BT-Drucksache 17/13338

Kenntnisstand der Bundesregierung zur Grenzzwischenfällen im Syrien-Konflikt

Vom 26. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13338
17. Wahlperiode 26. 04. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke,
Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Andrej Hunko, Harald Koch und der Fraktion
DIE LINKE.

Kenntnisstand der Bundesregierung zu Grenzzwischenfällen im Syrien-Konflikt

Seit Ende Januar 2013 sind Bundeswehrsoldaten und Patriot-Luftabwehrsys-
teme in der Türkei stationiert. Der Bundestag stimmte diesem mandatspflich-
tigen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr am 14. Dezember 2012 zu. Als
„[v]ölkerrechtliche Grundlagen“ für den Einsatz werden im entsprechenden An-
trag der Bundesregierung die auf Antrag der Türkei am 26. Juni und 3. Oktober
2012 durchgeführten Konsultationen nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages
genannt, nach denen der Nordatlantikrat „[a]ngesichts einer dargelegten Bedro-
hung der Unversehrtheit des türkischen Staatsgebiets und der eigenen Sicher-
heit“ (Bundestagsdrucksache 17/11783) beschlossen habe, die Fähigkeiten im
Bereich der integrierten Luftverteidigung der NATO zu verstärken. Unmittel-
barer Anlass für die Konsultationen vom 26. Juni 2012 war der Abschuss eines
unbewaffneten türkischen Kampfflugzeugs vom Typ Phantom F4 angeblich
über internationalen Gewässern. Die NATO verurteilte diesen Abschuss als
„inakzeptabel“, er sei „ein weiteres Beispiel für die Missachtung der internatio-
nalen Normen, des Friedens, der Sicherheit und des Menschenlebens durch das
syrische Regime“ (DPA – Meldung vom 26. Juni 2012). NATO-Generalsekretär
Anders Fogh Rasmussen kündigte an, die NATO werde „die Entwicklung genau
und mit großer Sorge“ beobachten, während der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan Syrien drohte, bei weiteren Zwischenfällen mit Gewalt
zurückzuschlagen (DPA- Meldung vom 26. Juni 2012). Auch der Bundesminis-
ter des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, bezeichnete den Abschuss als „in
keiner Weise akzeptabel“, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch widersprüchliche
Angaben darüber kursierten, in welcher Höhe und ob das Flugzeug in syrischem
Luftraum oder über internationalen Gewässern getroffen wurde. Zugleich
mahnte er an, der Zwischenfall müsse „vollständig und dringend“ untersucht
werden. Im November 2012 räumte die Bundesregierung auf eine Mündliche
Frage der Abgeordneten Sevim Dag˘delen jedoch ein, dass ihr „keine eigenen
Erkenntnisse über den genauen Verlauf des Abschusses“ vorlägen, ein offizieller
türkischer Untersuchungsbericht bisher nicht veröffentlicht worden sei, laut
türkischen Pressemitteilungen ein interner Untersuchungsbericht der türkischen
Streitkräfte von Mitte September 2012 jedoch bestätigt habe, „dass das unbe-

waffnete Aufklärungsflugzeug im internationalen Luftraum durch eine Luftab-
wehrrakete abgeschossen worden sei“ (Plenarprotokoll 17/203). Im Januar 2013
hingegen veröffentlichte die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik
(SWP) einen Text, nach dem der „türkische Jet in syrischem Luftraum abge-
schossen“ wurde, als „türkische Flugzeuge die syrische Luftabwehr ,testeten‘“
und dass die „die Türkei schon bald einräumen [musste], dass ihre jeweilige
Darstellung unrichtig war“ (SWP-Aktuell 1/2013).

