BT-Drucksache 17/13102

Die notwendigen politischen Konsequenzen aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung ziehen

Vom 17. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13102
17. Wahlperiode 17. 04. 2013

Antrag
der Abgeordneten Hilde Mattheis, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette Kramme,
Elke Ferner, Willi Brase, Iris Gleicke, Angelika Graf (Rosenheim), Kerstin
Griese, Michael Groß, Gabriele Hiller-Ohm, Petra Hinz (Essen), Christel Humme,
Josip Juratovic, Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Caren Marks, Katja Mast,
Thomas Oppermann, Mechthild Rawert, Anton Schaaf, Werner Schieder (Weiden),
Silvia Schmidt (Eisleben), Swen Schulz (Spandau), Kerstin Tack, Rüdiger Veit,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Die notwendigen politischen Konsequenzen aus der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Aufgabe der Armuts- und Reichtumsberichterstattung

Die Bundesregierung hat aus den Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom
27. Januar 2000 und 19. Oktober 2001 die Verpflichtung, jeweils zur Mitte der
Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen.

Die Berichterstattung muss die Ursachen von Armut und Reichtum darlegen.
Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist Voraussetzung für eine ge-
rechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes und damit für die Beseiti-
gung der Armut.

Der Bericht soll Handlungsperspektiven für eine Stärkung der Teilhabe- und
Verwirklichungschancen der und des Einzelnen aufzeigen, vor allem für bes-
sere Bildung, verbesserte Gesundheit und erleichterte Zugänge zu Erwerbs-
arbeit mit existenzsicherndem Einkommen.

Der Bericht soll auf der statistisch-empirischen Erfassung der gesellschaft-
lichen Realität in Deutschland mit ihren Gegenpolen Armut und Reichtum
basieren. Der empirische Teil des Berichts soll unter verbindlicher Beteiligung
von Armuts- und Reichtumsforscherinnen und -forschern unter Federführung
des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellt werden. Die Erstellung
des Berichts soll von einem Beratungsprozess begleitet werden, an dem alle Or-
ganisationen und Verbände beteiligt werden, die sich mit dem Thema befassen.

2. Der Bericht zeigt gravierende Mängel bei der Erstellung und Nutzung des

möglichen Instrumentariums für eine sachgerechte Berichterstattung

a) Der Bundesregierung war eine geschönte Präsentation der sozialen Verhält-
nisse wichtiger, als mit einer nüchternen Analyse die notwendigen Voraus-
setzungen und zielgenauen Handlungsoptionen für ein Umsteuern in der
Verteilungsfrage hin zu einem gerechteren und sozialen Ausgleich vorzule-
gen. Sie hat bei der Erstellung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts (ARB)

Drucksache 17/13102 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

die Zusammenarbeit mit dem Beraterkreis zum ARB auf ein absolutes Mini-
mum eingeschränkt und diesem für die Stellungnahme zum Berichtsentwurf
nur eine Frist von acht Tagen eingeräumt. Der Termin für die eigene Be-
schlussfassung wurde dagegen über Monate hinweg immer wieder verscho-
ben und dies ohne die Kritik und Verbesserungsvorschläge von Sozial-
verbänden und Gewerkschaften zu integrieren.

b) Trotz des zeitlichen Aufschubs und vielfältiger Verbesserungsvorschläge
wurde das Indikatorentableau des Berichts nicht wesentlich realitätsgerech-
ter ausgestaltet. Die verwendeten Indikatoren haben keine ausreichende
Qualität für eine sachgerechte Berichterstattung.

c) Diese Minderung der Qualität des Berichts wirkt sich besonders negativ im
Berichtsteil zum Reichtum aus. Vor allem die Daten- und Erkenntnislage im
Bereich des privaten Reichtums mit Blick auf besonders hohe Einkommen
und Vermögen wurde kaum verbessert. Die – etwa im Antrag der SPD-Bun-
destagsfraktion (Vorbereitung des 4. Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung in der 17. Wahlperiode – Armuts- und Reichtumsbericht-
erstattung weiterentwickeln, Bundestagsdrucksache 17/4552) – benannten
Mängel und notwendigen Verbesserungen insbesondere im Berichtsteil zur
Reichtumsentwicklung wurden weitgehend ignoriert.

