BT-Drucksache 17/11831

Diskriminierung abbauen - In jedem Alter

Vom 11. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11831
17. Wahlperiode 11. 12. 2012

Antrag
der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Christel Humme,
Petra Hinz (Essen), Ute Kumpf, Caren Marks, Franz Müntefering, Petra
Ernstberger, Iris Gleicke, Aydan Özog˘uz, Thomas Oppermann, Sönke Rix,
Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Stefan Schwartze, Dagmar Ziegler,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Diskriminierung abbauen – In jedem Alter

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Jeder Mensch in jedem Alter kann Opfer von Altersdiskriminierung werden, un-
abhängig von der eigenen Bildung, des persönlichen Lebensumstandes und der
Gesundheit. Oft trifft es Menschen im Umfeld von Beschäftigung, später ver-
mehrt im medizinischen Bereich. Häufig bleibt aber eine Diskriminierung auf-
grund des Faktors Lebensalter unentdeckt, wenn beispielsweise der oder die Be-
troffene seine bzw. ihre Rechte nicht kennt. Der Deutsche Alterssurvey ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass zwar der Anteil der Menschen, der sich direkt
von Altersdiskriminierung bedroht fühlt oder bereits Opfer geworden ist, mode-
rat bleibt. Das subjektive Wohlbefinden leidet jedoch enorm unter der erlittenen
massiven Ungerechtigkeit aufgrund des Alleinstellungsmerkmals Alter. Wäh-
rend jüngere Menschen und Menschen mittleren Alters besonders im Bereich
von Arbeit bzw. Arbeitssuche von einer Diskriminierung gefährdet sind, trifft es
ältere und alte Menschen häufig in der medizinischen Versorgung. Dort sind in
der Praxis oft Ungleichbehandlungen älterer Menschen anzutreffen, die einer
Behandlung entgegenstehen oder zur Verweigerung bestimmter Therapien füh-
ren, etwa im Bereich der Prävention. Menschen mit Demenz sind durch die ge-
genwärtige Definition der Pflegebedürftigkeit stark benachteiligt. Nach Arbeits-
welt und medizinischer Versorgung treffen Diskriminierungen in folgenden
Bereichen etwa gleich häufig auf: Behördengänge, Geldangelegenheiten sowie
in alltäglichen Situationen. Hierbei wird das Individuum ignoriert, eine Gruppe
wird herangezogen und vorverurteilt. Altersdiskriminierung schränkt den per-
sönlichen Gestaltungsraum ein, möglicherweise auch den Zugang zu finanziel-
len Mitteln, etwa bei der Kreditvergabe an Jüngere und Ältere.

Ein aktueller Beleg für Altersdiskriminierung ist das Gerichtsurteil 9 AZR 529/
10 des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Angleichung des Urlaubsanspruches

im öffentlichen Dienst vom 20. März 2012, stellt es doch eine Benachteiligung
der jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenüber der Differenzie-
rung der Urlaubsdauer nach dem Lebensalter dar. Diese Benachteiligung muss
nun beseitigt werden, die Tarifpartner haben sofort reagiert und bereits neu ver-
handelt. Die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich vielfältig: sowohl
im Zugang zum Arbeitsleben, innerhalb von Arbeitsverhältnissen und bei der
Beendigung von Arbeitsverhältnissen, aber auch bei Arbeitslosigkeit. Hier muss

Drucksache 17/11831 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

im Sinne von guter Arbeit und vor dem Hintergrund des demografisch bedingten
Fachkräftemangels dringend gegengesteuert werden. Wir brauchen einen Min-
destlohn und faire Arbeitsbedingungen für jedes Alter. In den Krisen der vergan-
genen Jahre hat sich gezeigt, dass Jüngere bis 25 Jahre und Ältere ab 55 Jahre
überproportional häufig arbeitslos werden. Generell gestaltet sich der Arbeits-
markt für junge Menschen oft prekär, sie sind gefangen in endlosen Praktika,
besitzen keine oder eine unzureichende soziale Absicherung, werden in Schein-
selbstständigkeit getrieben und es bleiben ihnen wenig Möglichkeiten, sich in
Ruhe um private Belange zu kümmern. Andererseits zählt auf dem Arbeitsmarkt
der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin teilweise schon mit über 40 Jahren
zum „Alten Eisen“, vor allem aber Personen unmittelbar vor oder im Rentenein-
trittsalter mit 65 Jahren. Viele Arbeitgeber fördern daher ältere Menschen häufig
nur unzureichend bei Fortbildungen, Beförderungen oder Wiedereinstiegen.
Vorbildlich für eine gerechtere Einstellungsprozedur ist die angelsächsische
Tradition, im Rahmen von Bewerbungen dem Lebenslauf kein Bild und keine
Altersangabe hinzuzufügen. So wird rein nach fachlicher Eignung eingeladen.
Die Arbeitsbedingungen müssen lebenslagengerecht gestaltet werden, denn die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen in die Lage versetzt werden, das
reguläre Renteneintrittsalter zu erreichen. Die Wertschätzung für Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer jeden Alters ist hierbei eine ganz entscheidende Vor-
aussetzung.

