BT-Drucksache 17/11766

Missbrauchspotential der rechtlichen Situation von geringfügig Beschäftigten

Vom 28. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11766
17. Wahlperiode 28. 11. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner,
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Petra Hinz (Essen), Josip Juratovic,
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Caren Marks,
Katja Mast, Thomas Oppermann, Anton Schaaf, Silvia Schmidt (Eisleben),
Ottmar Schreiner, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Missbrauchspotential der rechtlichen Situation von geringfügig Beschäftigten

Immer wieder dringen aus Betrieben Einzelheiten über die Ausbeutung billiger
Arbeitskräfte an die Öffentlichkeit. Um Kosten zu sparen, werden die Rechte
geringfügig Beschäftigter umgangen, obwohl diese grundsätzlich die gleichen
Rechte wie reguläre Beschäftigte haben. Untersuchungen zeigen, dass es in der
Praxis weitreichenden Missbrauch bezüglich der rechtlichen Situation von
„Minijobbern“ gibt. Das im Teilzeit- und Befristungsgesetz verankerte Diskri-
minierungsverbot für geringfügig Beschäftigte wird in der Praxis vielfach un-
terlaufen.1 In der Wissenschaft ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass
eine Gleichbehandlung zwischen geringfügig und regulär Beschäftigten fak-
tisch nicht besteht.2

Zu der weiten Verbreitung sehr niedriger Löhne, die häufig das Diskriminie-
rungsverbot von Teilzeitbeschäftigten3 verletzen, gibt es zahlreiche Studien.
Geringfügig Beschäftigte müssen oftmals zu einem deutlich geringeren Stun-
denlohn arbeiten als Beschäftigte mit höherer Stundenzahl. Im Jahr 2006 war
das durchschnittliche Bruttoentgelt der Beschäftigten in Minijobs mit 8,98 Euro
pro Stunde nur etwa halb so hoch wie der Bruttostundenverdienst von Vollzeit-
beschäftigten, der bei 18,04 Euro lag.4

An anderer Stelle wird von einem großen Unternehmen des Lebensmittelein-
zelhandels berichtet, das mündliche Absprachen zwischen Geschäftsführung
und Betriebsrat trifft, die nach Tätigkeit gestaffelte Lohnhöhen innerhalb der

1 Dr. Claudia Weinkopf: Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages von Sachverständigen in Berlin am 22. Oktober 2012,
S. 48, Ausschussdrucksache 17(11)984.

2 Dr. Cristina Klenner, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages von Sachverständigen in Berlin am 22. Oktober 2012,

S. 62, Ausschussdrucksache 17(11)984; Dr. Claudia Weinkopf: Schriftliche Stellungnahme zur öffent-
lichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages von Sachver-
ständigen in Berlin am 22. Oktober 2012, S. 48, Ausschussdrucksache 17(11)984.

3 § 4 Absatz 1 Satz 2 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) gebietet ausdrücklich, einem teil-
zeitbeschäftigten Arbeitnehmer Arbeitsentgelt oder andere geldwerte Leistungen mindestens in dem
Umfang zu gewähren, welcher dem Anteil seiner Arbeitszeit an der Arbeitszeit eines vergleichbaren
vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entspricht.

4 Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Niedrigeinkommen und Erwerbstätigkeit, Begleitmaterialien zum
Pressegespräch am 19. August 2009 in Frankfurt am Main, S. 14, abrufbar unter www.destatis.de.

Drucksache 17/11766 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

geringfügigen Beschäftigung vorsehen.5 Neben dem Tarifgitter für die regulär
Beschäftigten existierte danach ein zweites, informelles Tarifgitter für Minijob-
berinnen und Minijobber, deren Anteil an der Belegschaft in den untersuchten
Filialen 35 Prozent betrug. Geringfügig Beschäftigte im Warenlager erhielten
einen Stundenlohn von 6,80 Euro (29 Prozent Lohnabschlag), diejenigen im
Kassen- und Bedienbereich 8 Euro, was einem Abschlag von 33 Prozent gegen-
über der tariflichen Gehaltsgruppe entsprach.

