BT-Drucksache 17/11823

Studienfinanzierung sozial gerecht gestalten - Studiengebühren abschaffen und BAföG stärken

Vom 11. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11823
17. Wahlperiode 11. 12. 2012

Antrag
der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel, Willi Brase, Ulla Burchardt, Petra
Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke, Klaus Hagemann, Petra Hinz (Essen),
Christel Humme, Oliver Kaczmarek, Daniela Kolbe (Leipzig), Ute Kumpf, Thomas
Oppermann, Florian Pronold, René Röspel, Marianne Schieder (Schwandorf),
Stefan Schwartze, Andrea Wicklein, Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Studienfinanzierung sozial gerecht gestalten – Studiengebühren abschaffen
und BAföG stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Frage der Finanzierung stellt auch heute für viele junge Menschen die größte
Hürde für ein Studium dar. Nach Studien der HIS Hochschul-Informations-
System GmbH ist eine ungesicherte Lebensunterhalts- und Studienfinanzierung
mit 77 Prozent der am häufigsten genannte Grund für eine ausstehende positive
Studienentscheidung. Ebenso begründen 76 Prozent ihren erfolgten Studienver-
zicht mit finanziellen Unsicherheiten. Auch bei den Ursachen für einen Studien-
abbruch sind Probleme in der Studienfinanzierung mit rund 19 Prozent der
zweithäufigste Grund. 68 Prozent der durch das Bundesausbildungsförderungs-
gesetz (BAföG) Geförderten geben an, ohne die staatliche Bildungsförderung
ihr Studium nicht finanzieren zu können.

1. Chancengleichheit als Maßstab sozialer Gerechtigkeit

Gerade für junge Menschen aus bildungsfernen oder sozial benachteiligten
Familien oder für Studienberechtigte mit Migrationshintergrund stellt die Finan-
zierungsfrage oft eine entscheidende Weichenstellung für ihre Bildungsbiogra-
fie dar. Eine verantwortungsvolle und sozial gerechte Studienfinanzierung muss
sich daran messen lassen, ob sie allen Studierwilligen die gleichen Chancen auf
eine akademische Ausbildung eröffnet – unabhängig von der sozialen Herkunft,
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern oder der Fachneigung.

Bildungschancen sind in der modernen Gesellschaft immer auch Zukunftschan-
cen. Das Recht auf Bildung ist für alle zu verwirklichen, gleich welche Neigun-

gen, Talente oder individuellen Bedürfnisse bestehen und gleich welchen sozia-
len oder ökonomischen Familienhintergrund die jungen Menschen haben. Sie ist
deshalb als öffentliches Gut ein wesentlicher Baustein einer aktiven öffentlichen
Daseinsvorsorge.

Die Chancengleichheit in der Bildung ist in Deutschland nicht verwirklicht.
Nationale wie internationale Studien belegen jedes Jahr aufs Neue, dass in

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Deutschland der Bildungserfolg sehr stark von der sozialen Herkunft abhängig
ist. Bildungsferne, soziale oder ökonomische Risikolagen oder ein Migrations-
hintergrund führen bei zu vielen jungen Menschen auch heute noch zu struktu-
rellen Benachteiligungen. Die Potenziale der jungen Menschen werden daher
nur unzureichend verwirklicht und ihnen werden Bildungs- und damit Lebens-
chancen vorenthalten. Die Überwindung der sozialen Selektivität im deutschen
Bildungswesen ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine sozial ge-
rechte Entwicklung unserer Gesellschaft.

2. Hochschulzugang ist sozial ungerecht

Die soziale Selektivität im deutschen Bildungswesen zeigt sich auch am Über-
gang zur Hochschule. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und der Wahr-
scheinlichkeit, ein Studium aufzunehmen, hat sich in den letzten 30 Jahren sogar
verstärkt. Laut 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) e. V.
hat sich in den Jahren 1982 bis 2003 der Anteil der Studierenden aus der Her-
kunftsgruppe „hoch“ mehr als verdoppelt (von 17 auf 37 Prozent). Im Gegenzug
ist der ohnehin deutlich geringere Anteil der Studierenden aus der Herkunfts-
gruppe „niedrig“ deutlich abgesunken (von 23 auf 12 Prozent). Erst mit Wirkung
der 20. BAföG-Novelle und des Ausbildungsförderungsreformgesetzes konnte
dieser Trend gestoppt und bis zum Jahr 2009 umgedreht werden.