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Die NATO-Konsultationen am 3. Oktober 2012 erfolgten unmittelbar nach Gra-
nateinschlägen in der Türkei, bei denen nach Presseberichten fünf Menschen
getötet wurden. Auch diese verurteilte der Bundesaußenminister Dr. Guido
Westerwelle umgehend als „erneute Verletzung der territorialen Integrität der
Türkei aus Syrien“ und forderte „die syrische Regierung auf, sich für diese Ge-
walt zu entschuldigen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und die
Familien der Opfer zu entschädigen“ (Außenminister Dr. Guido Westerwelle zu
dem Granateneinschlag in der Türkei aus Syrien, Pressemitteilung vom 3. Okto-
ber 2012), obwohl kurz darauf der Kommandant der US-Streitkräfte für Europa
einräumte, dass der Ursprung des Granatbeschusses ungeklärt sei (US State
Department: Press Briefing vom 31. Oktober 2012). Auf die Frage, wie die
Bundesregierung ihre schnelle und einseitige Verurteilung der syrischen Regie-
rung vor diesem Hintergrund beurteilt, antwortete sie ausweichend damit, dass
auch „der Generalsekretär der Vereinten Nationen, VN, der NATO-Rat und der
EU-Außenrat den Beschuss vom 3. Oktober 2012 scharf verurteilt“ hätten
(Plenarprotokoll 17/203). Am 18. Januar 2013 meldete die österreichische Zeit-
schrift „Der Soldat“: „Jene Werfergranate aus Syrien, die fünf Türken tötete,
stammt eindeutig aus NATO-Beständen“.

Bereits anlässlich des bis heute nicht aufgeklärten Massakers von Hula/El-Houleh
am 25./26. Mai 2012 (Bundestagsdrucksache 17/10333) und erneut in Folge des
vermeintlichen Raketenbeschusses von Zielen auf libanesischem Territorium
durch die syrische Luftwaffe Mitte März 2013 (Außenminister Dr. Guido
Westerwelle zu Angriffen der syrischen Luftwaffe auf libanesischem Territo-
rium, Pressemitteilung vom 19. März 2013) hat sich die Bundesregierung nach
Auffassung der Fragesteller auf unsicherer Faktenlage vorschnell zu einseitigen
Schuldzuweisungen hinreißen lassen und gefährdet damit ihre Glaubwürdigkeit
in gewichtigen Fragen der internationalen Politik, nicht zuletzt in der Frage, was
auch völkerrechtlich als Angriffs- und Verteidigungshandlung zu werten ist.
Verschärft wird dieser Umstand dadurch, dass in keinem einzigen Fall eine ver-
gleichbare Verurteilung von Verletzungen der Souveränität und der territorialen
Integrität Syriens durch Beschuss aus Israel und der Türkei sowie Waffenliefe-
rungen und sonstige Unterstützung der Aufständischen aus dem Ausland durch
die Bundesregierung erfolgte.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus Informationen über
Waffenlieferungen und andere Formen der Unterstützung der Aufständischen
über die Türkei und durch türkische Behörden?

2. Was hat die Bundesregierung unternommen, um diesen Hinweisen nachzuge-
hen, und welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Maßnahmen der
türkischen Regierung, um die Unterstützung des bewaffneten Aufstandes von
türkischem Territorium aus zu unterbinden?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung insbesondere über den vermeint-
lichen Transfer hunderter Kämpfer und mehrerer Panzer aus türkischem Ter-
ritorium im Umfeld der türkischen Stadt Ceylanpınar in die von Kurden kon-
trollierten Gebiete um Ras al-Ain zwischen November 2012 und Februar
2013, die in heftige Gefechte mündeten („Neue Kämpfe in syrischer Grenz-
stadt zur Türkei, NZZ vom 19. Januar 2013 sowie „Kurd-jihadist clashes
intensify near Turkey“, Hurriyet Daily News vom 19. Januar 2013) sowie
über die Gründe dafür, dass in Ceylanpınar in diesem Zeitraum über mehrere
Wochen die Schulen geschlossen blieben?

4. Hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene eine unabhängige Un-
tersuchung des Vordringens bewaffneter Kämpfer und Panzer von der Tür-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13338

kei nach Syrien angeregt und hierbei Unterstützung angeboten, und wenn
nein, warum nicht?

5. Wie bewertet die Bundesregierung die ihr bekannte Unterstützung des be-
waffneten Aufstandes durch türkische Behörden und von türkischem Terri-
torium aus völkerrechtlich, und ist die Türkei nach ihrer Auffassung völker-
rechtlich verpflichtet, den Zustrom von Waffen und Kämpfern aus der
Türkei nach Syrien zu unterbinden?

6. Zu welchen Gelegenheiten wurde die türkische Regierung von der Bundes-
regierung dazu aufgefordert, den Zustrom von Waffen und Kämpfern von
türkischem Territorium aus nach Syrien zu unterbinden?