d) Ein Skandal ist es zweifelsohne, dass die Genderfrage nicht hinreichend
thematisiert wird: „Schon in der Konzeption des Berichtes ist angelegt, dass
ein großer Teil der Lebensrealität von Frauen von vornherein gar nicht
beachtet wird.“ „Die unterschiedlichen Benachteiligungstatbestände, mit
denen Frauen im Lebenslauf konfrontiert sind und die die Ursachen dafür
sind, dass Armut auch hierzulande überwiegend Frauen betrifft, sind der
Bundesregierung spätestens seit dem Ersten Gleichstellungsbericht aus dem
Jahr 2011 bekannt. Zwei Jahre später findet sich aus diesen Erkenntnissen
nichts im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht wieder.“ (Deutscher Frauen-
rat).

e) Der Bericht geht nicht auf verdeckte Armut (die Nichtinanspruchnahme zu-
stehender Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsleistungen) ein. Verdeckte
Armut ist ein unverzichtbarer Indikator für die Prävention und Armuts-
bekämpfung sowie für sozialstaatliche Zielverfehlungen. Die Quote lag
2007 bei etwa 40 Prozent und dürfte angesichts dieser enorm hohen Zahl
von betroffenen Bürgerinnen und Bürgern im Armutsbericht auf keinen Fall
fehlen.

f) Auch fehlen in der Regel Handlungsperspektiven zur Armutsbekämpfung in
den einzelnen Problembereichen. Dies betrifft zum Beispiel die Belastung
durch gestiegene Energiepreise, Überschuldung privater Haushalte, die un-
soziale Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt, die Wohnungslosigkeit oder
Straffälligkeit.

g) Zu den genannten Bereichen der Armutsberichterstattung legt der 4. ARB
oft keine oder wenig aussagekräftige Daten vor. Als Beispiel sei die Bewer-
tung des Berichtsentwurfs durch die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerbe-
ratung der Verbände (AG SBV) zitiert, die unverändert auch für die Endfas-
sung gültig bleibt: „Der Armuts- und Reichtumsbericht geht nur sehr unzu-
reichend auf die Ursachen der Überschuldung ein.“ „Es wird nur die Über-
schuldung privater Haushalte mit Kreditverbindlichkeiten berücksichtigt.“
„Ganz besonders fehlen im Bericht Aussagen der Bundesregierung zum
Handlungsbedarf und zu Lösungsstrategien, die darauf abzielen, Überschul-
dung zu vermeiden, bzw. die Lebenssituation überschuldeter Menschen zu
verbessern.“
h) Die Darstellung des Entwurfs, ist oft „mehr als lückenhaft“, wie die
Diakonie z. B. bezüglich „der besonderen Armutsgefährdung von Menschen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13102

mit Migrationshintergrund“ beklagt. Im endgültigen Bericht wurde dieser
tiefgehende Makel nicht beseitigt.

j) „Hinsichtlich der Berücksichtigung des Gender-Aspekts bei Menschen mit
Behinderung ist entsprechend ein Rückschritt seit dem Jahr 2008 zu ver-
zeichnen.“ (Politische Interessenvertretung behinderter Frauen im Weiber-
netz e. V.)

k) Auch werden Bereiche von Armutsentwicklungen völlig ausgeblendet wie
die Tatsache, dass rund ein Drittel der neuen „Solo-Selbständigen“, die
mittlerweile rund 57 Prozent aller Selbständigen in Deutschland ausmachen
(sie sind seit 2003 um rund 40 Prozent auf etwa 2,6 Millionen angewach-
sen), dem Niedriglohnsektor zugerechnet werden müssen.

l) Entsprechendes Datenmaterial steht zur Verfügung, auch zum Reichtum und
zur Vermögensentwicklung in Deutschland. Allerdings wurde dieses nicht
genutzt.