Auch Bildungsangebote sind anfällig für Ungleichbehandlungen aufgrund des
Alters. Das Studium im Alter ist ein überaus positiver Anreiz für lebenslanges
Lernen, dennoch besteht die Gefahr der Konkurrenz zu jungen Studierenden, die
unter einem enormen Druck studieren. Auch dort gilt: Eine besondere Rück-
sichtnahme ist überall dort geboten, wo sämtliche Altersstufen aufeinander
treffen, trotzdem lernen beide voneinander. Generell sollten die Angebote für
lebenslanges Lernen ausgebaut und auch stärker auf die Bedürfnisse älterer
Menschen zugeschnitten werden.

Selbst im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements treten Ungleichbehand-
lungen auf: Ehrenamtlich Engagierte dürfen sich in Vereinen, Verbänden oder
Organisationen oftmals nur bis zu einer Altersgrenze von 70 Jahren einbringen,
zum Teil sind solche Altersgrenzen sogar in Satzungen festgeschrieben. Alters-
grenzen – nach oben wie nach unten – halten Menschen vom Engagement ab.

Die Menschen dürfen mit dem neuen Leitbild des aktiven und produktiven älte-
ren Menschen in der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskus-
sion nicht überfordert werden. Das Ergebnis könnte einer Exklusion von Älteren
gleichkommen, die beispielsweise aufgrund von gesundheitlichen Einschrän-
kungen nicht fähig sind, im gleichen Maße aktiv zu sein. In der Konsequenz
hieße dies eine Differenzierung in mehr oder weniger wertvolles Alter analog
einer neoliberalen Sozialpolitik. Der Aktivierungswahn muss vor einer Wieder-
verpflichtung der Gruppe der Älteren Halt machen. Im Zuge dessen sehen sich
Ältere nun mit dem gesellschaftlichen Anspruch konfrontiert, möglichst lange
erwerbstätig zu bleiben und auch im Ruhestand als Pflegende oder Konsumie-
rende funktionieren zu müssen. Sich im Alter produktiv einzubringen, ist aber
nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch des Könnens. Eine geeignete In-
frastruktur für organisiertes Engagement Älterer ist nur rudimentär vorhanden,
beispielsweise läuft das erfolgreiche Programm „Freiwilligendienste aller Gene-
rationen“ aus und wird nicht fortgesetzt.

Die Medien nehmen beim Thema Altersdiskriminierung eine besondere Rolle
ein, wie eine Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag
der Robert Bosch Stiftung GmbH im Jahr 2008 gezeigt hat. Denn Journalistin-
nen und Journalisten sind Multiplikatoren und prägen Altersbilder im täglichen

Umgang mit bestimmten Themen (z. B. Unwörter des Jahres), aber auch im
Duktus der Reportagen. Ihnen kommt eine besondere Verantwortung zu, die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11831

Assoziationen „alt bedeutet krank bedeutet abseits der produktiven Mitte“ zu
durchbrechen und neue Verknüpfungen zu schaffen. Menschen unter 60 Jahre
verbinden heute zum Teil sogar negativere Eigenschaften mit dem Alter als ihre
Alterskohorte vor 15 Jahren; dazu haben unter anderem auch die Unwörter des
Jahres „Altenplage“ (1995), „Rentenschwemme“ (1996) oder „Sozialverträgli-
ches Frühableben“ (1998) beigetragen. Durch eine diskriminierende Aufberei-
tung von Themen können hier durchaus Ressentiments geschürt werden. Die
Mehrheit der Journalistinnen und Journalisten hat jedoch erkannt, dass das
Altersbild positiver werden muss und ist sich seiner Verantwortung bewusst.
Dennoch bedarf es weiterer Initiativen, um insbesondere die Medien und die
Öffentlichkeit für das Thema Altersdiskriminierung und den Umgang mit Alters-
bildern zu sensibilisieren.

