BT-Drucksache 17/13608

Integrationsperspektiven von geduldeten und bleibeberechtigten Flüchtlingen

Vom 17. Mai 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13608
17. Wahlperiode 17. 05. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidrun Dittrich, Petra Pau, Frank Tempel,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Integrationsperspektiven von geduldeten und bleibeberechtigten Flüchtlingen

Seit dem Jahr 2008 wird im Rahmen des Europäischen Sozialfonds (ESF) ein
Programm zur arbeitsmarktlichen Unterstützung für Bleibeberechtigte und
Flüchtlinge mit Zugang zum Arbeitsmarkt – derzeit in der zweiten Förderrunde –
finanziert. Daran sind aktuell 28 regionale Netzwerkprojekte mit 230 Partner/
Partnerinnen beteiligt. Das ESF-Bundesprogramm Bleiberecht ist mit ver-
gleichsweise bescheidenen finanziellen Mitteln ausgestattet: über eine Laufzeit
von drei Jahren 50 Mio. Euro, die Förderung teilen sich der ESF (27,3 Mio.
Euro), das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (17,8 Mio. Euro) und die
beteiligten Träger (4,9 Mio. Euro). Ziel ist die Integration von Menschen in den
ersten Arbeitsmarkt, die als Geduldete oder Flüchtlinge einen nachrangigen Zu-
gang zum Arbeitsmarkt haben oder die nach der Bleiberechtsregelung gemäß
§ 104a des Aufenthaltsgesetzes („Altfallregelung“) zumindest eine Aufenthalts-
erlaubnis „auf Probe“ erhalten haben, darunter zahlreiche Menschen mit vorher-
gegangener so genannter Kettenduldung, die zur Aufenthaltsverfestigung eine
eigenständige Lebensunterhaltssicherung nachweisen mussten. Obwohl bei
dieser Zielgruppe regelmäßig besondere Potentiale und hohe Motivation fest-
zustellen sind, sind sie mit zahlreichen formalen und rechtlichen Hürden beim
Bemühen um Ausbildung und Arbeit konfrontiert (Sammelunterbringung, Resi-
denzpflicht, Arbeitsverbote bzw. nachrangiger Arbeitsmarktzugang, Kettendul-
dung, Angst vor Abschiebung etc.). Die so bedingten langen Zeiträume erzwun-
gener Untätigkeit führen regelmäßig zu Dequalifizierung. Den Projektnetzwer-
ken als Schnittstellen von Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsberatungsstellen,
potentiellen Arbeitgeber/Arbeitgeberinnen und öffentlicher Verwaltung ist es im
Rahmen des Programms hingegen gelungen, erfolgreiche Maßnahmen zur Inte-
gration dieser Personengruppe in den Arbeitsmarkt zu initiieren. Unter anderem
in einer Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrts-
pflege e. V. vom 13. März 2013 wird darauf verwiesen, dass diese Programm-
tätigkeit auch im Hinblick auf den Fachkräftemangel in Deutschland von gro-
ßem Nutzen ist. Ein Drittel der Programmteilnehmer/Programmteilnehmerinnen
seien unter 25 Jahre alt und befänden sich an der Schnittstelle zwischen Schule
und Beruf, die mit Hilfe der Bleiberechtsnetzwerke die rechtlichen Hürden zu
einer Fachausbildung überwinden konnten. Die Netzwerke unterstützen unter

anderem potentielle Arbeitgeber/Arbeitgeberinnen, die vor der oft monate-
langen Prozedur des Arbeitsmarktprüfungsverfahrens zurückschrecken, obwohl
ehemals Geduldete oder Flüchtlinge die einzigen geeigneten Bewerber/Bewer-
berinnen sind.

Die Arbeitsgemeinschaft kritisiert, dass die Ergebnisse der Arbeit in den bishe-
rigen Programmen gefährdet seien, sollte die Bundesregierung die Programme
nicht mehr fortführen. Sie fordert daher die Fortschreibung des XENOS-ESF-

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Bundesprogramms für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit Arbeitsmarktzu-
gang. Des Weiteren seien Flüchtlinge als Zielgruppe in allen arbeitsmarktlichen
Programmen und die Öffnung der entsprechenden nationalen Förderinstrumente
wünschenswert. In einer weiteren Stellungnahme fordert die Bundesarbeits-
gemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., den Arbeitsmarktzugang von
Asylsuchenden und Geduldeten uneingeschränkt zu gewähren oder jedenfalls
durch Verkürzung der Fristen für die Vorrangprüfung zum Arbeitsmarkt deutlich
zu erleichtern. Auch sollte eine Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht zu
einem automatischen Arbeitsverbot führen. Derzeit wird im Bundesrat ein Ver-
ordnungsentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Ausländerbeschäf-
tigungsrechts beraten, der umfangreiche Neuregelungen vorsieht.

