BT-Drucksache 17/12435

Wohnungslose Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Vom 20. Februar 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12435
17. Wahlperiode 20. 02. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Michael Groß, Josip Juratovic, Dietmar Nietan, Sören Bartol,
Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Ulrike Gottschalck,
Kerstin Griese, Hans-Joachim Hacker, Gustav Herzog, Johannes Kahrs,
Ute Kumpf, Kirsten Lühmann, Thomas Oppermann, Florian Pronold,
Mechthild Rawert, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Wohnungslose Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Zahlreiche Projekte und Dienste der kommunalen Notversorgung für woh-
nungslose Menschen berichten seit etwa drei Jahren über eine steigende Anzahl
wohnungs- und obdachloser Migranten insbesondere aus osteuropäischen Län-
dern der Europäischen Union (EU). Berichtet wird besonders oft über Menschen
aus den EU-Staaten Polen, Rumänien, Bulgarien, Lettland und Litauen. Es gibt
Hinweise, dass die Mehrheit dieser Menschen zunächst als Arbeitsmigranten
nach Deutschland gekommen sind und mit Scheitern dieses Anliegens teilweise
obdachlos geworden sind. In niedrigschwelligen Projekten der Wohnungslosen-
hilfe (z. B. Notschlafstellen) beträgt der Anteil von EU-Osteuropäern teilweise
70 Prozent und mehr.

Folgen der Obdachlosigkeit sind Konflikte und Verelendung bis hin zu Krimi-
nalität.

Sprachbarrieren lassen oftmals weiterführende praktische Hilfen und Beratun-
gen scheitern. Die EU- und Sozialrechtslage ist vielschichtig und für die Be-
troffenen oft unüberschaubar. Zuständige Sozialbehörden zeigen teilweise eine
zurückhaltende Hilfepraxis.

Das vermehrte Auftreten obdachloser Migrantinnen und Migranten erfordert
eine ausreichende Notversorgung mit Schlafangeboten, ein Angebot kostenloser
medizinischer Notbehandlung, Beratungsangebote mit spezifischen Sprach-
kompetenzen, das gezielte Angebot kostenloser Deutschkurse, mehrsprachige
Informationsmaterialien für wohnungslose Personen sowie die Vernetzung vor-
handener Hilfen in der Wohnungsnotfallhilfe, der Migrationsberatung, der
Beratung für arbeitslose Personen sowie eine funktionierende Kooperation mit
Institutionen der Herkunftsländer.

Die politische Verantwortung für die Gewährung von Sozialhilfe und Notver-
sorgungsangeboten liegt zunächst bei den Kommunen. Da es sich bei obdachlo-

sen Migrantinnen und Migranten jedoch um ein bundesweites und grenzüber-
schreitendes Phänomen handelt, müssen dessen Ursachen auch oberhalb der
kommunalen Ebene angegangen werden. Die Praxis der zuständigen Behörden
vor Ort ist in vielen Fällen von Unwissenheit, Hilflosigkeit und abweisender
Verfahrenspraxis geprägt. Kommunalpolitiker verweisen in Gesprächen immer
wieder auch auf die besondere Verantwortung des Bundes und der EU.

Drucksache 17/12435 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, dass vermehrt Menschen aus
verschiedenen EU-Mitgliedstaaten als Obdachlose in deutschen Städten in
Erscheinung treten?

Liegen der Bundesregierung hierüber aktuelle Zahlen vor (bitte nach Her-
kunftsland, Einreisezeit und Aufenthaltsort in Deutschland aufschlüsseln)?

2. Lässt sich seit dem Inkrafttreten der Niederlassungsfreiheit und der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit eine Veränderung der Anzahl von wohnungs- bzw. ob-
dachlosen Migrantinnen und Migranten feststellen, und ist die Bundesre-
gierung der Meinung, dass im Vorfeld – insbesondere bei Vollendung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit 2011 für die im Jahr 2004 der EU beigetretenen
Staaten – Vorbereitungen hätten getroffen werden müssen, um Obdachlo-
sigkeit zu verhindern?

3. Liegen der Bundesregierung Daten der Notversorgung vor, und wenn ja,
wie gliedern sich diese (bitte nach Bundesländern aufschlüsseln)?

4. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Wohnqualität
von Migrantinnen und Migranten im Vergleich zur deutschen Bevölkerung
vor?

5. a) Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung von Verelendungsent-
wicklungen hinsichtlich der Wohnsituation von Migrantinnen und Mi-
granten in Deutschland vor, bzw. sind der Bundesregierung Fälle von
Ausbeutungen durch die Vermietung so genannter Schrottimmobilien
(Immobilien, die sich in einem mangelhaften Zustand befinden und we-
gen gravierender Mängel nicht oder kaum bewohnbar sind sowie unter
dubiosen Bedingungen vermietet werden), insbesondere an Migrantin-
nen und Migranten bekannt (wenn ja, bitte nach Bundesländern auf-
schlüsseln)?

b) Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung dagegen?

6. Sieht die Bundesregierung die Gefahr einer wirtschaftlichen und sozialen
Verelendung, wenn obdachlosen Migrantinnen und Migranten keine Hilfe
gewährt wird?

