BT-Drucksache 17/119

Forderungen aus dem Bildungsstreik aufnehmen und die soziale Spaltung im Bildungssystem bekämpfen

Vom 2. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/119
17. Wahlperiode 02. 12. 2009

Antrag
der AbgeordnetenNicoleGohlke, AgnesAlpers, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte
und der Fraktion DIE LINKE.

Forderungen aus dem Bildungsstreik aufnehmen und die soziale Spaltung
im Bildungssystem bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Ausgehend von Studierendenprotesten inWien hat sich eine europaweite Streik-
bewegungmit Schwerpunkten in Deutschland, Österreich und Italien entwickelt.
Seit Beginn der Proteste fanden Hörsaal- und Schulbesetzungen, aber auch
öffentlichkeitswirksame Aktionen von Schülerinnen und Schülern sowie von
Studierenden statt. Am bundesweiten Aktionstag, dem 17. November 2009,
demonstrierten allein in Deutschland 90 000 Menschen für ein besseres und so-
zial gerechteres Bildungssystem. Die Forderungen der Demonstrantinnen und
Demonstranten zielten auf dieÜberwindung des gegliederten Schulsystems, eine
bessere Ausstattung von Schulen und Hochschulen und die grundlegende Über-
arbeitung des Bologna-Prozesses für einen europäischen Hochschulraum. Diese
Forderungen stießen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zumeist auf ein posi-
tives Echo. Neben Gewerkschaften und Hochschulrektoren äußerten auch die
Bundeskanzlerin und die Bildungsministerin Verständnis für die Proteste.

Das deutsche Bildungssystem reproduziert wie kaum ein anderes weltweit die
soziale Spaltung der Gesellschaft. Dies haben vergleichende Studien im interna-
tionalen Maßstab, insbesondere die regelmäßigen Vergleichsstudien der OECD,
mehrfach belegt. Dazu trägt bei, dass Deutschland im OECD-Vergleich beson-
ders wenig in Bildung investiert. Nur 4,8 Prozent der Bruttoinlandsproduktes
(BIP) wurden hierzulande 2007 eingesetzt. Die Spitzenreiter Island, USA, Süd-
korea und Dänemark investieren dagegen einen Anteil von über 7 Prozent in ihre
Bildungssysteme. Selbst der Durchschnitt aller OECD-Länder liegt mit 5,4 Pro-
zent deutlich über dem deutschenWert. Auf der Berechungsgrundlage des statis-
tischen Bundesamtes für das nationale Bildungsbudget, das im Vergleich zu den
OECD-Studien zusätzliche Finanzierungstatbestände einbezieht, wurde durch
Bund und Länder im Oktober 2008 eine Steigerung der Bildungsausgaben von
6,2 Prozent des BIP im Bezugsjahr 2006 auf 7 Prozent bis zum Jahr 2015
beschlossen.

Ohne ausreichende Mittel sind die anstehenden Reformen kaum zu bewältigen.
Sowohl die in einigen Bundesländern vorgesehenen Schulstrukturreformen als
auch die seit 1999 in Deutschland umgesetzte Bologna-Reform für einen euro-
päischenHochschulraum verlangen nach Betreuungsverhältnissen, die individu-
elle Kompetenzen stärken, und bessere Ausstattung von Schulen und Hochschu-
len. Stattdessen sind übergroße Klassen, Unterrichtsausfall, eine unzureichende
Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln sowie eine unvertretbare Arbeitsverdich-
tung beim pädagogischen Personal an den Schulen an der Tagesordnung. Mithin
ist das Hochschulsystem bereits seit der Bildungsexpansion in den 1970er-Jahren
dramatisch unterfinanziert. Der Abbau des fest angestellten akademischen Per-
sonals, darunter 1 500 Professuren in den letzten 15 Jahren, steht steigenden

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Bildungsbedarfen und Studierendenzahlen gegenüber. Das Betreuungsverhält-
nis von Professoren/Professorinnen zu Studierenden hat sich in den letzten
30 Jahren an Universitäten von 1:40 auf 1:60 und an Fachhochschulen von 1:20
auf 1:39 verschlechtert. Diese strukturelle Unterfinanzierung darf und kann
weder durch die ausschließlich forschungsorientierten Drittmittelzuflüsse
(Exzellenzinitiative, DFG, Private) noch durch sozial selektiv wirkende Studien-
gebühren ausgeglichen werden.

