BT-Drucksache 17/12692

Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/1989 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord - Humanitäre Hilfe für die Opfer

Vom 13. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12692
17. Wahlperiode 13. 03. 2013

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine
Buchholz, Heidrun Dittrich, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Anerkennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/1989 und des Giftgasangriffs
auf Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord – Humanitäre Hilfe für die Opfer

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag bewertet die so genannten Anfal-Offensiven des
irakischen Militärs 1988/1989 im Zusammenhang mit der Bombardierung der
kurdischen Stadt Halabja durch irakische Kampfflugzeuge am 16. März 1988
und den dabei erfolgten Einsatz von chemischen Waffen gegen die Bevölkerung
als Völkermord im Sinne der UN-Konvention zur Bestrafung und Verhütung
von Völkermord. Er begrüßt die bisher erfolgte parlamentarische Anerkennung
dieser Verbrechen als Völkermord durch das irakische, schwedische und
britische Parlament und setzt sich selbst für eine weitere Anerkennung auf
internationaler Ebene ein. Er drückt allen Opfern und ihren Angehörigen, die bis
heute unter den Folgen der Angriffe leiden, sein Mitgefühl aus. Er äußert seine
besondere Scham darüber, dass das Chemiewaffen-Arsenal der damaligen
irakischen Regierung unter Saddam Hussein auch mit Hilfe deutscher Firmen
aufgebaut werden konnte. Er erhofft sich von der Neubewertung der Vergehen
als Beihilfe zum Völkermord eine erneute Aufnahme von Ermittlungsverfahren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich für eine Anerkennung der so genannten Anfal-Offensiven und des Gift-
gasangriffs auf Halabja als Völkermord im Sinne der UN-Konvention zur Be-
strafung und Verhütung von Völkermord einzusetzen;

2. angesichts der Mitverantwortung deutscher Firmen und indirekt auch der
damaligen Bundesregierungen Entschädigungen und humanitäre Hilfe für
die Überlebenden und die Angehörigen der Giftgasopfer zu leisten und finan-
zielle Mittel für zivilgesellschaftliche Initiativen zur medizinischen und
psychologischen Nachsorge der Opfer und ihrer Angehörigen bzw. Entwick-
lungsmaßnahmen in Halabja und den von den Anfal-Operationen besonders
betroffenen Gebieten zur Verfügung zu stellen;
3. den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Deutschland mit der Unterzeich-
nung der UN-Konvention zur Bestrafung und Verhütung von Völkermord
eingegangen ist, nachzukommen und zu prüfen, inwieweit gegenüber deut-
schen Staatsbürgern, die das Chemiewaffenprogramm der irakischen Re-
gierung mit der Lieferung von Know-how, Fabriken, Labors, Bestandteilen

Drucksache 17/12692 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

oder Substanzen erst ermöglichten, rechtliche Schritte wegen Beihilfe zum
Völkermord eingeleitet werden können.

Berlin, den 13. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Am 16. März 1988 um 11 Uhr vormittags warfen irakische Flugzeuge im Tief-
flug 100-Liter-Bomben mit Senfgas und anderen chemischen Kampfstoffen
über der irakisch-kurdischen Kleinstadt Halabja ab. Angeblich galt der Angriff
kurdischen Peshmerga-Kämpfern und von ihnen in die Stadt geführten irani-
schen Soldaten. Doch zum Zeitpunkt des Angriffs war nur noch die Zivilbevöl-
kerung in der Stadt. Mindestens 5 000 der 40 000 Einwohnerinnen und Einwoh-
ner von Halabja starben an diesem Tag, weitere 10 000 wurden lebensgefährlich
verletzt, viele starben später an den Folgen des Giftes. Im Rahmen der Anfal ge-
nannten Militäroffensiven gegen kurdische Autonomiebestrebungen im Nord-
irak, bei denen im Jahr 1988/1989 nach kurdischen Angaben 90 Prozent aller
kurdischen Dörfer im Irak zerstört und bis zu 180 000 Menschen ermordet oder
verschleppt wurden, kam in mindestens 42 Fällen Giftgas zum Einsatz. Das Ge-
biet um Halabja gehört heute zu den ärmsten Teilen der kurdischen Autonomie-
region, in vielen Dörfern fehlt es an elementarer Infrastruktur, es gibt kein sau-
beres Wasser und nur unzureichende Gesundheitsversorgung. Krebs-, Haut- und
Atemwegserkrankungen gehören bis heute zu den Folgen des Giftgaseinsatzes.
Viele Überlebende „leiden noch heute unter physischen und psychischen Spät-
folgen dieser von irakischen Regierungstruppen durchgeführten Verbrechen“,
bestätigt auch die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. im März 2010. „Ein Großteil der von den Giftgasangriffen von Halabja
unmittelbar betroffenen Personen hat dauerhafte Gesundheitsschäden erlitten,
wie Hautkrankheiten und Nervenlähmungen“ (Entschädigung der Opfer des
Giftgas-Massakers von Halabja 1988; Bundestagsdrucksache 17/1022).

