BT-Drucksache 17/12695

Bienen und andere Insekten vor Neonicotinoiden schützen

Vom 13. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12695
17. Wahlperiode 13. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, Friedrich
Ostendorff, Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
Oliver Krischer, Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Hermann E. Ott, Dorothea Steiner,
Markus Tressel, Daniela Wagner, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bienen und andere Insekten vor Neonicotinoiden schützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat am 16. Januar
2013 in einem Gutachten offiziell vor hohen akuten und chronischen Risiken für
Bienen und andere Bestäuber durch Pestizide mit den drei Wirkstoffen Clothia-
nidin, Imidacloprid und Thiamethoxam (aus der Gruppe der Neonicotinoide)
gewarnt. Für alle drei Pestizide erachtet die EFSA nur eine Verwendung bei
Kulturpflanzen als „akzeptabel“, die nicht attraktiv für Bienen sind. Die EFSA
hat in ihrem Gutachten erhebliche Schwächen des bisherigen Zulassungsverfah-
rens bzw. der Standards zur Risikobewertung identifiziert und erhebliche Daten-
lücken bzw. Forschungsbedarf insbesondere bezüglich subletaler Auswirkungen
durch Neonicotinoide festgestellt. Zwei weitere aktuelle Überblickstudien des
Europäischen Parlaments und der Europäischen Umweltagentur haben ähnliche
Risiken für Bienen durch Neonicotinoide aufgezeigt.

Auf der Basis des Gutachtens der EFSA hat die Europäische Kommission am
31. Januar 2013 vorgeschlagen, die Anwendung (als Beizung, Granulat und
Spritzmittel) der oben genannten drei Wirkstoffe bei Sonnenblumen, Mais, Raps
und Baumwolle für zwei Jahre zu verbieten. Außerdem sieht der Kommissions-
vorschlag ein Verkaufsverbot von Präparaten mit den genannten Wirkstoffen für
nicht gewerbliche Zwecke vor.

In Deutschland existieren bezüglich des Einsatzes von Neonicotinoiden ledig-
lich Verbote der Saatgutbeizung bei Mais bzw. Getreide sowie besondere An-
wendungs- und Ausbringungsvorschriften (u. a. bei Raps). Vor dem Hintergrund
der von der EFSA dokumentierten Risiken reichen diese bisherigen Maßnahmen
nicht aus, um Bienen und andere Bestäuber ausreichend zu schützen. So zeigen
Erfahrungen in Österreich, Slowenien und Italien, dass trotz technischer Verbes-
serungen zur Minimierung von Staubabrieb bei gebeiztem Saatgut Bienenschä-

den bzw. akute Vergiftungsrisiken nicht auszuschließen sind.

Honigbienen sind das drittwichtigste Nutztier der Menschheit. Der ökonomi-
sche Gesamtwert allein für die Bestäubungsleistungen durch Honigbienen wird
für Europa auf 15 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Dieser Wert ist fünfmal höher
als der im Auftrag zweier Chemieunternehmen ermittelte wirtschaftliche Nutzen
der bienengefährlichen Neonicotinoide. Darin noch nicht eingerechnet sind die

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Ökosystemdienstleistungen zahlreicher Wildpflanzen, die ebenfalls Bienen und
andere Bestäuber für ihr Überleben benötigen.

Aufgrund ihrer extrem hohen Toxizität und irreversiblen Wirkung, einer langen
Persistenz und Mobilität in der Umwelt und infolge ihrer Eigenschaften als sys-
temisch wirkende Pestizide sind mit dem Einsatz von Neonicotinoiden erheblich
mehr Risiken für Bienen (Honig- und Wildbienen) sowie andere Nichtzielorga-
nismen verbunden als bei anderen Pestiziden. Dieser Umstand wurde in den Zu-
lassungsverfahren bislang aber kaum berücksichtigt.