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Studie im sächsischen Einzelhandel,
nach der geringfügig Beschäftigte zum Teil nur die Hälfte des Tariflohns erhiel-
ten.6 Ebenso wird von systematischen Entlohnungsunterschieden bei einem
Textildiscounter und einem Lebensmitteldiscounter berichtet.7

Eine klare Ungleichbehandlung besteht auch bei Leistungen wie der Entgelt-
fortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten Urlaubstagen und dem Mutterschutz.
Im Jahr 2004 wurde z. B. an 7,6 Prozent der geringfügig Beschäftigten Entgelt-
fortzahlung im Krankheitsfall geleistet, von den Normalbeschäftigten erhielten
dagegen 56 Prozent diese Leistung.8 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist für
geringfügig Beschäftigte generell die Ausnahme.9

Dass in der Praxis trotz bestehender Gesetze ein großes Missbrauchspotenzial
besteht, zeigt auch das sogenannte Lohnsplitting. Indem die Lohnabrechnung
über mehrere Personen erfolgt, auch wenn die Lohnzahlung an nur eine Person
geht, werden Sozialabgaben reduziert und den Versicherungssystemen in gro-
ßem Maßstab Beiträge vorenthalten.10 Minijobs werden so missbraucht zur
Verdeckung von Schwarzarbeit, weil über den Minijob hinaus Lohnteile
„schwarz“ ausgezahlt werden. Während regulär Beschäftigte für ihren gesam-
ten Lohn Sozialversicherungsbeiträge zahlen, gilt das für geringfügig Beschäf-
tigte in den genannten Fällen nicht. Diese vermeintlich geringere Belastung
führt langfristig auch zu einem erhöhten Risiko von Altersarmut.

Der beschlossene Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Änderungen im Be-
reich der geringfügigen Beschäftigung (Bundestagsdrucksache 17/10773) geht
auf diese Themen nicht ein. Von diesem sind insbesondere Frauen betroffen,
die auch die Mehrheit der Beschäftigten in den Minijobs stellen.

In der Antwort der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/6986) vom
14. September 2011 auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD zur Entwick-
lung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland formuliert die Bundes-
regierung bezüglich der Diskriminierung von geringfügig Beschäftigten: „Des-
sen ungeachtet beobachtet und analysiert die Bundesregierung die tatsächliche
Entwicklung im Bereich der geringfügigen Beschäftigung. Dabei berücksich-
tigt die Bundesregierung auch die Aussagen der Bertelsmann-Stiftung.“

5 Dorothea Voss-Dahm, Über die Stabilität sozialer Ungleichheit im Betrieb: Verkaufsarbeit im Einzel-
handel, Berlin 2009, S. 223 ff.

6 Birgit Benkhoff/Vicky Hermet, Zur Verbreitung und Ausgestaltung geringfügiger Beschäftigung im
Einzelhandel, in: Industrielle Beziehungen 15/2008, S. 5 bis 31.

7 Lieselotte Hinz, Minijobs im Einzelhandel, in: WSI-Mitteilungen 1/2012, S. 58.
8 Rolf Winkel (2005): Minijob-Bilanz: Kaum Lohnfortzahlung bei Krankheit und Mutterschaft. In: So-

ziale Sicherheit 54, S. 292 bis 298.
9 Dr. Cristina Klenner, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für

Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages von Sachverständigen in Berlin am 22. Oktober 2012,
S. 62, Ausschussdrucksache 17(11)984; Rolf Winkel (2005): Minijob-Bilanz: Kaum Lohnfortzahlung
bei Krankheit und Mutterschaft. In: Soziale Sicherheit 54, S. 292 bis 298.

10 Deutscher Frauenrat, „Begünstigung von Missbrauch und ,Gestaltungsmöglichkeiten‘“, in: Deutscher
Gewerkschaftsbund, Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für

Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages von Sachverständigen in Berlin am 22. Oktober 2012,
Ausschussdrucksache 17(11)984.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11766

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die auf Bundestagsdrucksache 17/6986 angekündigte Beobachtung
und Analyse innerhalb eines Jahres neue Erkenntnisse gebracht?

Falls ja, was waren die zentralen Erkenntnisse?

2. Inwiefern konnten diese Erkenntnisse die Entscheidung, die Lohngrenze
für geringfügige Beschäftigung auf 450 Euro anzuheben, argumentativ
stützen?