Die DSW-Erhebung verweist ebenfalls auf die ungleich geringeren Chancen auf
ein Hochschulstudium für Kinder aus Arbeiterfamilien. Demnach beginnen sie
nur zu 24 Prozent ein Studium, wohingegen Kinder aus Akademikerfamilien zu
71 Prozent ein Studium aufnehmen. Und schließlich belegen auch aktuelle Be-
richte wie die Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (OECD) „Bildung auf einen Blick 2012“ oder der aktuelle Natio-
nale Bildungsbericht 2012 die soziale Schieflage beim Hochschulzugang. Im
Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil Studierender
aus Akademikerfamilien doppelt so groß, dementsprechend der Anteil der
Studierenden aus Familien mit Hauptschulabschluss nur halb so groß wie in der
Gesamtbevölkerung.

Die Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund setzt sich
in der Hochschulbildung ebenfalls fort. Zwar stieg ihr Anteil an allen Studieren-
den auf 11 Prozent. Allerdings werden die geringeren Übergangsquoten zum
Abitur und zur akademischen Bildung dadurch verschärft, dass Studierende mit
Migrationshintergrund fast dreimal häufiger aus der niedrigen sozialen Her-
kunftsgruppe stammen als Studierende ohne Migrationshintergrund.

3. Akademische Bildung muss für alle offen sein

Erfreulicherweise entscheiden sich immer mehr junge Menschen für den Weg
zur Hochschule. Das war erklärtes politisches Ziel des letzten Jahrzehnts. Auch
wenn Sondereffekte wie mehrere Doppelabiturjahrgänge oder die Aussetzung
der Wehrpflicht 2011 berücksichtigt werden müssen, erreichen die Studien-
anfängerzahlen Rekordhöhen. Nach dem Allzeithoch im Jahr 2011 mit über
518 000 Studienanfängern hat sich der Trend mit rund 492 000 Studienan-
fängern auch im Jahr 2012 fortgesetzt. Die Studienanfängerquote ist damit von
28,1 Prozent im Jahr 1996 auf voraussichtlich 54,7 Prozent im Jahr 2012 ge-
stiegen. Damit sind die Mittel des Hochschulpaktes von Bund und Ländern zur
Finanzierung zusätzlicher Studienplätze, die von 2011 bis 2015 reichen sollten,
bereits im zweiten Jahr aufgebraucht. Erstmalig in der deutschen Geschichte be-
finden sich heute rund 2,5 Millionen jungen Menschen in einer akademischen
Ausbildung.

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Darüber hinaus kommt der akademischen Bildung im gegenwärtigen Umbruch
der Qualifizierungslandschaft eine besondere Bedeutung zu. Neben dem demo-
grafiebedingten Rückgang des Arbeitskräftepotenzials bis zum Jahr 2025 um
6,5 Millionen Personen verändern sich zugleich die Anforderungen an die
Fähigkeiten und Kompetenzen der Fachkräfte von morgen. Der beschleunigte
wissenschaftliche Fortschritt, der zunehmende internationale Innovationswett-
bewerb und der Trend zur wissensbasierten Wirtschaft und zu Dienstleistungen
erhöhen tendenziell die Qualifikationsniveaus und verkürzen Fort- und Weiter-
bildungszyklen. Studien prognostizieren daher einen insgesamt steigenden
Mangel bei Fachkräften mit Hochschulabschluss. Allein in den Jahren 2015 bis
2025 soll die Lücke bei hochqualifizierten Fachkräften in Deutschland von einer
Million auf rund 2,4 Millionen Erwerbspersonen und mit plus 140 Prozent
doppelt so stark wachsen, wie die Fachkräftelücke insgesamt (plus 73 Prozent).
Insbesondere werden die Bereiche Mathematik, Informatik, Naturwissenschaf-
ten und Technik (MINT) sowie Ingenieurs- und Naturwissenschaften betroffen
sein. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass bis zum Jahr 2020 rund
240 000 Ingenieure fehlen werden. Bei allen Unwägbarkeiten von Prognosen ist
festzustellen, dass neben der wichtigen Säule der beruflichen Bildung die zweite
Säule Hochschulbildung und wissenschaftlicher Nachwuchs ebenfalls eine
Schlüsselrolle für das künftige Fachkräfteangebot einnimmt.