Auf Nachfragen aus dem Deutschen Bundestag bestätigte die Bundesregierung
die Einstellung des Programms zur Förderung der Bleiberechtsnetzwerke. Sie
verweist stattdessen auf weitere aus dem ESF geförderte Programme, die Dritt-
staatsangehörigen zugute kommen könnten. Außerdem könnten die Bundeslän-
der das Programm in ihrem Zuständigkeitsbereich fortführen. Dies träfe auch für
Roma zu, die 83,4 Prozent der insgesamt 17 Prozent Minderheitenangehörigen
unter den bisherigen Programmteilnehmer/Programmteilnehmerinnen stellen
(Schriftliche Fragen 56 und 59 des Abgeordneten Raju Sharma, Bundestags-
drucksache 17/13046, Mündliche Frage 27 der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Plenarprotokoll 17/233, S. 29142). Nach Ansicht der Landesflüchtlingsräte
wären allerdings erhebliche Änderungen an den verbleibenden ESF-Program-
men vorzunehmen, um an die Erfolge der Bleiberechtsnetzwerke anknüpfen zu
können (Gemeinsame Pressemitteilung vom 9. April 2013).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu den Erfolgen des ESF-
Bundesprogramms Bleiberecht im Hinblick auf die Vermittlung von Pro-
grammteilnehmern in Ausbildung und Beschäftigung und insbesondere eine
damit einhergehende Aufenthaltsverfestigung?

2. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, in eigener Zuständigkeit
das Bleiberechtsprogramm auch ohne Mittel aus dem ESF fortzuführen?

3. Inwieweit ist es vor dem Hintergrund, dass die Bundesregierung auf parla-
mentarische Anfrage auf die Bundesländer verwiesen hat, die eigene Pro-
gramme nach dem Vorbild des ESF-Bundesprogramms Bleiberecht ent-
wickeln könnten, realistisch, dass die 16 Bundesländer in eigener Verant-
wortung entsprechende Folgeprogramme auflegen werden, und widersprä-
che ein föderaler Flickenteppich landesweit unterschiedlichster Programme
– soweit es solche überhaupt (bundesweit) geben sollte – nicht dem Anlie-
gen des Bundes an einer wirksamen Arbeitsmarktintegration von (voraus-
sichtlich) bleibeberechtigten Flüchtlingen?

4. In welchen Bundesländern ist die Auflage eines Programms zur arbeits-
marktlichen Integration von Flüchtlingen und Bleibeberechtigten nach
Kenntnis der Bundesregierung bereits in Planung?

5. Welche Überlegungen bestehen in der Bundesregierung zu den Anregungen
der Landesflüchtlingsräte zur Öffnung und Umgestaltung der verbliebenen
ESF-Bundesprogramme, im Einzelnen

a) im Programm „Integration durch Qualifizierung“ (IQ) nicht nur die Be-
ratung, sondern auch die weiteren Elemente (Qualifizierung, Sprachkurse
etc.) für Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) zu öffnen und direkte Arbeit mit der Zielgruppe in das Pro-
gramm aufzunehmen (abweichend von der bisherigen Strukturorientie-

rung),

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b) im neu in den ESF aufgenommenen Schwerpunkt Übergang Schule/Be-
ruf, insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen
und die Programmteilnahme auch über das Erreichen der Volljährigkeit
hinaus zu ermöglichen, was insbesondere solchen Flüchtlingen zugute
kommt, die vor einer nachholenden Schulbildung ausreichende Deutsch-
kenntnisse erwerben müssen,

c) im Programm „Integration statt Ausgrenzung“ sicherzustellen, dass auch
Bezieher von Leistungen nach dem AsylbLG an dem Programm teilneh-
men können und ihre von der Hauptzielgruppe (benachteiligte arbeitsferne
Erwachsene bis 35 Jahre) abweichenden Vermittlungshemmnisse ausrei-
chend Berücksichtigung finden, z. B. durch den Einbezug von Trägern in
die zu fördernden Projektverbünde, die über Erfahrungen mit der Vermitt-
lung junger Flüchtlinge in Schule und Ausbildung haben,