3. Welche der auf Bundestagsdrucksache 17/6986 als berücksichtigungsfähig
zitierten Aussagen der Bertelsmann Stiftung empfehlen aus Sicht der Bun-
desregierung eine Anhebung der Lohngrenze für geringfügige Beschäfti-
gung auf 450 Euro?

4. Hat die Bundesregierung Kenntnis von den oben zitierten Studien bezüg-
lich faktischer Diskriminierung von geringfügig Beschäftigten, und welche
Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

5. Hat die Bundesregierung aus anderen Quellen Erkenntnisse über eine
faktische Schlechterstellung von geringfügig Beschäftigten ziehen können?

6. Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf, der über eine Beobachtung
und Analyse hinausgeht, und wenn ja, welchen?

7. Wie hoch schätzt die Bundesregierung die Summe der der Deutschen Ren-
tenversicherung entgangenen Beiträge durch Lohnsplittung oder nicht-
deklarierte Mehrarbeit?

8. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um die Rentenversiche-
rungsträger im Rahmen ihrer Betriebsprüfungen in die Lage zu versetzen,
festzustellen, ob bei geringfügig Beschäftigten bezüglich der Höhe des
Entgelts gegen bestehende Tarifverträge verstoßen wird?

9. Warum hat die Bundesregierung anlässlich der Veränderungen im Bereich
der geringfügigen Beschäftigung keine Gesetzesänderung initiiert, um das
Beitrags- und Meldeverfahren so zu ändern, dass die Träger der Sozialver-
sicherungen über den zeitlichen Umfang einer ausgeübten Beschäftigung
informiert werden?

Sprechen aus Sicht der Bundesregierung Argumente gegen eine derartige
Information?

10. Wie hoch ist der Anteil von angemeldeten geringfügigen Beschäftigungs-
verhältnissen, bei denen sich im Nachhinein herausstellt, dass die recht-
liche Grundlage nach § 8 Absatz 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB IV) nicht gegeben ist, weil

a) das Entgelt aus mehreren geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen
zusammen die Geringfügigkeitsgrenze überschritten hat,

b) die geringfügige Beschäftigung während eines ruhenden Arbeitsverhält-
nisses, des Bezugs von Arbeitslosengeld oder der Meldung einer Person
für eine mehr als kurzfristige Beschäftigung als arbeitsuchend erfolgt ist,

c) eine kurzfristige Beschäftigung doch „berufsmäßig“ ausgeübt worden
ist,

d) bei kurzfristigen Beschäftigungen die Grenze von zwei Monaten oder
50 Arbeitstagen innerhalb eines Kalenderjahres überschritten worden
ist,

e) nach Beendigung einer kurzfristigen Beschäftigung keine Unterbrechung
von zwei Monaten vor einer erneuten kurzfristigen Beschäftigung beim

selben Arbeitgeber erfolgt ist?

Drucksache 17/11766 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
11. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, wie viele Jahre Männer
und Frauen während ihrer gesamten Erwerbsbiographie in Minijobs be-
schäftigt sind, und wie hoch sind die Anteile in einer geringfügigen Be-
schäftigung

a) bis zu einem Jahr,

b) ein bis fünf Jahre,

c) fünf bis zehn Jahre und

d) länger als zehn Jahre?

12. Wie viele geringfügig Beschäftigte, die diese Tätigkeit mindestens über
einen Zeitraum von zehn Jahren ausüben, werden – differenziert nach
Geburtskohorten – mutmaßlich eine Rentenanwartschaft von weniger als
25 bzw. weniger als 30 Entgeltpunkte erwerben, wenn man die Studien
Altersvorsorge in Deutschland (AVID) 2005 und Alterssicherung in
Deutschland (ASID) 2007 zu Grunde legt?

13. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, den existierenden Rechtsan-
spruch auf Aufstockung der Arbeitszeit nach § 9 des Teilzeit- und Befris-
tungsgesetzes bekannter zu machen, damit mehr geringfügig Beschäftigte
in echte Teilzeit- oder Vollzeitstellen aufsteigen können?

Falls ja, welche Möglichkeiten zur besseren Bekanntmachung zieht die
Bundesregierung in Erwägung?

14. Wie kann sichergestellt werden, dass die Beschäftigten über ihre gesetz-
lichen Rechte in den Arbeitsverträgen informiert werden?

Berlin, den 28. November 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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