Der mit beiden Aspekten einhergehende gesellschaftliche Bedeutungszuwachs
der akademischen Bildung verdeutlicht die mittel- und langfristigen Risiken
sozialer Bildungsbenachteiligung im Hochschulbereich. Ohne den politischen
Willen und effektive Maßnahmen droht sich Chancenungleichheit weiter zu ver-
härten. Damit würden gesellschaftliche Verhältnisse auch künftig von unglei-
chen Bildungschancen geprägt, die dadurch ungebrochen reproduziert werden.

4. BAföG steht für Chancengleichheit in der Hochschulbildung

Die Sicherstellung einer sozial gerechten und effektiven Studienfinanzierung ist
deshalb eine bildungspolitische öffentliche Aufgabe ersten Ranges. Gerade bei
Studierenden aus sozial schwachen Herkunftsgruppen erzeugt die Studienent-
scheidung große finanzielle Belastungen für sie selbst und ihre Familien. Die öf-
fentliche Hand bleibt daher in der Verantwortung, Chancengleichheit auch beim
Hochschulzugang sicherzustellen.

In Deutschland ist seit über 40 Jahren das BAföG das zentrale Instrument für
mehr Chancengleichheit in der Bildung. Als Sozialleistung sichert es im Be-
darfsfall einen individuellen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung im
Schul- wie Hochschulbereich. Das BAföG hat mit über vier Millionen Geförder-
ten seit dem Jahr 1971 dazu beigetragen, dass der Weg zu besserer Bildung und
zur Hochschule auch jungen Menschen aus bildungsfernen oder sozial benach-
teiligten Familien offensteht.

In den 40 Jahren seines Bestehens hat das BAföG eine wechselvolle Geschichte
durchlaufen. Grob betrachtet lassen sich zwei Wachstumsphasen (1972 bis 1982
und nach 1998) sowie zwei von der Wiedervereinigung getrennte Phasen der
substanziellen Absenkung der Fördereichweite und -leistungen unterscheiden
(1982 bis 1990, 1991 bis 1998). Nach dem Jahr 1982 haben die Umstellung des
BAföG auf ein Volldarlehenssystem und die faktische Abschaffung des Schüler-
BAföG die Förderung einbrechen lassen, nach der Wiedervereinigung eine
schrittweise Austrocknung der Förderreichweite und der BAföG-Höhe. Dies
führte mit lediglich rund 225 000 geförderten Studierenden im Jahresmittel und
einem BAföG-Finanzvolumen von rund 1,2 Mrd. Euro zum Fördertiefststand
des Jahres 1998 im vereinigten Deutschland.

Erst nach dem Jahr 1998 haben die 20. BAföG-Novelle und insbesondere das

Ausbildungsförderungsreformgesetz eine Wende beim BAföG eingeleitet.
Für die Jahre 2000 bis 2002 lassen sich infolgedessen sowohl die bis heute

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im wiedervereinigten Deutschland größte Ausweitung der Studierendenförde-
rung (plus 31 Prozent auf 304 000 Studierende) sowie die höchste Steigerung
des durchschnittlichen monatlichen Förderungsbetrages (plus 14 Prozent auf
371 Euro) feststellen. Besonders positiv haben sich die Ausweitung förderfähiger
Ausbildungen, die neue Schuldenobergrenze von 10 000 Euro sowie die Nicht-
anrechnung des Kindergeldes ausgewirkt. Mit der im Rahmen der 22. BAföG-
Novelle 2007 umgesetzten Erhöhung der Bedarfssätze um 10 Prozent und der
Freibeträge um 8 Prozent ist dieser Weg fortgeführt worden. Insgesamt wuchsen
die Zahl der geförderten Studierenden von 1998 bis 2010 um 72 Prozent und die
für BAföG aufgewendeten Finanzmittel sogar um 138 Prozent. Die Geförder-
tenquote erreichte im Jahr 2010 25,8 Prozent.