3. Der Bericht ignoriert die Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung

Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht legt weder eine klare Analyse noch eine
nachvollziehbare Diagnose und nur ganz vereinzelt überprüfbare Handlungs-
optionen vor. Der Bericht ist vom eigenen Anspruch weit entfernt, „gezielten
politischen Handlungsbedarf formulieren zu können“ (Antwort der Bundes-
regierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion „Armut und
Reichtum in Deutschland – Konzeption zur 4. Berichterstattung der Bundes-
regierung“, Bundestagsdrucksache 17/9087).

Die zentrale Ursache für die Polarisierung der Einkommens- und Vermögens-
verhältnisse ist die Aufkündigung des sozialstaatlichen Kompromisses des
„rheinischen Kapitalismus“, der die alte Bundesrepublik geprägt hat. Die De-
regulierung von Arbeits-, Güter- und Finanzmärkten hat sich in einer neuen
Verteilungsordnung niedergeschlagen, die deutlich weniger egalitär ausgerich-
tet ist. Im Ergebnis werden so nicht nur die sozialstaatlichen Strukturen ge-
schwächt, sondern auch die meritokratischen Leistungs- und Gerechtigkeits-
normen in der Gesellschaft unterminiert. Der Bericht blendet aber gerade diese
tiefergehenden Fragen aus (bzw. hat sie soweit sie im ersten Berichtsentwurf
auch nur angesprochen wurden, aus der Endfassung gestrichen).

Mit der Ausrichtung des Berichts auf ein diffuses Hauptmotto („Chancen schaf-
fen, soziale Mobilität ermöglichen“) und seiner Orientierung an einem Lebens-
phasenmodell nimmt die Bundesregierung gegenüber den ersten drei Berichten
einen Perspektivenwechsel vor, der dazu führt, dass strukturelle Benachteili-
gungen verdeckt und damit nicht als Ursache erkannt werden sollen. Die Orien-
tierung auf „Chancengerechtigkeit“ als nahezu einziger Definition von „sozia-
ler Gerechtigkeit“ sorgt nicht nur dafür, dass andere Dimensionen, wie insbe-
sondere Verteilungsgerechtigkeit, ausgeblendet werden, sondern besitzt auch
die Funktion, soziale Risiken zu individualisieren: Wenn „Chancengerechtig-
keit“ gegeben sei, liege es an der und dem Einzelnen, ob sie damit etwas anzu-
fangen wissen, und damit ihr Leben bewältigen. Letztendlich sollen so die Ver-
teilungsergebnisse des Marktes legitimiert werden.

Armut wird, wie u. a. die Diakonie in ihrer Stellungnahme schreibt „individua-
lisiert“. Das hat zur Folge, dass aus politischer Sicht die Beseitigung struktu-
reller Benachteiligung nicht in den Blick genommen wird und die Bundes-
regierung keine Handlungsnotwendigkeiten sieht. Der Deutsche Frauenrat etwa
konstatiert: „Dem Armuts- und Reichtumsbericht fehlt […] auch eine konkrete
Linie für den sozialen Ausgleich.“

Der Bericht „ist ein Schlag ins Gesicht für die sozial benachteiligten Kinder,

deren Bildung vom Einkommen der Eltern abhängig ist“, sagte der Gründer des

Drucksache 17/13102 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“, Bernd Siggelkow. „Hier darf nicht
schön gerechnet werden, was schon heute unserer Gesellschaft große Probleme
bereitet und in Zukunft noch größere Probleme bereiten wird.“ Eltern mit
einem Einkommen auf Hartz-IV-Niveau könnten ihre Kinder nicht ausreichend
fördern. „Wer arm geboren wird, bleibt es wahrscheinlich sein Leben lang.“, ist
der bittere Kommentar der AWO und die Caritas fordert „Handlungskonse-
quenzen: Die Vererbung von Armut durchbrechen“. Der Präsident des Deut-
schen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, kommentiert: „Jedes fünfte Kind ist
armutsgefährdet – das liegt auch an unserem Bildungssystem. Es verschärft die
Benachteiligungen von schlechter gestellten Familien. Deshalb brauchen wir
einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für Kinder ab einem
Jahr.“