7. Bewertet die Bundesregierung das Eindringen türkischer Militärflugzeuge
in den syrischen Luftraum, das am 22. Juni 2012 von der türkischen Regie-
rung eingeräumt wurde, als Verletzung der syrischen Souveränität und ter-
ritorialen Integrität, und wenn nein, warum nicht?

8. Welche Informationen über diesen Zwischenfall lagen der Bundesregierung
zum Zeitpunkt ihrer ersten Stellungnahmen zu diesem vor?

9. Welche Informationen (Anzahl, Kurs, Geschwindigkeit, Flughöhe, Ab-
schussort der türkischen Militärflugzeuge) liegen der Bundesregierung
heute über den Zwischenfall vor, und zu welchem Zeitpunkt hat sie gegen-
über der türkischen Regierung oder der NATO eine Untersuchung des Vor-
falls und die Veröffentlichung entsprechender Erkenntnisse eingefordert,
und wenn nicht, warum nicht?

10. Hat die Bundesregierung auf internationaler Ebene eine unabhängige Un-
tersuchung des Vorfalls angeregt und hierbei Unterstützung angeboten, und
wenn nein, warum nicht?

11. Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage erfolgte die Bewertung der Bun-
desregierung, wonach „ein Abschuss ohne vorherige Warnung auf ein
unbewaffnetes Aufklärungsflugzeug … als unverhältnismäßiger Akt zu
werten ist“ (Plenarprotokoll 17/203)?

12. Wann und in welchem Umfang hat nach Informationen der Bundesregie-
rung ein Beschuss türkischen Territoriums durch Granaten von Syrien aus
stattgefunden, welche Informationen liegen der Bundesregierung hierzu
vor, und in welchen Fällen hat sie zu welchem Zeitpunkt hierzu Stellung ge-
nommen?

13. In welchen dieser Fälle hat die Bundesregierung hierzu eine unabhängige
Untersuchung angeregt und hierbei Unterstützung angeboten?

14. In welchem dieser Fälle sieht die Bundesregierung den Ursprung dieser Ge-
schosse – sowohl geographisch, als auch was die Zuordnung des die Grana-
ten abfeuernden Personals zur syrischen Armee, zur Freien Syrischen Ar-
mee oder Akteuren aus Drittstaaten angeht – als zweifelsfrei geklärt an?

15. Teilt die Bundesregierung die u. a. in der Debatte um das NATINADS-
Mandat geäußerte Auffassung, wonach die Lage innerhalb Syriens unüber-
sichtlich sei, es dort Provokateure geben könne und es „in erster Linie nicht
die Anhänger von Assad [sind], die einen Nutzen davon hätten, die NATO
in einen Konflikt hineinzuziehen“ (Plenarprotokoll 17/213)?

16. Welche Informationen (eingesetzte Waffen, Auswahl der Ziele, Zahl der
Opfer, Einsatzregeln für den Fall syrischer Gegenwehr) liegen der Bundes-
regierung über den Beschuss von Zielen in Syrien durch die türkische Ar-
mee am 3. Oktober 2012 vor?
17. Bewertet die Bundesregierung diese Angriffe als Verletzung der syrischen
Souveränität und territorialen Integrität und unverhältnismäßigen Akt, und

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hat sie dies gegenüber der Türkei und ihren NATO-Partnern zum Ausdruck
gebracht, und wenn nein, warum nicht?

18. Hat die Bundesregierung eine unabhängige Untersuchung des türkischen
Beschusses und insbesondere darüber angeregt, ob dieser ausschließlich
den Ursprung des vorangegangenen Granatbeschusses betroffen hat, und
hat sie hierbei Unterstützung angeboten?

19. Wie schätzt die Bundesregierung das Eskalationspotential dieses türkischen
Angriffs auf syrisches Territorium ein, und wie bewertet sie die Reaktion
der syrischen Regierung?

20. Bewertet die Bundesregierung die von der Türkei erzwungene Landung und
Durchsuchung eines syrisches Passagierflugzeugs am 10. Oktober 2012 als
völkerrechtlich legitim und verhältnismäßigen Akt, und wie bewertet sie
ihn vor dem Hintergrund, dass auch hier die türkische Regierung später ein-
räumte, dass deren ursprüngliche Darstellung des Zwischenfalls unzutref-
fend war (SWP-Aktuell 1/2013)?