Das BAföG hat sich nach dem Jahr 1998 wieder zu einem modernen und leis-
tungsfähigen Instrument für mehr Chancengleichheit entwickelt. Die 19. Sozial-
erhebung des DSW zeigt, dass für über 80 Prozent der Studierenden aus bil-
dungsfernen oder sozial benachteiligten Familien ohne BAföG ein Studium
nicht möglich wäre. Das BAföG ist eine unverzichtbare soziale Errungenschaft
und verdient eine Bestands- und Weiterentwicklungsgarantie.

In diesem Kontext sind die aktuellen, von Bundesministerin Dr. Annette Schavan
vorgeschlagenen und mit der Mehrheit der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
beschlossenen Kürzungen bei den Bundesmitteln sowohl für das BAföG als
auch für das so genannte Meister-BAföG nach dem Aufstiegsfortbildungsförde-
rungsgesetz (AFBG) weder bedarfsgerecht noch bildungspolitisch nachvollzieh-
bar. Sie bleiben allerdings vordergründige Haushaltskosmetik, da der in beiden
Fällen bestehende Rechtsanspruch den jungen Menschen die ihnen zustehende
Förderung sichert.

5. Stipendien transparent und sozial gerecht gestalten

Im Vergleich zwischen Eltern und BAföG als Finanzierungsquelle weisen Sti-
pendien eine deutlich geringere Bedeutung auf. Nach der 19. Sozialerhebung des
DSW erhielten 2009 3 Prozent der Studierenden Leistungen aus Stipendien. Von
den umgerechnet etwa 60 000 Stipendiaten erhielt knapp die Hälfte Zuwendun-
gen der Begabtenförderwerke (BFW) oder aus der Wirtschaft. Die weiteren
50 Prozent entfielen u. a. auf Stiftungen und private Mäzenen und bieten damit
wenig verallgemeinerbare Informationen über Umstände der Vergabe, die Kri-
terien oder die Höhe der Leistungen. Sozial ausgewogene Stipendien können
eine wichtige Ergänzung in der Studienfinanzierung sein.

Weit schwerer wirkt der empirisch mehrfach bestätigte Zusammenhang, dass
eine rein leistungsbasierte Stipendienvergabe soziale Selektivität nicht nur nicht
mildert, sondern noch verstärkt. Laut HIS stammten mit 51 Prozent über die
Hälfte der Stipendiaten aus der Herkunftsgruppe „hoch“, wohingegen diese an
allen Studierenden im Erstsemester einen Anteil von 37 Prozent aufweisen. Stu-
dierende aus der niedrigen Herkunftsgruppe waren entsprechend unterrepräsen-
tiert. Darüber hinaus ist eine allein leistungsorientierte Auswahl nicht immer ge-
geben. Bei gleichen hervorragenden Leistungen (Durchschnittsnote 1,0 bis 1,4)
haben Studien eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit eines Stipendiums für
Studierende aus der hohen Herkunftsgruppe festgestellt als aus der niedrigen
Herkunftsgruppe.

Anders als bei den Stipendien von Unternehmen oder Privatleuten ist die Ver-
gabe über die mittlerweile zwölf Begabtenförderungswerke (BFW) transparent,
folgt gemeinsamen Richtlinien und über sie wird regelmäßig Rechenschaft ab-
gelegt. Die soziale und ideelle Förderung der BFW stellt gerade in ihrer profi-
lierten Vielfalt insgesamt ein hilfreiches ergänzendes Finanzierungsangebot dar.
Durch die Mittelaufwüchse allein von 1998 bis 2009 von plus 155 Prozent sowie

in den Folgejahren konnte die Förderquote bei steigenden Studierendenzahlen

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annähernd bei 1 Prozent gehalten werden. Allein im Jahr 2012 werden somit
rund 25 000 junge Menschen von der sozialen und ideellen Förderung der BFW
profitieren können.

Die soziale Schieflage der Stipendienvergabe trifft allerdings grundsätzlich auch
auf die Förderung der BFW zu. Viele BFW haben auf die Befunde reagiert und
ihre Vergabeverfahren entweder bereits verändert, etwa neben Dritt- auch
Selbstempfehlungen zugelassen, oder unabhängige Überprüfungen eingeleitet.
Damit bekräftigen die BFW das Ziel, mit ihrer Förderung einen Beitrag zur
sozialen Öffnung der Hochschulen zu leisten. Gerade wenn Stipendienangebote
öffentlich finanziert sind, kann und darf daher auf Transparenz in der Vergabe
sowie auf das besondere gesellschaftliche Engagement und die Vermittlung
sozialer Verantwortung als entscheidende Vergabekriterien nicht verzichtet
werden.