4. Befunde der Armuts- und Reichtumsentwicklung seit dem 3. ARB

Auch wenn die Bundesregierung sich bemüht, mit ihrem Bericht die realen Ver-
hältnisse zu verschleiern, sind an den verwendeten Daten, den Formulierungen
und der lückenhaften Darstellung Folgendes abzulesen:

a) Seit Veröffentlichung des 3. Armuts- und Reichtumsberichts im Jahr 2008
ist die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergegangen.
Trotz guter konjunktureller Lage hat das Armutsrisiko weiter zugenommen
und liegt mit 15,1 Prozent auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereini-
gung. Kinder sind mit 18,9 Prozent deutlich stärker armutsgefährdet als die
Gesamtbevölkerung.

b) Die Prekarisierung des Arbeitsmarktes produziert Armut und sorgt für künf-
tige Armutsrenten: 23 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wur-
den mit weniger als zwei Dritteln des Durchschnittsstundenlohns (9,15 Euro)
entlohnt. Zwölf Prozent bekamen weniger als 7 Euro Stundenlohn und 4 Pro-
zent weniger als 5 Euro.

c) Aus dem Bericht gestrichen wurden bezeichnenderweise folgende Aus-
sagen: „Die Evaluierung der bestehenden branchenspezifischen Mindest-
löhne hat gezeigt, dass diese nicht zum Abbau von Beschäftigung geführt
haben.“ Und: „Bereits heute profitieren rund vier Mio. Beschäftigte von
branchenbezogenen Mindestlöhnen.“

d) Wesentlich und nach wie vor folgenreich ist die im Bericht völlig unter-
belichtete Tatsache, dass vom Verlust der sozialen Balance unserer Gesell-
schaft Frauen deutlich mehr als Männer betroffen sind. Diese Negativentwick-
lung belastet zudem die Kinder.

e) Zwar spricht der Entwurf des 4. Armuts- und Reichtumsbericht mit der
Erhöhung der Frauenerwerbsquote einen wichtigen Aspekt zur Bekämpfung
auch von Armut an. Zurecht wird ebenfalls festgestellt: „Niedrige Einkom-
men von Frauen werden bei der Trennung vom Partner oder dessen Arbeits-
losigkeit zum Armutsrisiko für den Alleinstehenden- oder Alleinerziehen-
denhaushalt.“ Aber es werden die falschen Konsequenzen gezogen:

• Ausweitung der Minijobs von 400 Euro auf 450 Euro,

• Ablehnung der gesetzlichen Regelungen zur Bekämpfung der Entgeltun-
gleichheit und eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns,

• Einführung eines „Betreuungsgeldes“,

• Ablehnung einer Frauenquote in Spitzenpositionen, usw.

f) Wachsende extreme Einkommensarmut korrespondiert mit extrem steigen-
den Spitzeneinkommen, wie sie nie zuvor in der Geschichte der Bundes-

republik zu verzeichnen waren.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13102

g) Die abnehmende Verteilungswirkung von Steuern und Sozialtransfer schmä-
lert den sozialen Ausgleich und vertieft die Benachteiligung der weniger be-
güterten Bürgerinnen und Bürger.

h) Diese Entwicklungen haben zu einem großen Vermögensreichtum einer sehr
kleinen und echten Reichtumselite auf der einen Seite geführt und auf der
anderen Seite zu einer dauerhaften Unterschicht mit zunehmender Verfesti-
gung von Armut, aus der die Wege immer mehr verbaut bleiben.

i) Dies führt zu einer Destabilisierung und Schrumpfung der Mittelschicht, die
an den Rändern zu überwiegenden Teilen in die Armut und nicht zum Reich-
tum hin abgedriftet. Der Anteil der Absteiger hin zum Armutsrisiko ist größer
als der Anteil der Aufsteiger aus der Mitte hin zur Schicht der Reichen.

j) Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland haben sich in den letzten
Jahren grundlegend zum Nachteil breiter Bevölkerungsschichten und zu-
gunsten der Wohlhabenden und Reichen verändert. Die Wohlfahrtzuwächse
der letzten 20 Jahren sind in der Breite der Bevölkerung nicht angekommen.

k) „Waren Wohlstandszuwachs und allgemeine Teilhabe über einen langen his-
torischen Zeitraum die wichtigsten Bestimmungsgründe der integrierten
Mittelschichtgesellschaft, so ist heute nicht mehr davon auszugehen, dass
sich Wachstum automatisch in allgemeine Einkommens- und Wohlstands-
gewinne übersetzt. […] Die Verkopplung von Wachstum und ausgeglichener
Verteilung, die eine wesentliche Bedingung der Stabilität und des Wachs-
tums der Mitte darstellte, hat sich deutlich abgeschwächt, wenn nicht gar
aufgelöst.“, konstatiert die jüngste Mittelschicht-Studie der Bertelsmann-
Stiftung mit dem Titel „Mittelschicht unter Druck?“.

5. Die Aussagen der wichtigsten Kernindikatoren

Trotz der Verschleierungsbemühungen der Bundesregierung zeigt der 4. Ar-
muts- und Reichtumsbericht eine massive Verschiebung der Verteilungsverhält-
nisse in Deutschland. Dazu genügt es, in aller Kürze die wesentlichen Kern-
indikatoren zur Kenntnis zu nehmen.

Sie zeigen nicht nur unabweisbar eine tiefgehende Umverteilung von unten
nach oben zugunsten der Reichen und Superreichen, sondern verweisen darauf,
dass die realen Verhältnisse mit dem Anspruch einer sozialen Marktwirtschaft
nur mehr wenig zu tun haben und ein dringender, auch grundlegender und breit
gefächerter Handlungsbedarf für mehr soziale Gerechtigkeit besteht:

a) Die Ungleichverteilung der Privatvermögen hat deutlich zugenommen. Im
Jahr 2008 verfügt die untere Hälfte, also 50 Prozent der Bevölkerung, über
nur 1,2 Prozent des Nettovermögens (EVS), d. h. innerhalb von fünf Jahren
hat sich der schon damals winzige Anteil von 2,6 Prozent (2003) um mehr
als die Hälfte reduziert. Die reichsten 10 Prozent besitzen mehr als die
Hälfte (52,9 Prozent), einschließlich Betriebs- und Sachvermögen sogar
57,1 Prozent (SOEP). zehn Jahre zuvor waren es noch 44,7 Prozent (EVS).
In den letzten 20 Jahren hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte
von knapp 4,6 auf rund 10 Bio. Euro mehr als verdoppelt. Allein von 2007
bis 2012 haben die reichsten Haushalte um 1,4 Bio. zugelegt.

b) Die Einkommensspreizung hat deutlich zugenommen: Die unteren 40 Pro-
zent der Vollzeitbeschäftigten haben reale Entgeltverluste. Und auch wenn
sich die Spreizung abgeschwächt hat, wie nun der Bericht betont, ist das
keine Trendumkehr. Denn dazu hat die Einführung des Mindestlohnes in
einigen Branchen beigetragen, aber der Anstieg ist vor allem der konjunktur-
bedingten Zunahme sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse ge-
schuldet, die im Abschwung schnell wieder gefährdet sind. Der Niedrig-

lohnanteil befindet sich nach wie vor bei rund 23 Prozent. Die Entgeltlücke

Drucksache 17/13102 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

zwischen Frauen und Männern bleibt unverändert groß. Frauen verdienen
bei vergleichbarer Tätigkeit 22 Prozent (24 Prozent im Westen und 7 Pro-
zent im Osten) weniger als Männer. Nur im obersten Bereich ist die Lohn-
entwicklung in Deutschland signifikant steigend.

