BT-Drucksache 17/13085

Teilhabe ermöglichen - Forschung und Entwicklung von Technologien und Design für Alle intensivieren

Vom 16. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13085
17. Wahlperiode 16. 04. 2013

Antrag
der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Silvia Schmidt (Eisleben),
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Ulla Burchardt, Petra Ernstberger,
Michael Gerdes, Iris Gleicke, Ulrike Gottschalck, Kerstin Griese, Klaus
Hagemann, Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Florian Pronold, René Röspel,
Marianne Schieder (Schwandorf), Swen Schulz (Spandau), Dagmar Ziegler,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Teilhabe ermöglichen – Forschung und Entwicklung von Technologien und
Design für Alle intensivieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion (UN-BRK) verpflichtet, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte
und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskrimi-
nierung zu gewährleisten und eine umfassende Teilhabe zu fördern. Daraus
ergibt sich die Verpflichtung, geeignete Maßnahmen zu treffen, um eine umfas-
sende barrierefreie Gestaltung in allen Lebensbereichen zu gewährleisten.
Technische Hilfsmittel eröffnen notwendige und sinnvolle Rahmenbedingungen,
um dieses Ziel zu erreichen. Für die uneingeschränkte Teilhabe sind deshalb
sogenannte behinderungskompensierende Technologien (im Folgenden: „Tech-
nologien für Alle“) unverzichtbar. Darunter werden alle Technologien verstan-
den, durch die individuelle Fähigkeiten unterstützt werden, damit für Menschen
mit Behinderung möglichst geringe Barrieren für ihre Teilhabe entstehen.

Im Kontext der Technologien für Alle spielt zudem das Konzept des Universel-
len Designs (im Folgenden: „Design für Alle“) eine wichtige Rolle, dessen Um-
setzung in der UN-BRK gefordert wird. Das Konzept des Designs für Alle geht
über den Begriff der behindertengerechten Gestaltung hinaus und ist zudem auch
von wirtschaftlichem Interesse. Im Sinne der UN-BRK bedeutet Design für Alle
die Gestaltung von Produkten, Umfeldern, Programmen und Dienstleistungen in
der Weise, dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpas-
sung oder ein spezielles Design genutzt werden können. Design für Alle schließt
Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich nicht aus. Es kann im Gegenteil eine
sinnvolle und hilfreiche Voraussetzung für den Einsatz von speziellen behinde-
rungskompensierenden Technologien sein.
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und dem Ziel einer inklu-
siven Gesellschaft stellt sich die vielfältige Herausforderung, wie unsere Städte
und Einrichtungen, wie Teilhabe am kulturellen und politischen Leben und wie
unsere Arbeitswelt in Zukunft aussehen sollen, damit sie von allen Menschen
ungeachtet von Einschränkungen und Behinderungen genutzt werden können.
Technologien und „Designs für Alle“ bieten zahlreiche Antworten auf diese
wichtigen Fragen. Sie können das tägliche Leben jeder Bürgerin und jedes

Drucksache 17/13085 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Bürgers in unserem Land grundlegend positiv beeinflussen. Insbesondere
„Design für Alle“ geht in seiner Bedeutung deutlich über eine zielgruppen-
spezifische Fragestellung hinaus. Es kann bei der Bewältigung der gesellschaft-
lichen Großaufgabe „Demografischer Wandel“ einen hohen Nutzen bieten.

In seinem Bericht „Chancen und Perspektiven behinderungskompensierender
Technologien am Arbeitsplatz“ (Bundestagsdrucksache 16/13860) hat das Büro
für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) bereits im
Juli 2009 auf Defizite und Herausforderungen in der Forschung und Entwick-
lung von Technologien für Alle hingewiesen. So wird den Entwicklungen im
Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik ein besonderes Poten-
tial zur Erhöhung der Inklusionschancen beigemessen. Motorische Arbeits-
platzanforderungen können so weiter reduziert werden und es wird mehr
Eigenständigkeit der Betroffenen bei der Arbeitsausübung erreicht. Der Bericht
bemängelt, dass es kaum Forschungsstrukturen zu Technologien für Alle in
Deutschland gebe. Die Forschung finde eher singulär in der Industrie, in einigen
Hochschulen und Projekten statt. Strukturfördernde Maßnahmen und Schwer-
punktzentren könnten die vorhandene technologische Basis ausbauen und die
deutsche Forschung dem internationalen Standard annähern.

Durch Design für Alle sollen in allen Bereichen der Gesellschaft getrennte
Lösungen und spezielle Dienstleistungen verringert und das alltägliche Leben
für alle Menschen – und zwar unabhängig von ihren Fähigkeiten und Beein-
trächtigungen – vereinfacht werden. Die gängigen Prinzipien, die beim Design
für Alle berücksichtigt werden sollten, sind: breite Nutzbarkeit, Flexibilität in
der Benutzung, einfache und intuitive Benutzung, sensorisch wahrnehmbare
Informationen, Fehlertoleranz, niedriger körperlicher Aufwand sowie Größe
und Platz für Zugang und Nutzung. Als Good-practice-Beispiele für Designs
für Alle in Deutschland nennt das Internationale Design Zentrum Berlin in sei-
nem Gutachten vom April 2009 für das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie unter anderem den „Supermarkt der Generationen“ und Telefone
mit Design für Alle.

