BT-Drucksache 17/13473

Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche ermöglichen - Konsequenzen aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht ziehen

Vom 14. Mai 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13473
17. Wahlperiode 14. 05. 2013

Antrag
der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Stefan Schwartze, Willi
Brase, Ulla Burchardt, Petra Crone, Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke,
Kerstin Griese, Petra Hinz (Essen), Christel Humme, Oliver Kaczmarek, Ute Kumpf,
Caren Marks, Franz Müntefering, Aydan Özog˘uz, Thomas Oppermann, Sönke Rix,
René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Marianne Schieder (Schwandorf), Swen
Schulz (Spandau), Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion
der SPD

Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche ermöglichen – Konsequenzen aus
dem 14. Kinder- und Jugendbericht ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Den 14. Kinder- und Jugendbericht zur Grundlage einer gerechten Kinder-
und Jugendpolitik machen

Der Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (Bundestagsdrucksache 17/12200)
zeichnet ein umfassendes Bild über die Lebenssituation von Kindern, Jugend-
lichen und jungen Erwachsenen und knüpft nahtlos an vorhergehende Kinder-
und Jugendberichte an. Er spannt insbesondere einen Bogen zu dem 11. Kin-
der- und Jugendbericht von 2002, der ebenfalls als umfassender Gesamtbericht
konzipiert war. Jener Bericht stellte erstmals das Aufwachsen von Kindern und
Jugendlichen in öffentlicher Verantwortung in den Mittelpunkt.

In dem 14. Kinder- und Jugendbericht werden darüber hinaus die Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe und deren Beitrag zu einem gelingenden Aufwach-
sen und zur gesellschaftlichen Integration junger Menschen dargestellt sowie
Vorschläge für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe unterbreitet.
Er belegt, dass Familien einem enormen Wandel unterworfen sind und demzu-
folge eine Verschiebung hin zu einer stärker wahrgenommenen öffentlichen
Verantwortung für Familien und insbesondere für junge Menschen stattgefun-
den hat. Dabei stehen laut Bericht folgende Ziele im Vordergrund (S. 375 des
Berichts): die Herstellung gleicher Lebenschancen und Abbau herkunfts-
bedingter Ungleichheit durch die Förderung junger Menschen „von Anfang
an“, die Befähigung junger Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe durch
Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschafts-

fähigen Persönlichkeiten sowie die Gewährleistung beziehungsweise Schaf-
fung struktureller Rahmenbedingungen, die es Eltern erlauben, ihre Kinder
optimal zu fördern und den Kindern und Jugendlichen Chancen auf Teilhabe an
der Gesellschaft und an entsprechenden Angeboten ihrer Förderung eröffnen
können.

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Hierbei ist zu betonen, dass staatliche und zivilgesellschafte Verantwortung für
das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen nicht Familie ersetzen soll und
kann, sondern ergänzt. Das Verhältnis zwischen Institutionen und Familien
lässt sich demzufolge vielfach als „Bildungs- und Erziehungspartnerschaften“
(S. 366 des Berichts) bezeichnen, wobei Bildung deutlich mehr als nur Schule
umfasst.

Drei zentrale Entwicklungen belegen den Trend, dass Familie verstärkt durch
öffentliche beziehungsweise öffentlich geförderte Strukturen unterstützt wird:
der Ausbau der Kindertageseinrichtungen in Westdeutschland und die Auswei-
tung des Angebots für Kinder unter drei Jahre, der Ausbau der Ganztagsschulen
sowie die Etablierung früher Hilfen für Familien mit Neugeborenen und klei-
nen Kindern (S. 38 des Berichts).

Doch macht der Bericht deutlich, dass bei dem Ausbau und der Weiterentwick-
lung der sozialen Infrastruktur für Eltern, Kinder und Jugendliche weitere An-
strengungen erforderlich sind, um bestehende soziale Ungleichheiten abzu-
bauen. Nach wie vor bestimmt in Deutschland die soziale Herkunft in hohem
Maße die Lebenschancen eines jungen Menschen.