7. Welche Informationen liegen der Bundesregierung darüber vor, ob einzelne
Kommunen Obdachlosen aus östlichen EU-Staaten ausschließlich mit der
Ablehnung von Hilfegesuchen und Rückführung begegnen?

8. Welche Handlungsempfehlungen und konkrete Hilfestellungen gibt die
Bundesregierung den Kommunen und den Trägern der Wohlfahrtspflege,
um dem Problem mittelloser und obdachloser Menschen aus EU-Ländern
wie Polen, Rumänien, Bulgarien, Litauen und Lettland sozialverantwort-
lich und unter Berücksichtigung der Menschenrechte und des Menschen-
würdeprinzips des deutschen Grundgesetzes zu begegnen?

9. Sieht die Bundesregierung mit Blick auf die geltenden Freizügigkeitsrege-
lungen innerhalb der EU eine Verantwortung des Bundes zum Thema der
Migrationsbewegung und den damit verbundenen Armutserscheinungen?

Falls ja, welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um dieser
Verantwortung gerecht zu werden?

10. Plant die Bundesregierung, EU-Mitgliedstaaten, die Herkunftsländer vieler
obdachloser Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind, in eine ge-
meinsame politische Verantwortung zu nehmen und eine gezielte Zusam-
menarbeit zu initiieren, um die Situation obdachloser Migrantinnen und

Migranten aus den jeweiligen Staaten zu verbessern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12435

11. Sind der Bundesregierung Bestrebungen der ungarischen Regierung be-
kannt, Obdachlosigkeit erneut unter Strafe zu stellen, nachdem das unga-
rische Verfassungsgericht im November 2012 ein entsprechendes Gesetz
verworfen hat (Presseberichte u. a. auf www.news.at vom 7. Dezember
2012), und welche Haltung nimmt die Bundesregierung dazu ein?

Wird die Bundesregierung ihre Haltung der ungarischen Regierung gegen-
über zur Sprache bringen?

12. Welche Fortschritte gibt es bei der Entwicklung einer EU-Strategie zur Be-
kämpfung der Obdachlosigkeit, wie sie das Europäische Parlament in sei-
ner Entschließung vom 14. September 2011 fordert (P7_TA(2011)0383),
und in welchem Umfang engagiert sich die Bundesregierung für die Ent-
wicklung und Umsetzung einer solchen Strategie?

13. Wie begründet die Bundesregierung das Fehlen einer nationalen Strategie
zur Bekämpfung der Obdach- und Wohnungslosigkeit, auch angesichts
dessen, dass der „Gemeinsame Bericht über Sozialschutz und soziale Ein-
gliederung 2010“ vom 15. Februar 2010, das Europäische Parlament (siehe
Entschließung vom 14. September 2011) als auch der Europäische Wirt-
schafts- und Sozialausschuss (siehe Stellungnahme vom 27. Oktober 2011)
nationale Strategien fordern und bereits neun andere EU-Staaten (Däne-
mark, Finnland, Frankreich, Irland, die Niederlande, Norwegen, Portugal,
Großbritannien und Schweden) nationale Strategien zur Bekämpfung der
Obdach- und Wohnungslosigkeit eingeführt haben?

14. a) Falls eine nationale Strategie geplant ist, wann rechnet die Bundesregie-
rung mit deren Fertigstellung?

b) Falls keine nationale Strategie geplant ist, inwieweit fördert die Bundes-
regierung Strategien oder Programme auf Länder- und Kommunalebene
bzw. den Wissensaustausch zwischen den Ländern und Kommunen zur
Bekämpfung der Obdach- und Wohnungslosigkeit?

15. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zum Vorwurf der Bundes-
arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. ein, der 4. Armuts- und
Reichtumsbericht beinhalte eine unvollständige und teilweise irreführende
Darstellung von Wohnungslosigkeit und klammere wesentliche Aspekte
der Problematik aus (Pressemitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e. V. vom 26. November 2012)?

16. Gibt es Pläne für eine nationale Erhebung der Wohnungs- und Obdachlo-
sen in Deutschland?

Wenn ja, wann und in welchem Umfang ist diese geplant?

Falls nein, warum nicht?

17. Inwieweit hat sich Deutschland an den Peer Reviews der „Offenen Me-
thode der Koordinierung“ für Sozialschutz und soziale Eingliederung zu
Maßnahmen gegen die Wohnungslosigkeit beteiligt?

Wenn nicht, warum nicht?

18. Welche Schlussfolgerungen hat die Bundesregierung aus dem „Gemein-
samen Bericht über Sozialschutz und soziale Eingliederung 2010“ vom
15. Februar 2010 in Bezug auf die Obdach- und Wohnungslosigkeit ge-
zogen?

19. Welche Schlüsse hat die Bundesregierung aus den Politikempfehlungen der
Europäischen Konsenskonferenz 2010 zum Thema Obdachlosigkeit (9. bis
10. Dezember 2010) gezogen?
Berlin, den 20. Februar 2013

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.