21. Welche Informationen (eingesetzte Waffen, Auswahl der Ziele, Zahl der
Opfer, Einsatzregeln für den Fall syrischer Gegenwehr) liegen der Bundes-
regierung über den Beschuss von Zielen nahe der syrisch-libanesischen
Grenze durch die israelische Armee Ende Januar 2013 vor?

22. Inwieweit sind nach Auffassung der Bundesregierung, diese Angriffe als
Verletzung der syrischen Souveränität und territorialen Integrität und un-
verhältnismäßigen Akt zu werten, und hat sie dies gegenüber Israel und
ihren NATO-Partnern zum Ausdruck gebracht, und wenn nein, warum
nicht?

23. Hat die Bundesregierung eine unabhängige Untersuchung des israelischen
Beschusses angeregt und hierbei Unterstützung angeboten?

24. Wie schätzt die Bundesregierung das Eskalationspotenzial dieses israeli-
schen Angriffs ein, und welche Auffassung vertritt die Bundesregierung be-
züglich der Reaktion der syrischen Regierung hinsichtlich auch eigener
Schlussfolgerungen und Konsequenzen?

25. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über den Transfer von
Waffen und Kämpfern über libanesisches Territorium nach Syrien vor, hat
sie hierüber eine unabhängige Untersuchung angeregt und hierfür Unter-
stützung signalisiert?

26. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über den Transfer von
Waffen und Kämpfern über jordanisches Territorium nach Syrien vor, hat
sie hierüber eine unabhängige Untersuchung angeregt und hierfür Unter-
stützung signalisiert?

27. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über den Transfer von
Waffen und Kämpfern über irakisches Territorium nach Syrien vor, hat sie
hierüber eine unabhängige Untersuchung angeregt und hierfür Unterstüt-
zung signalisiert?

28. Welche völkerrechtlichen Verpflichtungen sieht die Bundesregierung hin-
sichtlich des möglichen Transfers von Waffen und Kämpfern für die Auf-
ständischen in Syrien durch die Nachbarländer, und wann wurden die iraki-
sche, libanesische und jordanische Regierung jeweils aufgefordert, diesen
Transit zu unterbinden (bitte auflisten)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13338

29. Welche Informationen hat die Bundesregierung über Waffenlieferungen
und finanzielle Unterstützung der Aufständischen in Syrien durch ihre
NATO-Partner und andere Staaten, die gemeinsam mit der Bundesregie-
rung zur Gruppe der so genannten Freunde Syriens zählen?

30. Hat die Bundesregierung zu diesen Finanz- und Rüstungstransfers eine un-
abhängige Untersuchung angeregt und hierfür Unterstützung signalisiert?

31. Bewertet die Bundesregierung die Unterstützung der bewaffneten Aufstän-
dischen in Syrien mit Geld und Waffen durch ihre Partnerstaaten als Verlet-
zung der syrischen Souveränität und territorialen Integrität, und zu welchen
Gelegenheiten hat sie dies ihren Partnern gegenüber zum Ausdruck ge-
bracht (bitte mit Begründung)?

32. Bewertet die Bundesregierung die Lieferung von „nichtletalem militäri-
schem Gerät“ durch ihre EU-Partnerstaaten zur Unterstützung der bewaff-
neten Aufständischen in Syrien als Verletzung der syrischen Souveränität
und territorialen Integrität, und wie begründet sie ihre Zustimmung zum Be-
schluss 2013/109/GASP des Rates, der dies ermöglichen sollte?

33. Wie beurteilt die Bundesregierung zusammenfassend die Reaktionen der
syrischen und der türkischen Regierung auf bisherige Grenzzwischenfälle?

34. Beurteilt die Bundesregierung die Angaben der türkischen Regierung über
solche Zwischenfälle grundsätzlich als glaubwürdiger, als diejenigen der
syrischen Regierung, und auf welcher Grundlage beruht diese Einschät-
zung?

35. Hat die syrische Regierung nach Auffassung der Bundesregierung ihre Sou-
veränitätsrechte verwirkt, und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt?

36. Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage erfolgt diese Einschätzung, und
welche Konsequenzen hat sie u. a. für die Frage von Waffenlieferungen und
bewaffneten Angriffen auf syrisches Territorium sowie weitere Staaten, für
die Syrien als Präzedenzfall gelten könnte?

Berlin, den 26. April 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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