Die Sachverständigenkommission stellt fest, dass sich in den vergangenen Jah-
ren die herkunftsbedingte Ungleichheit eher verfestigt und in einigen regiona-
len Bereichen sogar zugenommen hat. Zwar hat die große Mehrheit der Kinder
und Jugendlichen in Deutschland eine gute Kindheit und Jugend; bei einer
nicht unerheblichen Anzahl junger Menschen sind allerdings soziale Benach-
teiligungen und individuelle Beeinträchtigungen sowie ungünstige Bildungs-
und Entwicklungschancen sichtbar. Während nach Ansicht der Sachverständi-
genkommission auf der Gewinnerseite vornehmlich solche jungen Menschen
stehen, die schon von Beginn an günstige Förder- und Anregungsbedingungen
vorgefunden haben und im weiteren Verlauf ihrer Bildungsbiografie von Eltern
und anspruchsvollen Bildungsinstitutionen gefördert wurden, ist es bei den jun-
gen Menschen aus benachteiligten Herkunftsfamilien umgekehrt (S. 365 des
Berichts).

Die Kommission regt an, die Gruppe der jungen Erwachsenen stärker in den
Fokus zu nehmen. Der Bericht zeigt zwar, dass junge Volljährige über viele Op-
tionen und angesichts der im Europavergleich niedrigen Jugendarbeitslosigkeit
in Deutschland insgesamt über gute Chancen verfügen. Es bleibe jedoch ein
kleinerer Teil von sogenannten „Abgehängten und Bildungsverlierern“ (S. 415
des Berichts). Die Sachverständigen weisen darauf hin, dass sozialisations-, bil-
dungs- und integrationspolitische Versäumnisse, später – zumal demografisch
bedingt ohnehin zukünftig deutlich weniger erwachsene Erwerbspersonen zur
Verfügung stünden – kaum nachgeholt werden könnten. Zum Wohlergehen
junger Menschen und zukünftiger Generationen plädieren sie daher auf eine
zweite (oder auch dritte) Chance für diese jungen Menschen (ebenda).

Zu Recht weisen die Sachverständigen darauf hin, dass die Beseitigung von
Ungleichheit und die Herstellung sozialer Gerechtigkeit eine wichtige gesamt-
gesellschaftliche Herausforderung darstellt. Der Bericht enthält zahlreiche Hin-
weise und Lösungsansätze, wie das Ziel der sozialen Gerechtigkeit in verschie-
denen Handlungsfeldern – insbesondere im Bildungssystem, aber auch in ande-
ren Bereichen – weiterverfolgt werden sollte.

Daher ist es sinnvoll, dass Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Wis-
senschaft, freie Träger, Kinder- und Jugendorganisationen, Gewerkschaften so-
wie andere zivilgesellschaftliche Akteure die Anregungen und Vorschläge der
Kommission in weitere Fachdebatten sowie Maßnahmen und Initiativen einbe-
ziehen. Den Bericht sollten entsprechende Akteure zur Grundlage einer gerech-
ten Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland machen.

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2. Rechte von Kindern und Jugendlichen stärken

Die Sachverständigenkommission hat sich intensiv mit der Einfügung von Kin-
derrechten in das Grundgesetz befasst und weist darauf hin, dass Kinderrechte
bereits in die Mehrzahl der Landesverfassungen Eingang gefunden haben. Sie
betont, dass die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz geboten sei
und misst einem solchen Schritt nicht nur eine gesellschaftspolitische, sondern
auch eine rechtliche Bedeutung bei (S. 378 des Berichts). Dieser Schritt würde
nicht nur zu einer materiell-rechtlichen Verbesserung beitragen, sondern könnte
auch das allgemeine Rechtsbewusstsein für die Rechte von Kindern und
Jugendlichen beeinflussen. Die Berücksichtigung der Belange von Kindern in
der Praxis von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung würde nachhal-
tig gestärkt.