Die Umstellung auf die neuen, gestuften Studiengänge Bachelor und Master im
Rahmen des Bologna-Prozesses hat vielerorts zu chaotischen Zuständen an den
Hochschulen geführt, die von den protestierenden Studierenden zuRecht beklagt
werden: restriktive und überladene Studienordnungen, Dauerprüfungsstress
sowie unzureichende Möglichkeiten zum Setzen eigener Studienschwerpunkte.
Die ursprünglich angestrebte bessere Mobilität der Studierenden hat sich in ihr
Gegenteil verkehrt: nie zuvor war es so schwierig, den Studienort zu wechseln
oder auch nur ein Auslandssemester einzuschieben. Die Kultusministerkon-
ferenz (KMK) hat am 16. Oktober 2009 angekündigt, geringeVeränderungen bei
der Umsetzung des Bolognaprozesses in Deutschland vorzunehmen. Es wird
jedoch deutlich, dass es zusätzlicher finanzieller und politischer Anstrengungen
von Bund und Ländern bedarf, um diesen europäisch angelegten Reformprozess
nicht scheitern zu lassen – besonders angesichts aufwachsender Studienberech-
tigtenzahlen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. noch in diesem Jahr mit den Ländern verbindliche Vereinbarungen zu treffen,
die eine zügige Steigerung der öffentlichenAusgaben für Bildung aufmindes-
tens 7 Prozent des BIP sicherstellen, welche nicht mit Hilfe einer statistischen
Neudefinition des nationalen Bildungsbudgets zustande kommt, sondern
konkrete Maßnahmen für eine bessere personelle und sachliche Ausstattung
von Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen auf denWeg bringt
sowie eine Steigerung der Gesamtausgaben für Bildung, Forschung und Ent-
wicklung auf mindestens 10 Prozent des BIP gewährleistet,

2. durch verbindlicheVereinbarungenmit den Ländern sicherzustellen, dass Ge-
bühren für Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen abgeschafft
werden und parallel dazu eine umfassende Lehr- und Lernmittelfreiheit an
den genannten Institutionen umgesetzt wird,

3. gemeinsam mit den Ländern Förderprogramme aufzulegen, die die Qualifi-
zierung von deutlich mehr Erzieherinnen und Erziehern sowie von deutlich
mehr Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen und die Etablierung sozialpäda-
gogischer Unterstützung an jeder Schule gewährleisten,

4. eine Initiative zu starten, um das Kooperationsverbot von Bund und Ländern
in der Bildungspolitik (Artikel 104b des Grundgesetzes) aufzuheben und ge-
meinsammit den Ländern ein neues Ganztagsschulprogramm auf denWeg zu
bringen, welches eine flächendeckende Etablierung von Ganztagsschulen
ermöglicht,

5. mit den Ländern eine Reform der Bildungssysteme zu vereinbaren, die auf in-
klusive Bildung zielt, die Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, sozial
Benachteiligte sowie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ge-
zielt fördert und den Ursachen von Ausgrenzung begegnet,

6. noch in diesem Jahr einen Entwurf für eine Reform der Bundesausbildungs-
förderung vorzulegen, der eine deutliche Erhöhung der Fördersätze und Frei-
beträge sowie eineKopplung der Fördersumme an die Steigerung der Lebens-
haltungskosten, eine Absicherung der Förderung im Master unabhängig von
der Konsekutivität des Studienganges sowie eine Aufhebung der Alters-
grenze von 30 Jahren umfasst,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/119

7. durch eine Aufstockung des Hochschulpaktes II oder durch einen Hoch-
schulpakt III einen Ausbau der Studienplatzkapazitäten auf mindestens
2,5 Millionen Studienplätze bis 2014 sicherzustellen, die Fördermittel pro
Studienplatz entsprechend den realen Kosten zu erhöhen sowie die Förde-
rung an qualitative Kriterien zu koppeln, um damit eine Verbesserung der
Studienbedingungen zu gewährleisten,

8. in Zusammenarbeit mit den Kultusministerinnen und Kultusministern der
Länder Änderungen bei den Strukturvorgaben für die neuen Studiengänge
zu vereinbaren, die die Regelstudiendauern und den Regelabschluss imRah-
men des Bachelor-/Mastersystems flexibilisieren, eine unbürokratische An-
erkennung von Studienleistungen im gesamten Bundesgebiet sicherstellen
und den Zugang zuMasterstudiengängen öffnen,

9. ein Bundesgesetz über die Hochschulzulassung auf den Weg zu bringen,
welches sich am Recht auf Studium, an einem offenen Übergang vom Ba-
chelor zumMaster sowie an einer sozialen Öffnung der Hochschulen orien-
tiert und gezielte Fördermaßnahmen für bisher an den Hochschulen unterre-
präsentierte Gruppen beinhaltet,

10. ein Bundesgesetz über Hochschulabschlüsse auf den Weg zu bringen, das
eine verlässliche Qualitätssicherung von Studium und Lehre in öffentlicher
Verantwortung sicherstellt und damit eine Reform der Bachelor- und Mas-
terstudiengänge auf denWeg bringt, die sich an ihrer Studierbarkeit sowie an
der Ermöglichung einer flexiblen Studiengestaltung durch die Studierenden
orientiert,

11. eine Änderung des Grundgesetzes auf denWeg zu bringen, um das Recht auf
Bildung zu verankern, die Gebührenfreiheit von Kindertageseinrichtungen,
Schulen und Hochschulen verlässlich zu sichern und die Bildungsfinanzie-
rung in Deutschland auf eine neue Grundlage zu stellen. Zudem muss Bil-
dung grundgesetzlich als Gemeinschaftsaufgabe beschrieben werden, die es
Bund und Ländern ermöglicht, gemeinsame Programme zur Finanzierung
besserer Bildung aufzulegen.

Berlin, den 2. Dezember 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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