Eine besondere Berücksichtigung verdienen die im Jahr 2008 eingeführten Auf-
stiegsstipendien für beruflich qualifizierte Studierende, die ein „Studium ohne
Abitur“ aufnehmen. Die Länder haben für beruflich Qualifizierte einen einheit-
lichen Hochschulzugang eröffnet und damit ihre Zusage aus der „Qualifizie-
rungsinitiative für Deutschland“ aus 2008 umgesetzt. Mit über 50 Mio. Euro seit
2008 und bis heute rund 4 200 Geförderten stärkt der Bund mit dem Aufstiegs-
stipendium die Durchlässigkeit im Bildungswesen und die Aufstiegschancen in
der beruflichen Bildung. Aufgrund der begrenzten Mittel und der Ausgestaltung
als wettbewerbliches Antragsverfahren muss die derzeitige Förderung aus der
Perspektive der beruflich Qualifizierten allerdings als „Lotterie“ wahrgenom-
men werden. Viele Studienwillige können trotz guter Leistungen daher nicht in
die Förderung einbezogen werden, so dass auch hier das Ziel von 10 000 Stipen-
dien noch nicht einmal zur Hälfte erreicht werden konnte.

Die Ausgestaltung als „Stipendium“ wird weder dem politischen Ziel noch dem
tatsächlichen Bedarf gerecht. Um die Durchlässigkeit weiter zu stärken und den
Anteil beruflich qualifizierter Studierender weiter auszubauen, sind kurzfristig
die Mittel aufzustocken. Mittelfristig ist das Aufstiegsstipendium schrittweise
zu einem Rechtsanspruch im Rahmen des AFBG auszubauen und so ist ein
„Aufstiegs-BAföG“ zu schaffen.

6. Deutschlandstipendium auslaufen lassen

Die Förderung nach dem Stipendienprogrammgesetz – die so genannten
Deutschlandstipendien – konnte bisher zu keinem Zeitpunkt die Ziele und Er-
wartungen erfüllen. Aktuell erhalten knapp 11 000 Studierende ein Stipendium,
somit weit weniger als die ursprünglich erwarteten 160 000 Stipendiaten. Diffe-
renzierte Auswertungen zu den Stipendiaten, insbesondere der Verteilung der
Bewilligungen nach Auswahlgründen oder über die Berücksichtigung von jun-
gen Menschen mit Migrationshintergrund, liegen bisher nicht vor. Die Kenn-
zahlen des Statistischen Bundesamtes zum Förderjahr 2011 belegen allerdings
sowohl einen Anteil ausländischer Stipendiaten von lediglich knapp 7 Prozent
sowie von BAföG-Geförderten an den Deutschlandstipendiaten von ebenfalls
nur 23,7 Prozent. Dies kann als erster Hinweis gewertet werden, dass auch diese
Stipendien keinen Beitrag zu mehr Chancengleichheit leisten.

Bestätigt haben sich ebenfalls Befürchtungen einer einseitigen Fächervertei-
lung, auch aufgrund der Interessenlage der privaten Mittelgeber. Über 56 Pro-
zent der Stipendiaten stammen aus den Fachbereichen MINT und Medizin.
Auch beklagen die Hochschulen ihre unverhältnismäßig hohen bürokratischen
Belastungen sowie die damit einhergehenden ungedeckten Verwaltungskosten
durch das Stipendienprogramm. Und schließlich belegt die regionale Verteilung
der Bewilligungen die selektive Wirkung des Ansatzes, der eben der regional

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unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit folgt und damit diese ver-
stärkt. Die ebenfalls zu erwartenden studienpraktischen Nachteile einer auf
höchstens zwei Jahre begrenzten, dazu hochschul- wie oft auch fachgebundenen
Förderung, etwa bei Wegfall oder Fach- oder Studienortwechseln, stellen wei-
tere Probleme dar.