Zudem würde die menschenrechtliche Entwicklung der letzten Jahre in
Deutschland nachvollzogen. Auch wenn nach der Ratifizierung des Überein-
kommens über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention – UN-KRK)
in Deutschland die Rechte von Kindern einfach-gesetzlich gestärkt worden
seien, bemängeln die Sachverständigen die nach wie vor erheblichen Um-
setzungsdefizite der in dieser Konvention kodifizierten Rechte sowohl im deut-
schen Rechtssystem als auch im Bewusstsein von Politik, gesellschaftlichen
Institutionen, Rechtspraxis und Verwaltung (S. 378 bis 379 des Berichts).

Der Bericht befasst sich auch mit der Implementierung von Beratungs- und
Schlichtungsstellen (Ombudschaften). Solche unabhängigen Ombudschaften
haben die Sicherung von Betroffenenrechten und des qualifizierten Umgangs
mit Konflikten zwischen jungen Menschen, Familien und Jugendämtern zum
Ziel. Nach Auffassung der Kommission sollte der Zugang zu solchen Stellen
für junge Menschen und ihre Familien in der Kinder- und Jugendhilfe in ver-
stärktem Umfang geöffnet werden. Als ersten Schritt empfiehlt sie eine modell-
hafte Einführung solcher Stellen in ausgewählten Jugendämtern in Verbindung
mit einer Anschubfinanzierung durch den Bund und die beteiligten Länder
(S. 380 des Berichts).

Insgesamt sollten Bund und Länder die Ausführungen und Empfehlungen der
Sachverständigenkommission zum Thema Kinderrechte in die Ausgestaltung
weiterer Maßnahmen einbeziehen. Insbesondere ist die Verankerung von
Kinderrechten im Grundgesetz längst überfällig.

Darüber hinaus sollte es Ziel sein, Kinderrechte in Deutschland bekannter zu
machen und die Gesetzgebung umfassend und kontinuierlich zu überprüfen,
inwieweit sie mit den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention und insbeson-
dere mit dem darin formulierten Kindeswohlvorrang („the best interest of the
child“) in Einklang stehen. Die Einrichtung der Institution einer Ombudsperson
für Kinderrechte beziehungsweise einer oder eines unabhängigen Kinderbeauf-
tragten erscheint zu diesem Zweck sinnvoll. Die Institution einer Ombuds-
person existiert in zahlreichen anderen europäischen Ländern, die entsprechend
im European Network of Ombudspersons for Children (ENOC) organisiert
sind. Deutschland ist bislang dort nicht vertreten.

3. Chancengleichheit im Bildungssystem verwirklichen – Für einen „Master-
plan Gute Ganztagsschule“

Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (OECD) wie die PISA-Studien oder die OECD-Bildungsberichte,
aber auch andere Expertisen, haben wiederholt gezeigt, dass das deutsche Bil-
dungssystem im internationalen Vergleich eine besonders große Abhängigkeit
von Bildungserfolg und sozialer Herkunft aufweist. Auch der 14. Kinder- und
Jugendbericht weist an vielen Stellen auf diesen Missstand hin und macht deut-

lich, dass dies nicht das Bildungsziel sein kann und darf.

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Kinder und Jugendliche brauchen gleiche Chancen auf bestmögliche Bildung.
Eine gerechte Bildungsteilhabe ist eine wesentliche Voraussetzung für gesell-
schaftliche Teilhabe, positive Lebensperspektiven und für eine selbstbestimmte
Lebensführung. Bildung ist ein Menschenrecht und steht jeder Einzelnen und
jedem Einzelnen in gleicher Weise zu. Als öffentliches Gut bleibt es Aufgabe
des Staates, ein gerechtes und leistungsfähiges Bildungswesen zu gewährleis-
ten.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestätigen, dass Ganztagsschulen
Kindern und Jugendlichen bessere Chancen eröffnen. Das gilt nicht nur für be-
nachteiligte Kinder und Jugendliche, sondern für alle Kinder. Aber auch Eltern
können profitieren, da sie ihnen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf ermöglichen. Durch das in der Zeit der Regierungsverantwortung der
SPD umgesetzte Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“
wurden den Ländern in den Jahren 2003 bis 2009 insgesamt 4 Mrd. Euro Bun-
desmittel zum Ausbau des Ganztagsangebots zur Verfügung gestellt. Es bleibt
bis heute das größte einzelne strukturelle Schulreformprojekt Deutschlands.