Die Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzen-
schutzmitteln schreibt vor, dass Pestizide nur dann zugelassen sein dürfen, wenn
sie keinerlei inakzeptablen Auswirkungen auf die Umwelt und damit auch auf
Bienen haben. Angesichts des aktuellen Standes wissenschaftlicher Erkennt-
nisse über Gefährdungen von Bienen durch Neonicotinoide und der Vielzahl an
deutlichen Hinweise auf Zusammenhänge zwischen dem Einsatz von Neonico-
tinoiden und erhöhten Bienenschäden ist diese Voraussetzung für die Saatgut-
beizung bzw. Pflanzenschutzmittel mit den Wirkstoffen Clothianidin, Imidaclo-
prid und Thiamethoxam nicht erfüllt. Die Einhaltung des Vorsorgeprinzips
erfordert sofortige Anwendungsbeschränkungen bei bienenattraktiven Kultur-
pflanzen und einen mittelfristigen Ausstiegsplan für die Anwendung von Neo-
nicotinoiden, um Risiken für Bienen weitestgehend auszuschließen.

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
unterstützt laut seiner Pressemitteilung Nr. 40 vom 1. Februar 2013 „das Vor-
haben der Europäischen Kommission, den Schutz der Bienen im Zusammen-
hang mit der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu verstärken“.

Diesem Bekenntnis muss die Bundesregierung nun konsequent Taten folgen las-
sen, indem sie bei den anderen Mitgliedstaaten offensiv und uneingeschränkt für
den Kommissionsvorschlag wirbt und sich dementsprechend auch bei der vor-
aussichtlichen Abstimmung in Brüssel über den Kommissionsvorschlag am
14. März 2013 verhält.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Sinne der Pestizidverordnung (EG) Nr. 1107/2009 und des Vorsorgeprin-
zips dem Vorschlag der Europäischen Kommission hinsichtlich Anwen-
dungsbeschränkungen für die bienengefährlichen Pestizide Clothianidin,
Imidacloprid und Thiamethoxam bei bienenattraktiven Kulturen zuzustim-
men und bei den anderen Mitgliedstaaten offensiv für eine Zustimmung zu
werben;

2. auf Bundesebene mittels Anweisung an das Bundesamt für Verbraucher-
schutz und Lebensmittelsicherheit sicherzustellen, dass keine befristeten Aus-
nahmezulassungen für Pflanzenschutz- bzw. Beizmittel auf Neonicotinoid-
basis (wie beispielsweise gegen Drahtwürmer) bei bienenattraktiven Kul-
turen mehr erteilt werden;

3. umgehend die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf Basis von Neonico-
tinoiden für die Nutzung durch Laien ohne Sachkunde vollständig zu been-
den, um ökologische und gesundheitliche Risiken durch Anwendungsfehler
wie Überdosierungen zu verhindern;

4. sich angesichts Deutschlands Verantwortung als Berichterstatter in der EU im
Zulassungsverfahren für Pestizide bezüglich Clothianidin (Überprüfung der
Genehmigung) und Imidacloprid (Erstbewertung in Rahmen der EU-Wirk-
stoffprüfung) für eine schnelle und umfassende Revision der bisherigen Zu-
lassungen aller Neonicotinoide einzusetzen;

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5. sich für eine umfassende Änderung der Risikobewertungs- und Zulassungs-
verfahren für Pflanzenschutzmittel einzusetzen, um eine von Herstellern
unabhängige Risikobewertung sicherzustellen und den vielfältigen akuten
sowie subletalen Wirkungen und Expositionswegen systemischer Pestizid-
wirkstoffe Rechnung zu tragen;

6. die Aktivitäten zur besseren Erforschung wissenschaftlich bislang noch weit-
gehend ungeklärter ökologischer Risiken und Gefahren durch Neonicotino-
ide bzw. durch deren Anwendung bei weniger bienenattraktiven landwirt-
schaftlichen Kulturen durch eine Umschichtung von Mitteln und Kapazitäten
der öffentlichen Forschung im Verantwortungsbereich des Bundes (soweit
wie möglich) zu verstärken bzw. entsprechende Aktivitäten auf Ebene der
Länder anzuregen; dabei muss zur Wahrung der Unabhängigkeit und Vermei-
dung von Interessenkonflikten eine finanzielle oder personelle Beteiligung
von Pestizidherstellern oder mit ihnen verbundenen Institutionen ausge-
schlossen sein;