Auf die fehlenden positiven Altersbilder, die einer Diskriminierung älterer Men-
schen in Deutschland vorangehen, hat die Politik bereits reagiert und im
Rahmen der durch den Sechsten Altenbericht „Altersbilder in der Gesellschaft“
angestoßenen öffentlichen Debatte zur Aufklärung beigetragen. Negative Alters-
stereotype – und zwar gegenüber jungen wie älteren Menschen – werden meis-
tens früh anerzogen. Dem kann durch vielfältige Aktionen und gegenseitiges
Interesse bzw. Akzeptanz zwischen den Generationen entgegengewirkt werden.
Hierbei leisten etwa die Mehrgenerationenhäuser einen wertvollen Dienst.

Es ist zu begrüßen, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2012 das
Themenjahr „Im besten Alter. Immer.“ ausgerufen, und damit ein Thema zum
Gegenstand gemacht hat, das bislang eher verdeckt blieb. Eine Expertenkom-
mission unter Leitung von Dr. Henning Scherf und Prof. Dr. Gerhard Naegele
hat dazu Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber, die Tarifpartner und Be-
triebe und die Forschung erarbeitet und jüngst veröffentlicht. Es besteht weiterer
Handlungsbedarf zum Abbau von Diskriminierungen aufgrund des Alters.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Thema Altersdiskriminierung zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit zu
machen und eine öffentliche Kampagne für die gleichen Rechte aller Alters-
gruppen zu initiieren;

2. sich konsequent für die Einhaltung des Allgemeinen Gleichbehandlungsge-
setzes (AGG) einzusetzen und die Öffentlichkeit über die damit verbundenen
Rechte aufzuklären;

3. die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu unterstützen, indem diese mit
ausreichend finanziellen Mitteln im Bundeshaushalt ausgestattet wird, um
(potenzielle) Diskriminierungen aufzuzeigen, in der Öffentlichkeit zu disku-
tieren und Menschen in konkreten Situationen rechtlich zu beraten;

4. alle bestehenden bundesgesetzlichen Altersgrenzen aufzulisten und auf ihre
Erforderlichkeit zu überprüfen und dem Deutschen Bundestag einen entspre-
chenden Bericht noch vor Ablauf der 17. Legislaturperiode vorzulegen;

5. die Handlungsempfehlungen der Expertenkommission „Gemeinsam gegen
Diskriminierung: Für eine gerechtere Teilhabe jüngerer und älterer Men-
schen“ anzunehmen, öffentlich zu diskutieren und gemeinsam mit Ländern
und Kommunen umzusetzen;

6. die Diskriminierung von Älteren sowie Altersgrenzen im bürgerschaftlichen
Engagement abzubauen;

7. weiterhin den Austausch zwischen den Generationen zu fördern, um so Vor-
urteilen und daraus resultierender Altersdiskriminierung vorzubeugen.
Hierzu zählen beispielsweise der Ausbau und die Vernetzung von Mehrgene-

rationenhäusern in den Kommunen oder auch die Fortführung der Freiwilli-
gendienste aller Generationen;

Drucksache 17/11831 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
8. auf die Krankenkassen und Ärzteverbände einzuwirken, in der medizini-
schen Versorgung auch künftig eine Behandlung nach Gesundheitszustand
zu gewährleisten;

9. einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff – basierend auf den Ergebnissen
des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs von 2009 –
einzuführen;

10. die Förderung anonymisierter Bewerbungsverfahren fortzusetzen;

11. das erfolgreiche Programm „Perspektive 50plus“ weiterzuführen;

12. das Sonderprogramm „Weiterbildung Geringqualifizierter und beschäftig-
ter älterer Arbeitnehmer in Unternehmen“ (WeGebAU) ohne eine zeitliche
Befristung fortzuführen;

13. ein eigenständiges Arbeitsmarktprogramm „GesundheitPlus“ für ältere ar-
beitslose Menschen, die gesundheitlich eingeschränkt sind, aufzulegen, um
für sie geeignete Arbeitsmarktmöglichkeiten besser aufzuzeigen, gegebe-
nenfalls geeignete Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten unter Berück-
sichtigung der gesundheitlichen Belastungen zu finden und den Prozess der
beruflichen Reintegration zu begleiten;

14. einen Gesetzentwurf zur Regulierung der Leiharbeit, zur Abschaffung der
sachgrundlosen Befristung und zur Einführung eines gesetzlichen Mindest-
lohns von 8,50 Euro vorzulegen;

15. den Missbrauch von Praktika wirkungsvoll zu bekämpfen;

16. sich für ein Recht auf einen Schulabschluss einzusetzen;

17. jedem Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Recht auf eine qualifi-
zierte Ausbildung zu garantieren;

18. junge Erwachsene bei den Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
(SGB II) mit anderen Altersgruppen gleichzustellen und die verschärften
Sanktionen für Unter-25-Jährige aus dem SGB II zu streichen;

19. sich für den Ausbau der Seniorenbildung einzusetzen.

Berlin, den 11. Dezember 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.