Die Kommission stellt fest, dass innerhalb von nahezu zehn Jahren der Um- und
Ausbau der klassischen Halbtagsschule zur Ganztagsschule zum herausragenden
Element der Schulentwicklung geworden ist. Die Zahl der schulischen Ver-
waltungseinheiten mit Ganztagsbetrieb ist beispielsweise um rund 2 650 Verwal-
tungseinheiten seit 2008 auf inzwischen 14 474 im Jahre 2010 gestiegen. Sofern
die bisherige Ausbaugeschwindigkeit beibehalten würde, würde es nach Ein-
schätzung der Kommission bis zum Jahr 2015 rund 20 000 schulische Verwal-
tungseinheiten als Ganztagsschulen geben (S. 405 des Berichts).

Ein solcher Fortschritt ergibt sich aber nicht von allein. Es muss Ziel sein, den
Ausbau mit einem neuen Ausbauprogramm „Masterplan Gute Ganztagsschule“
weiter voranzutreiben. Dabei ist schrittweise ein flächendeckendes und be-
darfsgerechtes ganztägiges Angebot in Deutschland sicherzustellen. Hierbei
sollte auch die Schulsozialarbeit ausgebaut werden, um Übergänge im Bildungs-
system zu verbessern. Der Masterplan sollte zudem ein Qualitätsprogramm
sein.

Die hohen Potenziale und die nachhaltige Attraktivität ganztägiger Schulfor-
men hängen entscheidend von der Qualität der Lehr- und Betreuungsangebote
ab, wie auch der 14. Kinder- und Jugendbericht feststellt (S. 406 des Berichts).
Der qualitative Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland sollte unter dem
Leitbild der „aktiven Ganztagsschule“ verfolgt werden und damit eigenverant-
wortliche Schulen als handelnde und gestaltende Akteure stärken. Gute Ganz-
tagsschulen können nur in lokalen Bildungsnetzwerken ihre Potenziale voll
ausschöpfen. Der Masterplan soll daher die institutionelle Zusammenarbeit der
kommunalen Verwaltung und Bildungsanbieter, der Bundesagentur für Arbeit,
der freien Jugend- und Vereinsarbeit sowie der Kultur- und Sozialarbeit direkt
fördern. Dabei muss es auch darum gehen, ein inklusives Bildungssystem zu
schaffen, in dem jedes Kind individuell mit seinen Stärken und Schwächen ge-
fördert wird.

Den Ländern, aber auch den Kommunen kommt eine Schlüsselrolle beim
Ganztagsschulausbau zu. Unbeschadet der verfassungsrechtlichen Grenzen
einer direkten Zusammenarbeit mit dem Bund kann der Masterplan nur mit
Beteiligung und Unterstützung der Kommunen erfolgreich sein. Sie müssen als
Partner auf Augenhöhe mit Stimme und Gewicht einbezogen und über die
Länder verlässlich in die arbeitsteilige Aufgabenerfüllung des Masterplans ein-
gebunden werden.

Darüber hinaus sollte der Empfehlung des 14. Kinder- und Jugendberichts,
Eltern und Kinder stärker in das Ganztagsschulgeschehen einzubinden sowie

Kinder und Jugendliche altersgerecht stärker zu beteiligen, gefolgt werden. Die

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Kommission betont auch, dass Schülerinnen und Schüler am Nachmittag Gele-
genheiten zur Selbstentfaltung, Selbsterprobung und zur Verantwortungsüber-
nahme haben sollten (vgl. S. 406 des Berichts). Solche Freiräume sind Kindern
und Jugendlichen im Schulalltag, aber auch in anderen Lebenswelten, verstärkt
einzuräumen.

