualitätsstandards durch umfassend ausgebildete Be-
raterinnen und Berater,

b) die Vermittlung von jungen Menschen in gute Ausbildungsplätze hat Vor-
rang vor der Vermittlung in Arbeit,

c) der in Ausbildung zu vermittelnde Personenkreis wird auf das 35. Lebens-
jahr ausgeweitet,

d) die Vermittlung in Bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen ist so auszu-
richten, dass die ausgewählten Maßnahmen verlässlich in eine Ausbildung
führen und Teilnehmende eine individuelle Förderung erhalten,

e) die öffentliche Berufsorientierung, -beratung und -vermittlung ist auf die
Überwindung der geschlechtsspezifischen Spaltung in Ausbildung und
Erwerbsarbeit auszurichten und setzt sich darüber hinaus das Ziel, ver-
stärkt Menschen mit Migrationshintergrund sowie mit Behinderung in
Ausbildung und Erwerbsarbeit zu integrieren. Im Rahmen der Aus- und
Weiterbildung von Beraterinnen und Beratern in den Arbeitsagenturen
und Jobcentern wird die Auseinandersetzung mit spezifischen Fragen, die
die oben genannten Gruppen betreffen, gestärkt,

f) um individuelle Wege zu einem vollqualifizierenden Berufsabschluss zu
gewährleisten, wird bei Bedarf der Einsatz von ausbildungsbegleitenden
Hilfen, berufsvorbereitenden Maßnahmen und Berufseinstiegsbegleitun-
gen sichergestellt. Die Aufnahme dieser Maßnahmen muss grundsätzlich
auch denjenigen möglich sein, die die Schule verlassen und das 25. Le-
bensjahr überschritten haben. Vorbereitende und begleitende Maßnahmen
sollen künftig verbindlich in Ausbildung führen. Erworbene Kompeten-
zen werden zertifiziert und auf die Ausbildung angerechnet. Die Vergabe
dieser Maßnahmen muss anhand von Qualitätskriterien, wie etwa einer
Betreuung durch gut ausgebildetes und gut bezahltes Personal, erfolgen,

g) im Rahmen der Berufsberatung und -vermittlung werden in den Arbeitsa-
genturen und Jobcentern neben Informationen über Berufsbilder, Qualifi-
kations- und Tätigkeitsprofile verstärkt auch Informationen über Arbeits-
platzsicherheit, Einkommen, Fortbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten
im jeweiligen Berufsfeld bereitgestellt;

6. zur Steigerung der Qualität und der Wirksamkeit von Berufsorientierungs-,
Berufsberatungs- und Vermittlungsangeboten perspektivisch bundesweit de-
zentral organisierte Zentren für Ausbildungsberatung und -vermittlung zu
gründen, um allen Ausbildungsinteressierten einen Ausbildungsplatz zu ver-
mitteln. In diesen sollten die Kompetenzen der Bundesagentur für Arbeit, des
Jobcenters, der Jugendhilfe und der Sozialpartner örtlich gebündelt werden;

7. jungen Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, unabhängig von
ihrem Alter, die notwendige individuelle Unterstützung bereitzustellen, da-
mit die, die einen anerkannten Berufsabschluss erreichen möchten, hierfür
die Möglichkeit erhalten. Hierzu sind die im Antrag „Perspektiven für
1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbildung
für alle garantieren“ (Bundestagsdrucksache 17/10856) formulierten Maß-
nahmen einzubeziehen;

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8. eine grundlegende Neuausrichtung der Förderpolitik und -praxis am Über-
gang in die Berufsausbildung, die eine individuelle und bedarfsgerechte Un-
terstützung in den Mittelpunkt stellt, zu veranlassen. Hierbei sind in einem
ersten Schritt die auf mehrere Bundesministerien verteilten Programme und
Initiativen bei dem Bundesministerium für Bildung und Forschung anzu-
siedeln. Diesem Bereich ist ein gesonderter Haushaltstitel, der das Gesamt-
volumen der Fördermenge aller Programme und Initiativen auf Bundesebene
umfasst, einzuräumen.

Berlin, den 25. Juni 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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