Leider wird das Konzept aus vielfältigen Gründen bisher kaum bei der Ent-
wicklung von Dienstleistungen und Gütern umgesetzt. Unkenntnis über die
Möglichkeiten des Designs für Alle und auch fehlende etablierte Leitlinien für
den Einsatz sowie ein Mangel an Fachkräften, die in der Lage sind, Produkte
mit Design für Alle zu entwickeln und zu evaluieren, verhindern derzeit einen
weitergehenden Einsatz. Technologien und Design für Alle sind insbesondere
in den Ausbildungsgängen der Berufsgruppen, die diese später entwickeln sollen,
nicht verbindlich als Ausbildungsbestandteil vorgesehen. Darüber hinaus gibt
es aus Mangel an Vorreitern und Angst vor wirtschaftlichen Verlusten zum Teil
große Berührungsängste mit dem Thema Design für Alle. Bisher ist lediglich in
der Forschung ein Interesse für dieses wichtige Thema zu erkennen – wenn
auch leider nur bei einigen Leuchtturmprojekten. Erfolgreiche Forschungs-
projekte, wie am Lehrstuhl für Industrial Design der Technischen Universität
München oder dem Fraunhofer-inHaus-Zentrum, verdienten eine breitere
Wahrnehmung.

Offensive für Technologien und Design für Alle

Eine breitere Anwendung von Technologien aber auch Designs für Alle erfor-
dert eine Offensive und Förderung von staatlicher Seite. Hier sind besonders
die Förderung von Forschung und Entwicklung sowie der Erfahrungsaustausch
wichtige Ansatzpunkte. Im Mittelpunkt steht dabei ein umfassendes Verständ-
nis von Barrierefreiheit als Voraussetzung für volle Teilhabe von Menschen mit
Behinderung. Barrieren, die der vollen gesellschaftlichen Teilhabe insbesondere

bei Bildung und Arbeit im Wege stehen, müssen abgebaut werden. Die Über-
windung von Ausgrenzung und gesellschaftlicher Spaltung als Folge mangeln-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/13085

der Barrierefreiheit bleibt trotz erheblicher Anstrengungen in den vergangenen
Jahren eine große Herausforderung. Technologien für Alle und Design für Alle
können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, Rahmenbedingungen für
volle Teilhabe bereitzustellen. Eine erfolgreiche Offensive für Forschung und
Entwicklung zur Bereitstellung von Technologien und Design für Alle muss
sich daher an folgenden fünf Eckpunkten orientieren:

1. Die Erforschung und Entwicklung von Technologien und Designs für Alle ist
für die Umsetzung der UN-BRK von elementarer Bedeutung. Zudem sollten
sie auch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels intensiviert
werden. Jede und jeder hat ein Recht auf politische, kulturelle und mediale
Teilhabe, auf ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden, auf
persönliche Mobilität sowohl im Nahverkehr als auch im Tourismus, auf Zu-
gang zu Arbeit durch Barrierefreiheit, auf barrierefreie Kommunikation, auf
sportliche Aktivität und Wettkämpfe. Technologien und Designs für Alle
ermöglichen und erleichtern die Teilhabe in sämtlichen Lebensbereichen. Aus
diesem Grund und vor diesem Hintergrund ist in Deutschland eine Offensive
für Forschung und Entwicklung von Technologien und Design für Alle not-
wendig, die den Zugang zu den Prinzipien des Designs für Alle erweitert und
mehr Nutzungsmöglichkeiten entwickelt.

2. Für eine breite Umsetzung von Design für Alle ist es notwendig, Vorgaben
und Leitlinien zur Anwendung und zur Begründung zu erarbeiten, die über
den bisherigen Standard und Regelungskreis des Behindertengleichstellungs-
gesetzes hinausgehen. Dabei geht es nicht darum, gesetzliche Hürden zu
schaffen, sondern Anreize und Hilfestellungen für die Umsetzung von Neu-
und Umbauten, die Entwicklung von Produkten und deren Handhabung zu
setzen, die Design für Alle aufnehmen und somit Produkte entwickelt werden,
die für mehr Menschen nutzbar sind.