4. Gute Infrastruktur für junge Menschen gewährleisten

Der 14. Kinder- und Jugendbericht hebt hervor, dass sich der Stellenwert der
Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahren spürbar verändert hat. Dies
gilt vor allem für den gesamten Bereich der Kindertagesbetreuung; aber auch
Fragen des Kinderschutzes und der frühen Hilfen haben immer breiteren Raum
eingenommen (S. 254 des Berichts). Die Rolle der Kinder- und Jugendhilfe im
Umfeld von Schule und im Rahmen der Schulsozialarbeit ist möglicherweise
auch deswegen bedeutender geworden, weil die herkömmlichen Instanzen des
Aufwachsens, Familie und Schule, vermehrt an Grenzen gelangen.

Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ist weit mehr als eine in der Kinder-,
Jugend- und frühen Erwachsenenphase Defizite ausgleichende Infrastruktur.
Sie leistet einen umfassenden Beitrag zur Förderung, zum Schutz und zur Be-
teiligung von Kindern und Jugendlichen und stärkt die Rechte von jungen Men-
schen. Das wird beispielsweise bei der Betrachtung der Bereiche Kindertages-
betreuung, Erziehungsberatung, Schulsozialarbeit oder Jugendarbeit deutlich,
die in den vergangenen Jahren fast zu einer „biografischen Selbstverständlich-
keit“ (S. 56 und S. 251 des Berichts) für Kinder und Jugendliche geworden
sind. Die Kommission stellt auch fest, dass das Kinder- und Jugendhilferecht
ein modernes, präventiv ausgerichtetes Leistungsgesetz ist und sich nachhaltig
bewährt hat (S. 261 des Berichts). Jugendämtern und Landesjugendämtern
schreiben sie als örtliche und überörtliche Fachbehörden eine wichtige Rolle
zu. Jugendämter müssten zu „lokalen strategischen Zentren für Fragen des Auf-
wachsens“ (S. 390 des Berichts) und die Landesjugendämter zu „fachlichen
Kompetenzzentren für die Kinder- und Jugendhilfe zwecks wirksamer Wahr-
nehmung von öffentlicher Verantwortung auf Landesebene“ fortentwickelt
werden (S. 391 des Berichts).

Für alle Kinder zugängliche gute Angebote der frühkindlichen Bildung können
die Bildungschancen von Kindern deutlich verbessern. Je früher Kinder geför-
dert werden, desto besser gelingt ihnen der Start in eine erfolgreiche Schullauf-
bahn und ein selbstbestimmtes Leben. Durch frühkindliche Angebote mit ho-
hen Qualitätsstandards können Benachteiligungen frühzeitig ausgeglichen
sowie der Spracherwerb und die Erweiterung der sprachlichen Kompetenzen
gefördert werden. Wichtige Schritte in den vergangenen Jahren waren die
Bereitstellung zusätzlicher Bundesmittel in Milliardenhöhe für den Ausbau der
frühkindlichen Bildung und die Einführung des Rechtsanspruchs auf Förderung
in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege für Kinder mit Voll-
endung des ersten Lebensjahrs ab 1. August 2013. Initiativen zum weiteren
Ausbau der Angebote und der Qualität müssen hier anknüpfen. Auf die Einfüh-
rung eines bildungs- und integrationspolitisch fehlgeleiteten Betreuungsgeldes,
das statt der Inanspruchnahme von öffentlich geförderten Angeboten der früh-
kindlichen Bildung und Betreuung gezahlt werden soll, ist allerdings zu ver-
zichten.