d) im Programm „Anpassung an den demographischen Wandel“ die Ziel-
gruppe Flüchtlinge (Stichwort „inländische Potentiale“) ausdrücklich ein-
zubringen – sowohl im Hinblick auf die Beteiligung an Weiterbildung als
auch bei Beratungsangeboten für Unternehmen zur Personalgewinnung,

e) das Programm „Berufsbezogene Sprachförderung“ tatsächlich auch für
Flüchtlinge im AsylblG-Bezug zu öffnen und geeignete Fachberatungs-
stellen in die Begleitung von Programmteilnehmern aus dieser Gruppe
einzubeziehen, da die Vermittlung in die vom Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge angebotenen Sprachkurse und die bedarfsgerechte Be-
gleitung bislang ausschließlich über die Bleiberechtsprojekte erfolgte,

f) im Programm „Betriebliche Perspektiven für Langzeitarbeitslose“
Flüchtlinge ausdrücklich mit aufzuführen, da sie wegen des Arbeitsver-
bots im ersten Jahr des Aufenthalts per se als Langzeitarbeitslose Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt finden müssen, aber in der Regel keinen
Anspruch auf Arbeitslosengeld-II-Leistungen oder Unterstützung durch
die Jobcenter haben?

6. Welche Einschätzung hat die Bundesregierung zur Anregung der Landes-
flüchtlingsräte, den Einbezug von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Gedul-
deten in die ESF-Programme in Bund und Ländern als Querschnittsaufgabe
zu betreiben und für die entsprechenden spezifischen Bedarfe der Ziel-
gruppe Fachstellen einzurichten?

7. Welche Position vertritt die Bundesregierung zur Forderung, aus integra-
tionspolitischen Gründen den Zugang zum Arbeitsmarkt und zu einem Blei-
berecht für langjährig Geduldete nicht weiter, aufgrund vorgeworfener Ver-
letzungen der Mitwirkungspflichten, zu verweigern, weil dies letztlich nur
zur Fortsetzung der integrationspolitisch nicht wünschenswerten Kettendul-
dungen führe (beispielhaft in der Stellungnahme zum Gesetzentwurf des
Bundesrates, Bundesratsdrucksache 505/12 – der Bundesarbeitsgemein-
schaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. vom 6. Mai 2013)?

8. Hat die Bundesregierung den von den Ländern Schleswig-Holstein und
Niedersachsen zur 920. Sitzung des Bundesratsausschusses für Innere Ange-
legenheiten eingebrachten Änderungsantrag zur Verordnung zur Änderung
des Ausländerbeschäftigungsrechts zur Kenntnis genommen, das Beschäf-
tigungsverbot für Geduldete nach § 11 der Beschäftigungsverfahrensverord-
nung (resp. § 33 der Beschäftigungsverordnung-E) zu streichen, und was ent-
gegnet die Bundesregierung ggf. den dort im Einzelnen vorgebrachten Argu-
menten?

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9. Wie positioniert sich die Bundesregierung zur Empfehlung des Bundesrats
(Bundesratsdrucksache 182/13), Asylsuchenden analog zu geduldeten
Flüchtlingen nach vier Jahren Aufenthalt in Deutschland gleichrangigen
Zugang zum Arbeitsmarkt zu eröffnen und für die Aufnahme einer dualen
Berufsausbildung bereits nach zwölf Monaten?

10. Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung, um die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Agenturen für Arbeit für die Situation der Personen im
Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu sensiblisieren
und auf die Möglichkeiten hinzuweisen, die auch das geltende Recht für
eine Arbeitsmarktintegration bietet (vgl. auch S. 45 der Zwischenbilanz der
Bleiberechtsnetzwerke)?

11. Wäre es nach Einschätzung der Bundesregierung nicht sogar im Sinne ihres
eigenen Konzepts des „Förderns und Forderns“, langjährig geduldeten oder
gestatteten Menschen den Zugang zu Maßnahmen zur Arbeitsmarktinte-
gration zu ermöglichen, damit sie Integrationsanforderungen im Rahmen
von Bleiberechtsregelungen auch tatsächlich erfüllen können, resp. nach
einer Asylanerkennung schneller unabhängig von Sozialleistungen werden
können?

12. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur geringen Erwerbsinte-
gration von geduldeten Flüchtlingen in Deutschland?

Wie begründet die Bundesregierung angesichts der Vermittlungserfolge der
Bleiberechtsnetzwerke die Einstellung des Bleiberechtsprogramms, ins-
besondere da die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt auch zu Einspa-
rungen bei den Sozialleistungen führte?

Berlin, den 17. Mai 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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