7. angesichts der Tatsache, dass auch nach Realisierung der Anwendungsbe-
schränkungen für Neonicotinoide noch (teilweise ungeklärte) Risiken für
Bienen und andere Bestäuberinsekten bestehen bleiben sowie im Sinne des
Vorsorgeprinzips in Zusammenarbeit mit den Bundesländern ein umfassen-
des Konzept zu entwickeln, wie ein schrittweiser Komplettausstieg aus der
Anwendung der Neonicotinoide ohne wesentliche Ertragseinbußen oder
neue ökologische Problematiken realisiert werden kann, wie es auch der
Agrarausschuss des Europäischen Parlaments gefordert hat.

Berlin, den 13. März 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Neonicotinoide sind eine Gruppe neurotoxischer Pestizide, die erst seit ca. 20 Jah-
ren in Deutschland eingesetzt werden. Insbesondere werden sie zur Vorbehand-
lung (Beizung) von Saatgut gegen Schädlinge eingesetzt, da Neonicotinoide als
systemisch wirkende Pflanzenschutzmittel von den Pflanzen aufgenommen, in
alle ihre Teile bis hin zur Blüte verteilt und über längere Zeit gespeichert werden.
Im Unterschied zu vielen anderen Pestiziden ist die toxische Wirkung auf
Bienen höher bei oraler Aufnahme als bei direktem Kontakt. Aufgrund dieser
Eigenschaft, der extrem hohen Toxizität im Vergleich zu älteren Wirkstoffen und
einer teilweise sehr langen Persistenz und Mobilität in Pflanzen, Böden,
Gewässern und der Umwelt sind mit dem Einsatz von Neonicotinoiden erheb-
lich mehr Risiken für Bienen und andere Nichtzielorganismen verbunden als bei
anderen Pestiziden.

Bienen und andere wildlebende Bestäuberinsekten nehmen die Wirkstoffe nicht
nur über Nektar und Pollen auf, sondern sind den Giften über eine Reihe weite-
rer Expositionswege ausgesetzt. Neben einem direkten Kontakt mit dem Pesti-
zid während des Sprühens zählen dazu der Staubabrieb des Beizmantels, Gutta-
tionstropfen (Schwitzwasser) der behandelten Pflanzen sowie Regenwasser mit
Wirkstoffauswaschungen aus dem Beizmantel oder Granulat. Über eingetrage-
nen Pollen und Nektar gelangen die Bienengifte zudem in den Bienenstock und
wirken damit auch auf Bienenbrut und Königin. Es ist anzunehmen, dass Wild-

bienen (insbesondere Solitärbienen) und andere Bestäuber aufgrund ihrer
Lebensweise (u. a. der Teilnahme der Königin an der Futtersuche und dem Nest-

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bau aus potentiell belasteten Naturmaterialien) noch stärker gefährdet sind.
Dennoch existieren nur wenige Studien, die Risiken für Wildbienenarten und
andere Insekten durch Neonicotinoide untersuchen. Eine internationale For-
schergruppe unter Beteiligung der Universität Würzburg hat in einer aktuellen
Studie die enorme Bedeutung dieser Wildbestäuber für eine optimale Bestäu-
bung von Kulturpflanzen belegt.

Neonicotinoide können im Boden bis zu mehrere Jahre verbleiben und dadurch
auch mit erheblicher Zeitverzögerung von unbehandelten Wild- oder Kultur-
pflanzen aufgenommen werden, was besonders bei bienenattraktiven Arten wie
beispielsweise Löwenzahn zu einer zusätzlichen, unkontrollierten Exposition
führt. Unter bestimmten Bodenverhältnissen beträgt die Halbwertzeit von
Clothianidin bis zu 1 155 Tage, bei Imidacloprid bis zu 997 Tage. In Italien
wurden Rückstände in den Folgesaaten bis zu zwei Jahre nach der Behandlung
nachgewiesen. In holzigen Pflanzen wurden Wirkstoffrückstande noch sechs
Jahre nach der Anwendung gefunden; zudem gibt es Hinweise auf eine An-
reicherung des Wirkstoffes in Gehölzen (beispielsweise Rhododendron). Hinzu
kommt, dass auch einige der Abbauprodukte der Neonicotinoide gleich oder
sogar höher toxisch auf Bienen wirken als die ursprünglichen Wirkstoffe selbst.
So ist Clothianidin ein primärer Metabolit von Thiamethoxam.