Zur Förderung junger Menschen ist die Vernetzung der Kinder- und Jugendhilfe
mit anderen Bereichen, beispielsweise mit dem Bildungs- und dem Gesundheits-
wesen sowie der Behindertenhilfe, in § 81 des Achten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VIII) geregelt. Diese Vernetzung nimmt an Bedeutung zu. Der 14. Kinder-
und Jugendbericht stellt beispielsweise fest, dass die Hilfen zur Erziehung zu-

nehmend in enger Abstimmung mit anderen Bereichen – beispielsweise mit den

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Frühen Hilfen, den Kindertageseinrichtungen oder mit Schulen – erbracht wer-
den (S. 415 des Berichts).

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Bedeutungszunahme und der gestie-
genen Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe warnt die Sachverständi-
genkommission vor rein fiskalisch motivierten Debatten über die Weiterent-
wicklung der Hilfen zur Erziehung. Sie fordert eine Verständigung überört-
licher Träger zusammen mit Dach- und Fachverbänden der Kinder- und
Jugendhilfe darüber, wie die Wirksamkeit der erzieherischen Hilfen erhöht so-
wie die Hilfeplanung und die Hilfeprozesse so effektiv und effizient wie mög-
lich gestaltet werden können (S. 414 des Berichts). Dabei kritisiert sie die in der
Praxis zum Teil erheblichen regionalen Abweichungen in der Nutzung der
Hilfeinfrastruktur.

Es lässt sich daraus schlussfolgern, dass eine wirkungsvolle Kinder- und
Jugendhilfe eine adäquate finanzielle und personelle Ausstattung, eine kontinu-
ierliche Qualitätssicherung und -entwicklung sowie ein Zusammenwirken mit
anderen Handlungsfeldern – beispielsweise im Rahmen der Jugendsozialarbeit,
der Schulsozialarbeit, der Ganztagesschule, der Frühen Hilfen und der Förde-
rung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen – voraussetzt.

5. Inklusion und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen verwirklichen

Die durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009
angestoßene breite gesellschaftliche und fachliche Debatte und das daraufhin
eingeführte Leitbild der Inklusion – das heißt, dem selbstverständlichen
gemeinsamen Aufwachsen junger Menschen mit und ohne Behinderungen in
allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Rechnung zu tragen – begrüßt
die Sachverständigenkommission ausdrücklich (S. 316 des Berichts).

Inklusion bedeutet, jedes Kind so aufzunehmen, wie es ist und ihm die Unter-
stützung zukommen zu lassen, die es benötigt. Heterogenität als Ausdruck von
Individualität und Normalität ist nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich
gewünscht. Es ist wichtig, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit
Behinderungen zu berücksichtigen, wie sie jedes Kind entwickelt. Zahlreiche
Expertinnen und Experten sehen die UN-Behindertenrechtskonvention als eine
große Chance an, die für alle Akteure Impulsgeber für eine gemeinsame Umge-
staltung des deutschen Bildungs- und Sozialsystems sein sollte. Von einer in-
klusiven Gesellschaft können alle Menschen profitieren.

Kinder mit und ohne Behinderung sind jedoch unterschiedlichen Leistungs-
systemen zugeordnet, was in der Praxis oft zu Schwierigkeiten für die Betroffe-
nen führt und die Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft behindert. Posi-
tiv ist, dass seit Jahren ein Diskurs geführt wird, wie diese Zersplitterung im
Leistungssystem durchbrochen werden kann. Diesen Diskurs haben unter ande-
rem der 13. Kinder- und Jugendbericht sowie die von der Arbeits- und Sozial-
ministerkonferenz (ASMK) und Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK)
eingesetzte Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“
angestoßen und befördert.