c) Diese Negativbilanz schlägt sich auch beim Armutsrisiko von Erwerbstäti-
gen nieder, das von 7,7 Prozent (2003) auf 8,7 Prozent (2009) angewachsen
ist. Selbst das Armutsrisiko für Kinder (Alter bis 17 Jahren) ist seit 2003 auf
hohem Niveau weiter angewachsen. Laut der Einkommens- und Ver-
brauchsstichprobe (EVS) war im Jahr 2008 jedes fünfte Kind dieser Lebens-
situation ausgesetzt und auch die vorliegenden Zahlen aus 2010 und 2011
von EU-SILC und Mikrozensus können keine grundlegende Verbesserung
bezeugen. Insgesamt hat sich das Armutsrisiko verfestigt (14,0 Prozent im
Jahr 2006) und ist 2011 – trotz guter Konjunktur – von 2010 von 14,5 Pro-
zent auf 15,1 Prozent (Mikrozensus) gestiegen, bzw. nach EU-SILC von
15,2 Prozent (2007) auf 15,8 Prozent (2010).

d) Gegenläufig zur wachsenden Armut kommt es seit einem Jahrzehnt zu einer
gewaltigen Steigerung des zu vererbenden Vermögensvolumens. In den
nächsten zehn Jahren kann von mindestens 2,5 Bio. Euro ausgegangen
werden. Dabei dürfte nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Alters-
vorsorge allein ein Drittel des Gesamtvolumens auf die oberen zwei Prozent
aller Hinterlassenschaften entfallen und die Besteuerung dieses leistungs-
losen Einkommens ist mit jährlich einer Summe von 4 Mrd. Euro auf im
Schnitt 250 Mrd. Erbschaftsmasse historisch so niedrig wie nie zuvor.

e) Diese auch im internationalen Vergleich deutliche Privilegierung reicher
Erben und Erbinnen ist ein Verzicht auf Steuereinnahmen und trägt wie auch
die Aussetzung der Vermögensteuer seit dem Jahr 1996 dazu bei, dass die
Finanzierung des Gemeinwohls unzureichend bleibt und durch Steuer-
mindereinnahmen sich die Finanznot des Staates verstärkt hat.

f) Hinzu kommt, wie im 4. ARB festgestellt wird, dass in den letzten 20 Jahren
das Nettovermögen des Staates um 800 Mrd. Euro geschrumpft ist. Insge-
samt führte das zu einer spürbaren Einschränkung der Handlungsfähigkeit
des Staates auf allen Ebenen und seiner Aufgabe, für sozialen Ausgleich zu
sorgen.

6. Schlussfolgerung

Mehr Verteilungsgerechtigkeit ist nur möglich, wenn über die Progression in
der Einkommensteuer hinaus der immense private Reichtum für die nachhal-
tige Finanzierung herangezogen wird. Die Bundesregierung will jedoch nur
prüfen, wie „freiwilliges Engagement Vermögender in Deutschland für das
Gemeinwohl eingeworben werden kann“. Mit Spenden ist jedoch kein Staat zu
machen. Der Staat finanziert sich über Steuern. Der Verzicht auf eine gerechte
Steuerpolitik ist eine politische Bankrotterklärung. Damit wird der private
Reichtum weiterhin privilegiert.

Mehr Verteilungsgerechtigkeit und die Verbesserung der sozialen Lage ist nur
unter Berücksichtigung der Genderfrage und bei realem Ausgleich der Ge-
schlechterverhältnisse im Sinne von Geschlechtergerechtigkeit möglich.

Die Bundesregierung hat mit dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht die grund-
legenden Weichenstellungen für mehr Verteilungsgerechtigkeit, für eine ge-
rechtere Gesellschaft weder benannt noch will sie diese ändern.

Unbeantwortet bleiben Fragen wie die

a) nach den grundlegenden materiellen Voraussetzungen für Wohlstand und

Lebensqualität aller Bürgerinnen und Bürger,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/13102

b) nach den Aufstiegsvorteilen durch privilegierte Zugänge zu Bildung, beruf-
lichen Spitzenpositionen, Macht und Einfluss und der Beseitigung der
Barrieren zugunsten von Chancen-, Bildungs- und Leistungsgerechtigkeit
und Teilhabe von allen Bürgerinnen und Bürgern,

c) nach den Auswirkungen staatlichen Handelns auf die Armuts- und Reich-
tumsentwicklung und

d) wem und mit welcher Wirksamkeit die gesellschaftlich notwendigen Dienst-
leistungen und Maßnahmen des Sozialstaates nützen sowie

e) nach Verwirklichung von Inklusion und umfassender Teilhabe.