Die Wirkstoffe Clothianidin und Imidacloprid wirken mindestens um ein Tau-
sendfaches toxischer auf Bienen als DDT (einige Quellen geben für Imidaclo-
prid sogar den Faktor 7 000 und für Thiamethoxam den Faktor 5 400 an). Eine
Reihe subletaler Schädigungen (unterhalb einer akut tödlichen Dosis) von
Bienen durch Neonicotinoide wurde durch eine Vielzahl wissenschaftlicher
Studien dokumentiert. Auswirkungen auf die Gesundheit von Bienen treten
schon bei extrem niedrigen Konzentrationen von 0,1 Nanogramm pro Biene auf.
Zu den belegten Effekten zählen die Beeinträchtigung der Motorik, der Lern-
und Gedächtnisleistung, des Kommunikations- und Orientierungsvermögens
sowie eine Verschlechterung des Geruchssinns der Bienen. Beeinträchtigungen
des Orientierungsvermögens können dazu führen, dass ein erheblicher Teil der
Bienen nicht zum Stock zurückfindet und verendet. Die genannten Effekte
führen in der Folge zu einer deutlichen Abnahme der Sammelleistung, des Brut-
erfolgs und der Honigproduktion sowie einer verlangsamten Entwicklung von
Arbeiterinnen. Bei Hummeln wurde neben einem deutlich schlechteren Brut-
erfolg auch eine drastisch reduzierte Zahl von Königinnen festgestellt. Sind
viele Bienen eines Volkes über einige Wochen oder länger von den Symptomen
betroffen, kann dies den Zusammenbruch der Kolonie bewirken.

Die für Bienen hohe Toxizität von Neonicotinoiden kann sich im Zusammenwir-
ken mit anderen Pflanzenschutzmitteln noch deutlich erhöhen. Eine Studie des
Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) aus dem Jahr 2010 geht
beim Zusammenwirken mit Fungiziden von einer Steigerung der Giftwirkung
der Neonicotinoide um den Faktor 1 000 aus. Eine aktuelle Studie der Newcastle
University (Februar 2013) hat ebenfalls belegt, dass Kombinationen verschiede-
ner Pestizide eine Verstärkung subletaler Effekte auf Bienen bewirken.

Weitere Studien weisen darauf hin, dass Neonicotinoide die Widerstandsfähig-
keit der Bienen gegen Parasiten wie die Varroamilbe und den Einzellerpilz
Nosema sowie gegenüber Krankheiten verringern. Da infolge der Verdrängung
von blühenden Futterpflanzen durch blütenarme Monokulturen bereits Bienen-
völker in vielen Regionen Deutschlands durch einseitige und unzureichende
Nahrungsversorgung sowie durch den Varroabefall geschwächt sind, verstärkt
jeder weitere Belastungsfaktor die Wahrscheinlichkeit erheblicher Bienenschä-
den. Auch aus diesem Grund muss der verzichtbare Einsatz von Neonicotinoiden
durch Laien in Privatgärten mittels eines Handelsverbotes für diesen Bereich
unterbunden werden, um wahrscheinliche Anwendungsfehler wie Überdosierung

oder Missachtung der Anwendungsvorschriften mit der Gefahr erheblicher
Schädigungen von Nichtzielorganismen auszuschließen.