Die Sachverständigenkommission würdigt die Tendenzen, die Leistungen für
Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen im SGB VIII („Große
Lösung“) zusammenzulegen und zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie den
jeweiligen Feldern der Behindertenhilfe und Rehabilitation weitere Annäherun-
gen zu erzielen (S. 254 des Berichts). Mit der Zusammenführung aller Kinder
und Jugendlichen ohne Unterscheidung nach Behinderung und Erziehungs-
schwierigkeiten im Leistungssystem Kinder- und Jugendhilfe könnten beste-
hende Schnittstellenprobleme beseitigt und die Förderung dieser Kinder ver-
bessert werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/13473

Die Sachverständigenkommission weist aber darauf hin, dass die Umsetzung der
sogenannten „Großen Lösung“ nur ein Baustein sein kann. Sie sieht eine neue
Architektur der Kinder- und Jugendhilfe sowie eine inklusive Ausgestaltung des
gesamten Leistungssystems als notwendig an. Insbesondere die Regelangebote
der Kinder- und Jugendhilfe müssten ihre inklusive Kraft deutlich erhöhen
(S. 370 des Berichts).

Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist nur zu erreichen, wenn die Inklusi-
onsfähigkeit der „Mehrheitsgesellschaft“ gestärkt wird. Beispielsweise müssen
die integrative Förderung behinderter Kinder in Kindertageseinrichtungen und
Schulen ausgeweitet sowie die Zugänge von Eltern mit körperlich oder geistig
behinderten Kindern zu Angeboten der Erziehungs- und Familienberatung ver-
bessert werden. Die Festlegung entsprechender Ziele und eine Finanzierung
entsprechender personeller, sachlicher und logistischer Mehrbedarfe sollten im
Rahmen eines nationalen Bildungspakts zwischen Bund und Ländern verbind-
lich verabredet werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Allgemein

– den Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland (Bundestagsdrucksache 17/12200)
zukünftigen gesetzlichen und untergesetzlichen Maßnahmen für Kinder,
Jugendliche und junge Erwachsene zugrunde zu legen;

– bei der Entwicklung von jugendpolitischen Initiativen insbesondere den An-
trag „Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen
eröffnen, Rückhalt geben“ (Bundestagsdrucksache 17/12063) zu berück-
sichtigen;

2. zur Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen

– die Gesetzgebung umfassend und kontinuierlich zu überprüfen, inwieweit
sie mit den Vorgaben der Konvention über die Rechte des Kindes und insbe-
sondere mit dem dort verankerten Kindeswohlvorrang in Einklang stehen;

– einen Gesetzentwurf vorzulegen, der zum Ziel hat, Kinderrechte in das
Grundgesetz aufzunehmen und dabei den Gesetzentwurf zur Verankerung
von Kinderrechten im Grundgesetz (Bundestagsdrucksache 17/13223) zu
unterstützen;

– zu prüfen, inwieweit die Funktion einer Ombudsperson mit eigenen Rechten
und einem eigenen Etat ausgestattet, geschaffen werden kann, um die Um-
setzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland zu überwachen und
voranzutreiben;

– zu prüfen, wie Ombudsstellen strukturell in der Kinder- und Jugendhilfe
verankert und dabei die in der Praxis gewonnenen Erkenntnisse einbezogen
werden können, um die Rechte von Betroffenen und insbesondere von Kin-
dern und Jugendlichen zu stärken;

– den Nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–
2010“ neu aufzulegen und dabei Kinder und Jugendliche sowie zivilgesell-
schaftliche Akteure einzubeziehen;

– Konsequenzen aus der Rücknahme der Vorbehaltserklärung zu ziehen und
den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation Minderjähriger
im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht (Bundestagsdrucksache 17/9187)
zu unterstützen;
– sich auf EU-Ebene für die Etablierung eines Monitoringsystems zur Über-
wachung der Kinderrechte sowie einen turnusmäßigen EU-Staatenbericht,

Drucksache 17/13473 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

der an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zu übermitteln ist, ein-
zusetzen;

3. zur Verwirklichung von Chancengleichheit im Bildungssystem

– insbesondere die bildungspolitischen Forderungen des Antrags „Mit einer
eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröffnen, Rück-
halt geben“ (Bundestagsdrucksache 17/12063) in weitere Maßnahmen ein-
zubeziehen und dabei zu berücksichtigen, dass Bildung mehr als Schule ist
und auch non-formale und informelle Bildung umfasst;