Insgesamt schafft das Deutschlandstipendium mehr Probleme als Lösungen. Es
erzeugt einen geringen Ertrag bei einem unverhältnismäßig hohen Aufwand,
wirkt selektiv und ist auch angesichts der Doppelstruktur zur Förderung der
Begabtenförderwerke nicht zu rechtfertigen. Es leistet keinen Beitrag zur
Sicherheit in der Studienfinanzierung oder zur Chancengleichheit beim Hoch-
schulzugang. Das Gesetz ist daher aufzuheben, so dass keine neuen Bewilligun-
gen erfolgen. Die durch den Wegfall des Gesetzes in den Folgejahren frei wer-
denden Mittel sind für den weiteren Ausbau der Studienförderung der Begabten-
förderwerke und für den Ausbau des BAföG zu nutzen.

7. Studiengebühren flächendeckend abschaffen

Keine bildungspolitische Debatte des letzten Jahrzehnts hat studieninteressierte
Menschen mehr verunsichert als die zur Einführung von allgemeinen Studien-
gebühren für das Erststudium. Anlässlich einer Anhörung im Ausschuss für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages am
25. Januar 2012 haben Studien insbesondere von HIS dargelegt, dass die direkte
Abschreckungswirkung vorhanden ist und belegt werden kann. Allein für das
Jahr 2008 gehen die Experten von 5 Prozent der Studienberechtigten oder
26 000 Personen aus, die wegen der Studiengebührendebatte ein Studium vor-
erst nicht aufgenommen haben. Die abschreckende Wirkung auf bestimmte
Teilgruppen wie Frauen, Studienberechtigte aus nichtakademischen Elternhäu-
sern oder aus der Berufsbildung ist jeweils noch höher, auch da diese Gruppen
sich empirisch als „kostensensibel“ erweisen. Rund 69 Prozent der Studienbe-
rechtigten eines Jahrgangs, die auf eine Studienaufnahme verzichten, nannten
Studiengebühren als zentrales Motiv.

Es wirkt sich offenbar aus, dass die vom Verfassungsgericht im Jahr 2005 ge-
forderte soziale Abfederung der Gebührenbelastung in keinem Gebührenland
wirkungsvoll oder glaubwürdig erfolgt ist. Zudem hat die Wirtschaft entgegen
ihren Versprechungen in der Gebührendebatte die Ausweitung ihres Stipendien-
angebots ebenfalls nicht realisiert.

Seit Einführung der Studiengebühren ist ein signifikanter allgemeiner Rückgang
der Studierbereitschaft eingetreten, die in allen Ländern zu beobachten ist – also
unabhängig davon, ob Studiengebühren erhoben werden oder nicht. Dies lässt
sich laut HIS nur mit einem breiten Verunsicherungseffekt durch die Gebühren-
debatte erklären. Studien, die keinen Abschreckungseffekt von Gebühren
messen konnten, vernachlässigten laut HIS offenbar diesen wichtigen und ein-
deutigen Befund. Diese Wirkungen sind bei einer im internationalen Vergleich
noch moderaten Gebührenhöhe in Deutschland festgestellt worden. Wenn – wie
in Großbritannien von 1 000 auf aktuell 9 000 Pfund im Jahr – die Gebühren-
höhe teilweise drastisch erhöht würde, ist zu erwarten, dass die negativen Aus-
wirkungen insbesondere auf die Studierchancen von sozial benachteiligten jun-
gen Menschen umso deutlicher hervortreten.

So sehr die hohen sozialen Kosten unterschätzt werden, wird umgekehrt der Bei-
trag der Studiengebühren zur Hochschulfinanzierung oft überschätzt. Mit Ein-
nahmen von laut Statistischem Bundesamt rund 1,3 Mrd. Euro im Jahr 2010 er-
reichen sie einen Anteil an den laufenden Ausgaben der Hochschulen von
6,6 Prozent (ohne die medizinischen Einrichtungen). Selbst für die Hochzeit der
Gebühren in Deutschland im Jahr 2008 geht der Wissenschaftsrat von einem

Anteil der Studiengebühren von rund 5 Prozent an den Gesamteinnahmen aus.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/11823

Studiengebühren können somit allein aufgrund des geringen Volumens keinen
substanziellen Beitrag für eine nachhaltige und aufgabengerechte Hochschul-
finanzierung leisten. Zudem hat die offenbar zweckentfremdete Gebührenver-
wendung an einzelnen Hochschulen das Vertrauen vieler Gebührenbefürworter
und die Hoffnung der Studierenden auf bessere Studienbedingungen wieder sin-
ken lassen.