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Viele Fachleute und Imkervertreter führen die teilweise sehr hohen Bienenvöl-
kerverluste in den letzten Jahren auch auf Neonicotinoide zurück. Bereits Daten
der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus dem
Jahr 2008 zeigen eine starke Korrelation zwischen Ländern mit einem sehr
hohen Pestizidverbrauch und Ländern mit hohen Bienenverlusten. Eine aktuelle
Studie führt erhebliche Unterschiede bei Bienenvölkerverlusten zwischen dem
landwirtschaftlich extensiv genutzten Westen Schottlands mit dem deutlich in-
tensiver bewirtschafteten Osten des Landes ebenfalls auf den unterschiedlichen
Grad der Pestizidanwendung zurück. In einer Studie der Harvard University (Lu
et al., Juni 2012) wurde bei Bienenvölkern nach der Fütterung mit Maissirup, der
verschiedene (entsprechend der landwirtschaftlichen Praxis feldrealistische)
Dosen Imidacloprid enthielt, die Flucht eines Großteils der Arbeiterinnen aus
dem Stock im Winter festgestellt, wie sie auch beim in den USA besonders ver-
breiteten CCD-Syndrom (CCD: colony collapse disorder) auftritt. Kongruent
mit diesen Beobachtungen ist die Tatsache, dass Anwendungsbeschränkungen
für bestimmte Neonicotinoide in Italien und Frankreich zu einer deutlichen Ver-
ringerung der Verluste bei Bienenvölkern geführt haben. Ein einseitiger Fokus
auf die Varroamilbe als angebliche Hauptursache von Bienenvölkerverlusten,
wie er von Pestizidherstellern, der Bundesregierung und Teilen der Bienenfor-
schungsinstitute betrieben wird, ist fachlich nicht haltbar. Die Varroamilbe
wurde bereits viele Jahre vor der ersten Häufung der Völkerverluste in Europa
Mitte der 90er-Jahre eingeschleppt und erklärt nicht, warum es auch unter gut
gepflegten und vorbildlich gegen die Varroose behandelten Völkern zu hohen
Winterverlusten kommt.

Das EFSA-Gutachten vom Januar 2013 hat, in Übereinstimmung mit Experten
von Umwelt- und Imkerverbänden, erhebliche Schwächen des bisherigen Risiko-
bewertungs- und Zulassungsverfahrens festgestellt. Der Agrarausschuss des
Europäischen Parlaments hat ebenfalls Verbesserungen bei der Risikobewertung
angemahnt. Bisherige europäische und nationale Regelungen für die Toxizitäts-
bewertung von Pestiziden beruhen auf der Annahme, dass es eine Wirkungs-
schwelle bzw. Dosis gibt, unterhalb derer keine Schädigungen feststellbar sind
und daher keine Wirkung mehr auftritt. Im fundamentalen Unterschied zu ande-
ren Pflanzenschutzmitteln ist (laut den Forschungen des niederländischen Toxi-
kologen Dr. Henk Tennekes) die Wirkung von Neonicotinoiden irreversibel, da
spezifische Rezeptoren des Nervensystems der Insekten dauerhaft blockiert
werden. Da sich die Wirkung von Neonicotinoiden auf diese Weise akkumuliert,
führen bei einer Exposition über längere Zeit auch sehr geringe Dosen zu einer
chronischen und letztlich tödlichen Vergiftung. Bei jahrelanger flächendecken-
der Anwendung dieser Pestizide ist daher das Verschwinden von großen Insek-
tenpopulationen zu befürchten, mit katastrophalen Folgen für die Arten der Nah-
rungskette, die auf Insekten angewiesen sind. Besorgniserregende Daten aus den
Niederlanden weisen darauf hin, dass in Gebieten mit sehr hohen Gewässerbe-
lastungen durch Neonicotinoide auch die höchsten Bestandsverluste bei Wiesen-
vögeln zu verzeichnen sind. Insbesondere die Arten, die sich ausschließlich oder
vorwiegend von Insekten ernähren, weisen in den Niederlanden die größten Be-
standsrückgänge auf.