Der Angriff auf Halabja und die Anfal-Operationen stellen nach Ansicht von
Human Rights Watch und des UN-Sonderberichterstatters für den Irak einen
Völkermord im Sinne der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung von
Völkermord“ nach der Resolution 260 der UN-Vollversammlung vom 9. De-
zember 1948 dar. International wurden der Giftgasangriff auf Halabja und die
Anfal-Operationen bereits am 17. März 2011 durch das irakische Parlament, am
5. Dezember 2012 durch das schwedische Parlament und zuletzt am 28. Februar
2013 durch das britische Parlament als Völkermord anerkannt. Mit einer ent-
sprechenden Anerkennung des – schon für sich genommen als Verbrechen ge-
gen die Menschlichkeit zu wertenden – Giftgas-Angriffs auf Halabja im Zusam-
menhang mit den Anfal-Operationen als Völkermord kann sich der Deutsche
Bundestag offen zur deutschen Mitschuld an diesem Verbrechen bekennen und
die Opfer und ihre Hinterbliebenen ehrlich um Entschuldigung bitten. Durch
eine internationale Anerkennung des Völkermords würden die Opfer und ihre
Hinterbliebenen eine späte, aber umso dringlichere moralische Kompensation
erhalten und zugleich die Möglichkeiten für verbindliche finanzielle Entschä-
digungen verbessern.

Ermöglicht wurde die irakische Giftgasproduktion erst mit Hilfe von Firmen aus
den USA, der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Frankreich, China,

Singapur, den Niederlanden, Ägypten und Indien. Rund 60 Unternehmen aus der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12692

Bundesrepublik Deutschland, darunter Preussag, W.E.T., Karl Kolb und Pilot
Plant, lieferten dabei etwa 70 Prozent der Produktionsanlagen für die Kampf-
stoffe (siehe z. B. Süddeutsche Zeitung, 26. November 1997). Seit 1984 war die
Bundesregierung durch die USA und den Bundesnachrichtendienst über die
Rolle deutscher Firmen beim Bau der irakischen Giftgaslabore informiert. Den-
noch erlaubte die Bundesregierung diese Exporte. Nach Angaben der Bundes-
regierung wurde gegen 22 Beschuldigte aus zehn deutschen Unternehmen we-
gen Verstößen gegen das Außenwirtschafts- bzw. Kriegswaffenkontrollgesetz
ermittelt. Nach jahrelangen Verfahren vor dem Landgericht Darmstadt endeten
die Prozesse 1994 bzw. 1996 mit der Verhängung von drei Bewährungsstrafen
sowie Einstellungen und Freisprüchen. Behauptungen von Angeklagten, sie
hätten gedacht, mit der von ihnen gelieferten Technologie würden Kopf-
schmerzmittel produziert, wurden dabei akzeptiert. Die Ermittlungen waren zu-
vor jahrelang, bis zum Erreichen von Verjährungsfristen, verschleppt worden
und verschärfte Strafrechtsbestimmungen griffen nicht. Ergebnisse der Unter-
suchungen der Anfal-Offensiven und Giftgaseinsätze sowie Erkenntnisse der
Sonderkommission der Vereinten Nationen (UNSCOM) fanden nicht oder nur
in selektiver Form Eingang in die Verfahren.

Laut Bundesregierung liegt die „ausschließliche Verantwortung für die Vorfälle
von Halabja bei der irakischen Regierung“ (Bundestagsdrucksache 17/1022).
Deutschland hat sich dementgegen als Unterzeichnerstaat der Konvention zur
Verhütung und Bestrafung von Völkermord verpflichtet, die Bestimmungen der
Konvention anzuwenden und „insbesondere wirksame Strafen für Personen vor-
zusehen, die sich des Völkermords schuldig machen“ (Artikel V). Die beteilig-
ten deutschen Unternehmen und Staatsbürger, die sich auch vom Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland aus am Völkermord 1988 mitschuldig gemacht
haben, müssen für diese Vergehen daher vor deutschen Gerichten – endlich – zur
Verantwortung gezogen werden.

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