– zeitnah einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Kooperationsverbotes
zwischen Bund und Ländern in der Bildungszusammenarbeit auf der Grund-
lage eines neuen Artikels 104c des Grundgesetzes vorzulegen, um sich an
der Finanzierung des flächendeckenden Ausbaus von Ganztagsschulen zu
beteiligen. Um die Gleichbehandlung der Länder zu gewährleisten, ist dabei
vorzusehen, dass diese Vereinbarungen von den Ländern nur einstimmig be-
schlossen werden können;

– mit Ländern und Kommunen in Verhandlungen zu einem zweiten „Master-
plan Gute Ganztagsschule“ einzutreten;

– sich dafür einzusetzen, dass Schulsozialarbeit an jeder Schule eingeführt
und eine entsprechende Finanzierung sichergestellt wird;

– sich dafür einzusetzen, dass kulturelle Bildung für alle Kinder und Jugend-
liche selbstverständlicher und inklusiver Bestandteil schulischer und außer-
schulischer Angebote wird;

– sich dafür einzusetzen, dass Demokratieerziehung und politische Bildung
sowohl innerhalb wie außerhalb der Schule gestärkt und ausgeweitet sowie
neue Angebote für politische Bildung und Beteiligung im Netz für Kinder
und Jugendliche erprobt werden;

– gegebenenfalls gemeinsam mit den Ländern Initiativen zu ergreifen, die die
Beteiligung von Eltern sowie Schülerinnen und Schülern an Schulen verbes-
sern;

4. zur Gewährleistung einer guten Infrastruktur für junge Menschen

– gemeinsam mit den Ländern darauf hinzuwirken, dass Kinder- und Jugend-
hilfe den Bedarfen und Bedürfnissen von Kindern, Jugendlichen und jungen
Erwachsenen sowie insbesondere dem in § 1 des Achten Buches Sozial-
gesetzbuch (SGB VIII) formulierten Anspruch auch in Zukunft entspricht.
Dabei ist das Zusammenwirken von Leistungen nach dem SGB VIII mit
anderen Gesetzbüchern sowie schulischen Angeboten, wie es auch § 81
SGB VIII erfordert, verstärkt anzuregen und zu fördern;

– sich für einen Investitions- und Entschuldungspakt für Kommunen einzu-
setzen, um zur Stabilisierung der Kommunalfinanzen und zur Investitions-
fähigkeit von Städten, Gemeinden und Kreisen beizutragen und die soziale
Daseinsvorsorge zu sichern;

– Fachkräfteoffensiven mit den Ländern und den relevanten Akteuren zu ent-
wickeln und umzusetzen, um in den Bildungs- und Sozialberufen den Fach-
kräftebedarf mittel- und langfristig zu sichern;

5. zur Verwirklichung von Inklusion von Kindern und Jugendlichen

– gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen zu ergreifen, um die Umsetzung der
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit einer Behinderung in

Deutschland weiter voranzutreiben und dabei den Antrag „Das Menschen-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/13473

recht auf Inklusive Bildung in Deutschland endlich verwirklichen“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/10117) einzubeziehen;

– sich dafür einzusetzen, dass insbesondere im Bildungs- und Sozialsystem
Inklusion verwirklicht wird und entsprechende Schnittstellenproblematiken
abgebaut werden;

– gemeinsam mit den Ländern verstärkt Maßnahmen für eine gelingende
Inklusion von jungen Menschen unabhängig von Behinderung, sozialer
Lage und ethnischer Herkunft umzusetzen und dabei die Zusammenführung
aller Kinder und Jugendlichen ohne Unterscheidung nach Behinderung und
Erziehungsschwierigkeiten im Leistungssystem Kinder- und Jugendhilfe
(SGB VIII) anzustreben.

Berlin, den 14. Mai 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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