Die genannten Fakten machen deutlich, dass bisherige Risikobewertungsvorga-
ben und Zulassungsverfahren für Pestizide die vielfältigen spezifischen Risiken
von systemischen Pestiziden wie Neonicotinoiden nicht oder allenfalls völlig
unzureichend berücksichtigen. Im Gegensatz zu den akuten Wirkungen der
Gifte wurden die Auswirkungen chronischer Belastungen auf Bienen und an-
dere Insekten bei den vorgeschriebenen Toxizitätstests mit einer Dauer von we-
nigen Tagen nicht erfasst. Die zahlreich dokumentierten subletalen Wirkungen
durch Neonicotinoide auf Bienen bzw. den Superorganismus Bienenvolk zeigen

die Notwendigkeit sowohl von deutlich längerfristigen Untersuchungszeiträu-
men und größeren Testgruppen als auch von einer umfassenden Überprüfung

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vieler weiterer Risikobereiche wie verschiedene Expositionswege, Beeinträch-
tigungen durch subletale Effekte, Guttationswasser und Kombinationseffekte
mit anderen Pestiziden oder Parasiten.

Nach Erkenntnissen des Pestizidaktionsnetzwerkes PAN Europe wurde auf die
Gestaltung der Regelungen und Anforderungen bezüglich des EU-Zulassungs-
verfahrens für Pflanzenschutzmittel erheblicher Einfluss durch Vertreterinnen
und Vertreter von Lobbyorganisationen der Pestizidindustrie ausgeübt. Die im
Rahmen der Risikobewertung vorgelegten Studien stammen großenteils von den
Antragstellern (also den Pestizidherstellern) selber. Auch in den zuständigen
nationalen und europäischen Expertenkommissionen bzw. -panels beim Bundes-
institut für Risikobewertung (BfR) und der EFSA sind zwar Vertreterinnen und
Vertreter der Pestizidhersteller direkt oder indirekt in die Risikobewertung der
von ihnen selbst produzierten Wirkstoffe eingebunden, nicht aber Vertreterinnen
und Vertreter von Umwelt- oder Naturschutzorganisationen. Diese systemim-
manente Einseitigkeit der Risikobewertung erfordert eine umgehende und
grundlegende Revision aller Zulassungsentscheidungen und eine Verschärfung
der Zulassungsanforderungen entsprechend dem aktuellen wissenschaftlichen
Kenntnisstand.

Die faktische Dauerbehandlung von Kulturpflanzen durch systemische Pesti-
zide steht im Widerspruch zum Grundsatz des integrierten Pflanzenschutzes,
wonach präventiven und nicht chemischen Pflanzenschutzmaßnahmen Vorrang
eingeräumt wird und chemische Pestizide nur abhängig von der Erreichung kon-
kreter Schadensschwellen angewendet werden. Neben ökologischen Vorteilen
vermeidet dieser Ansatz auch die Resistenzbildung bei Schädlingen, wie sie ins-
besondere bei dem meist verwendeten Neonicotinoid Imidacloprid bereits in
mehreren Länder dokumentiert ist.

Monitorings durch das italienische Forschungsprogramm APENET haben ge-
zeigt, dass der Verzicht auf eine Maissaatgutbeizung mit Neonicotinoiden nicht
zwangsläufig mit Ertragseinbußen verbunden sein muss. Nur 3 Prozent der Ver-
suchsfelder wiesen Schäden auf, die aber keinen Einfluss auf die Ernteergeb-
nisse hatten. Diese sehr erfolgreiche Begrenzung des Schädlingsbefalls wurde
durch Fruchtwechsel erreicht. Auch in Frankreich konnte bei der Maisproduk-
tion kein statistischer Zusammenhang zwischen Beschränkungen der Neonico-
tinoidanwendung und Erntemengen festgestellt werden. Ebenso wenig ist in
Großbritannien der Ertrag bei Raps mit der Einführung der Neonicotinoide ge-
stiegen.

Da auch von anderen Pflanzenschutzmittelgruppen Risiken für Bienen und an-
dere Nichtzielorganismen ausgehen, müssen im Sinne des Vorsorgeprinzips ein
übergeordneter Pestizidreduktionsplan mit festen Teilschritten erarbeitet und
parallel alternative und präventive Pflanzenschutzsysteme entwickelt werden,
um langfristig eine drastische Verringerung der Pestizidbelastung von Umwelt
und Lebensmitteln zu erreichen.

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