3. Der Themenkomplex Technologien und Design für Alle sollte zu einem festen
Bestandteil in den Ausbildungen relevanter Disziplinen wie Sozialwissen-
schaften, Design, Ingenieurswissenschaften, Informationstechnik, Raum-
und Städteplanung, Produktentwicklung, Marketing und Vertrieb werden.
Zudem gilt es, durch Weiterbildungen, Schulungen und Projekte diejenigen
Personen zu qualifizieren, die bereits jetzt in den entsprechenden Bereichen
arbeiten. Auf diesem Weg werden in Forschung, Produktentwicklung und
Fertigung Tätige zu wesentlichen Akteuren der Umsetzung von Design für
Alle. Bisher sind Technologien und Design für Alle insbesondere in den ge-
nannten Fachgruppen noch weitgehend eine Randerscheinung.

4. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Teilhabe an Bildung, Ausbildung
und Arbeitswelt gelegt. Hier können Technologien für Alle, insbesondere
Informations- und Kommunikationstechnologien, eine entscheidende Unter-
stützung sein. Dazu gilt es, das sozialpolitische Instrumentarium auf seine
Wirksamkeit bei der Bereitstellung dieser Technologien, die individuell an-
gepasst werden müssen, zu überprüfen.

5. Ein besonders wichtiges Prinzip ist die Einbindung von Menschen mit
Behinderung als Expertinnen und Experten in eigener Sache. Das bezieht sich
auf alle Bereiche der Verwendung und Entwicklung von Technologien und
Design für Alle und schließt somit auch die Schwerpunktsetzung in Vorhaben
von Forschung und Entwicklung ein. Dem Grundsatz der internationalen
Behindertenbewegung „Nichts über uns, ohne uns“ wird so Rechnung getra-
gen.

Drucksache 17/13085 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine nationale Strategie zur Forschung und Entwicklung von Technologien
und Designs für Alle unter aktiver Einbeziehung von Personengruppen, die
in besonderer Art und Weise von Technologien und Designs für Alle profi-
tieren könnten, zu beschließen und in einen Nationalen Aktionsplan mün-
den zu lassen, der Bestandteil eines neuen und nachhaltigen Nationalen
Aktionsplans zur Umsetzung der UN-BRK sein kann;

2. eine gezielte Förderung und Intensivierung der Forschung an Technologien
und Designs für Alle durch

a) die Einrichtung einer öffentlich geförderten Agentur zur Forschung an
Technologien und Designs für Alle, die bestehende Forschungsansätze
zusammenführt, Initiativen bündelt und mit den bestehenden Akteuren
sinnvoll weiterentwickelt,

b) Förderung von bestehenden Strukturen in der Forschung für Techno-
logien und Design für Alle sowie

c) die Etablierung einer eigenen Förderlinie Technologie für Alle sowie
Design für Alle;

3. praxisnahe Forschung und Technologietransfer zu erleichtern, indem ent-
sprechenden Forschungszentren die Anbindung an Einrichtungen von
Rehabilitation und Pflege erleichtert und organisatorisch wie finanziell un-
terstützt wird;

4. sich für umfassende Barrierefreiheit im Internet einzusetzen, in dem in
einem ersten Schritt die Verpflichtung der Verordnung zur Schaffung barrie-
refreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz
(BITV 2.0) in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen auf weitere
behördliche Internetseiten ausgeweitet wird und in einem zweiten Schritt
Leitlinien und Anreize zu entwickeln, damit möglichst viele Internetseiten
dieser Verordnung entsprechen;

5. die Implementierung des Konzepts Design für Alle als Querschnittsaufgabe
in allen Bundesministerien voranzutreiben und dem Deutschen Bundestag
darüber zu berichten;

6. in Zusammenarbeit mit den Ländern auf die Berufsverbände und Hoch-
schulen zuzugehen, um das Konzept Technologie und Design für Alle in
der Ausbildung sämtlicher relevanter Berufsfelder zu verankern;

7. die Fortentwicklung der für Technologien und Designs für Alle einschlägi-
gen DIN-Normen zu unterstützen;

8. die Verfügbarkeit und Nutzung von Gütern, Dienstleistungen, Geräten und
Einrichtungen entsprechend des Konzepts Design für Alle etwa durch die
Schaffung gezielter Anreize sowie im Rahmen des Beschaffungswesens zu
fördern;

9. für eine breite Umsetzung des Konzepts Design für Alle an der Erarbeitung
gemeinsamer Leitlinien und Vorgaben zur Anwendung des Konzepts mit-
zuwirken und diese zu initiieren;

10. mit einer steuerlichen Forschungsförderung für kleine und mittlere Unter-
nehmen auch Anreize zu schaffen, selbst in Forschung und Entwicklung
von Produkten im Design für Alle zu investieren;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/13085

11. bei der Europäischen Kommission und im Europäischen Rat darauf hinzu-
wirken, dass die Förderung von Technologien und Design für Alle als not-
wendige Instrumente zur Förderung von Teilhabe in allen Lebensbereichen
verstärkt wird und der gegenseitige Austausch über laufende und geplante
nationale Forschungsvorhaben etwa über Plattformen und Netzwerke stärker
unterstützt wird.

Berlin, den 16. April 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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