Politik muss in diesen Kernbereichen gesellschaftlichen und staatlichen Han-
delns die entscheidenden Rahmenbedingungen und Grundstrukturen setzen, die
verantwortlich für die Armuts- und Reichtumsentwicklung und den sozialen
Ausgleich sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. für die künftige Berichterstattung sicherzustellen, dass folgende Forderungen
in der Armuts- und Reichtumsberichterstellung umgesetzt werden:

a) bessere Einbindung eines Beraterkreises (Transparenz der Berichterstel-
lung durch die Veröffentlichung des Beratungsprozesses sowie der ab-
schließenden Vorschläge und Kommentare des Beraterkreises im Anhang
des Berichtes);

b) Verbesserung der Indikatoren (Umsetzung der Forderungen, die im
Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Vorbereitung des 4. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung in der 17. Wahlperiode – Armuts-
und Reichtumsberichterstattung weiterentwickeln“, Bundestagsdruck-
sache 17/4552, aufgeführt sind);

c) stärkere Nutzung und Einbeziehung des vorhandenen Datenmaterials z. B.
zur Genderfrage und zum Reichtum;

d) Vernetzung der Ergebnisse anderer Berichterstattungen wie z. B. Gleich-
stellungsbericht, Berichte zu Familie, Kindern und Jugendlichen, Senioren,
Bildung, Migration, Renten, Städtebau und Nutzung ihrer Kernaussagen;

e) Vernetzung mit den Sozialberichten der Länder und Kommunen;

f) Ausweitung der Berichterstattung um Fragen wie:

• Wem nützen gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen?

• Wer nutzt bestehende Teilhabechancen nicht und warum (Stichwort:
Verwirklichungschancen)?

• Was bedeuten Leistungseinschränkungen und Privatisierung für die
Lebenslagen verschiedener Gruppen (v. a. derer im Armutsrisiko)?

• Wie müssen gesellschaftlich notwendige Dienstleistungen gestaltet
werden, um die Lebenslagen der schwächeren sozialen Gruppen zu ver-
bessern (z. B. den Zugang zur Schuldnerberatung) und den in diesem
Bereich beschäftigten Menschen gute Arbeit zu ermöglichen?

• Wie müssen dafür institutionelle Innovationen angelegt sein und Ver-
änderungen auf der Ausgaben- und Einnahmenseite dimensioniert
werden, um der Nachhaltigkeit und dem Gemeinwohl gegenüber
privaten Profitinteressen Geltung zu verschaffen?

g) Die „Aufgabe, materielle Armut und Unterversorgung sowie Strukturen

der Reichtumsverteilung zu analysieren und Hinweise für die Entwicklung
geeigneter politischer Instrumente zur Vermeidung und Beseitigung von

Drucksache 17/13102 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Armut, zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit sowie zur Verminderung
von Polarisierungen zwischen Arm und Reich zu geben“ (Lebenslagen in
Deutschland – Erster Armuts- und Reichtumsbericht, Bundestagsdruck-
sache 14/5990) wurde vom 4. Armuts- und Reichtumsbericht nicht erfüllt
und bleibt als grundlegende Forderung weiterhin bestehen.

h) Dazu gehört wesentlich und unverzichtbar die Ableitung und Darstellung
konkreter politischer Maßnahmen und Überprüfung ihrer Verteilungs-
wirkung;

2. als Antwort auf den 4. Armuts- und Reichtumsbericht und die Kommentie-
rung durch den Beraterkreis sowie die Ergebnisse seiner öffentlichen Dis-
kussion geeignete politische Instrumente zur Vermeidung und Beseitigung
von Armut, zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit sowie zur Verminderung
von Polarisierungen zwischen Arm und Reich vorzulegen. Als wesentliche
Bestandteile sind folgende Forderungen in den nachfolgend genannten Berei-
chen einzubeziehen:

2.1 Arbeitsmarkt

a) die Einführung eines flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohns,

b) Bekämpfung prekärer Beschäftigung (insbesondere durch eine Begren-
zung der Leiharbeit durch u. a. gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit,
Abschaffung der sachgrundlosen befristeten Beschäftigung und einer
Neuregelung der Minijobs),

c) Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit z. B. auch durch Ausbau und Weiter-
entwicklung öffentlich geförderte Beschäftigung,

d) Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt besser zu
unterstützen, indem ausländische Berufsabschlüsse anerkannt und das
arbeitsmarktpolitische Instrumentarium und die Beratung und das Fall-
management an ihren Bedürfnissen ausgerichtet werden,

e) gesetzliche Regelung der Entgeltgleichheit,

f) Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und

g) Angebot von zusätzlichen Qualifizierungsmaßnahmen;

2.2 Steuerpolitik

a) eine umverteilende Steuerpolitik durch stärkere Besteuerung großer
Vermögen, durch die Wiedereinführung einer Vermögensteuer und die
Erhöhung der Erträge aus der Erbschaftsteuer,

b) die Stärkung des Prinzips der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit durch
die Anhebung des Spitzensteuersatzes,

c) eine Reform des Ehegattensplittings hin zu einer Individualbesteuerung
mit gegenseitigen Unterhaltsverpflichtungen und Bestandsschutz von Alt-
ehen,

d) eine Finanztransaktionssteuer, die für Zukunftsprojekte eingesetzt wird,
und

e) Stärkung der kommunalen Finanzen durch Ausweitung der Gewerbe-
steuer;

2.3 Sozial- und Gesundheitspolitik

a) eine Vernetzung der Sozialberichterstattungen der Länder und anderer

Berichte wie Gleichstellungsbericht/Altenbericht/Jugendbericht/usw.,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/13102

b) eine Bürgerversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung, eine
Weiterentwicklung der Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversiche-
rung und der Arbeitslosen- zu einer Arbeitsversicherung,

c) eine bedarfsgerechte Ermittlung und Festsetzung der existenzsichernden
Leistungen,

d) Reform des Kindergeldes und Abschaffung des Betreuungsgeldes,

e) Entlastung privater Haushalte bei den Energiekosten (z. B. Wiedereinfüh-
rung von Heizkostenzuschüssen, sachgerechte Regelsätze),

f) Förderung des sozialen Wohnungsbaus,

g) eine unverzügliche Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
zum Asylbewerberleistungsgesetz,

h) Gesundheitsprävention und

i) Sicherung des gleichberechtigten Zugangs zu Leistungen der medizini-
schen Versorgung und des medizinischen Fortschritts für alle;

2.4 Bildung

a) Investitionen in frühkindliche Bildung,

b) flächendeckendes Angebot von Ganztagesbetreuungsangeboten und Ganz-
tagsschulen in guter Qualität und Abschaffung des Betreuungsgeldes,

c) Förderung inklusiver Bildung,

d) längeres gemeinsames Lernen,

e) Gebührenfreiheit von der Kita bis zum Studium und ein angemessenes
BAföG,

f) individueller Rechtsanspruch auf berufliche Qualifikation und Weiter-
bildung bei finanzieller Beteiligung der Betriebe, wie es in dem Antrag
der SPD-Bundestagsfraktion „Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“
(Bundestagsdrucksache 17/9725) skizziert wird, sowie die Stärkung der
Weiterbildungsangebote (z. B. Ausbau des Meister-BAföG),

g) eine Bildungspolitik, die mehr als eine zweite Chance eröffnet,

h) die Aufhebung des Kooperationsverbots und

i) eine Reform des Bildungs- und Teilhabepakets, die dafür sorgt, dass der
verfassungsrechtlich garantierte Teilhabeanspruch auch tatsächlich um-
gesetzt wird.

Berlin, den 17. April 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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