Allgemeine Studiengebühren für das Erststudium bleiben somit bildungspoli-
tisch kontraproduktiv, schrecken insbesondere sozial Benachteiligte von einem
Studium ab und leisten keinen verlässlichen strukturellen Beitrag zur Hochschul-
finanzierung. Sie sind unsozial und müssen im Sinne vergleichbarer Lebensver-
hältnisse in Deutschland abgeschafft werden.

Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die Abschaffung der allgemeinen Stu-
diengebühren in den Ländern Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Saarland
und Baden-Württemberg, nachdem die Bürgerinnen und Bürger in vorhergehen-
den Wahlen ein entsprechend klares Votum abgegeben haben. Er anerkennt
dabei insbesondere die Tatsache, dass diese Länder den Hochschulen die ausfal-
lenden Mittel ersetzen wollen. Angesichts der Finanzlage und der sinkenden
Spielräume der Länder erfordert diese Entscheidung einen Kraftakt. Er ist aber
auch notwendig, um die angespannte Finanzsituation der Hochschulen in Zeiten
steigender Studierendenzahlen und wachsender Reformbedarfe nicht weiter zu
verschlechtern.

Der Deutsche Bundestag begrüßt diesbezüglich das Volksbegehren zur Abschaf-
fung der Studiengebühren in Bayern. Die widersprüchlichen Äußerungen und
die Weigerung der bayerischen Staatsregierung, hinsichtlich der Zukunft der
Studiengebühren zu einer schnellen Entscheidung zu kommen, sind dementge-
gen geeignet, die Verunsicherung der Studieninteressierten noch zu vertiefen
und junge Menschen von einem Studium abzuhalten. Im Sinne einer größeren
Chancengleichheit in der Hochschulbildung sind die Studiengebühren auch in
den letzten beiden Gebührenländern Niedersachsen und Bayern abzuschaffen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf Grundlage des Neunzehnten Berichts nach § 35 BAföG einen Gesetzent-
wurf vorzulegen, der die erforderliche Anpassung der Bedarfssätze und Frei-
beträge enthält und die Förderlücke zwischen Bachelor und einem konseku-
tivem Master effektiv schließt;

2. das Deutschlandstipendium aufzugeben und einen Gesetzentwurf zur Aufhe-
bung des Stipendienprogrammgesetzes vorzulegen, der neue Bewilligungen
ausschließt und für die bereits bewilligten Stipendien deren ordnungsgemäße
Abwicklung ermöglicht;

3. in ihren Haushaltsplanungen vorzusehen, dass die in den Folgejahren durch
die Aufgabe des Deutschlandstipendiums frei werdenden Bundesmittel für
den weiteren Ausbau des BAföG zur Verfügung gestellt werden;

4. mit den Begabtenförderwerken in einen Dialog zu treten, um über gemein-
same Zielvereinbarungen sicherzustellen, dass die Studienförderung stärker
auf Chancengleichheit ausgerichtet wird, und die sozial benachteiligten Stu-
dierenden effektiver in den Blick nimmt;

5. die unzureichende „Stipendienlotterie“ für die beruflich Qualifizierten zu be-
enden, das Aufstiegsstipendium umgehend aufzustocken und ein Konzept
vorzulegen, wie ein entsprechender Rechtsanspruch auf eine Aufstiegsförde-
rung im AFBG schrittweise verankert werden kann;

Drucksache 17/11823 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
6. auf die beiden verbliebenen Länder mit allgemeinen Studiengebühren für das
Erststudium Niedersachsen und Bayern einzuwirken, damit diese die wissen-
schaftliche Fakten- wie bildungspolitische Meinungslage nicht länger igno-
rieren, koalitionsinterne Auseinandersetzungen nicht länger auf dem Rücken
der jungen Menschen austragen und umgehend die Studiengebühren in ihren
Ländern abschaffen.

Berlin, den 11. Dezember 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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