BT-Drucksache 17/11676

Taubblindheit als Behinderung eigener Art anerkennen - Merkzeichen Taubblindheit einführen

Vom 27. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11676
17. Wahlperiode 27. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme,
Petra Ernstberger, Elke Ferner, Iris Gleicke, Hubertus Heil (Peine), Josip Juratovic,
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast,
Thomas Oppermann, Anton Schaaf, Ottmar Schreiner, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Taubblindheit als Behinderung eigener Art anerkennen –
Merkzeichen Taubblindheit einführen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Taubblindheit ist eine Behinderung, die eigenständige Merkmale aufweist. Die
Betroffenen können im Gegensatz zu blinden oder gehörlosen Menschen die
Funktionseinschränkung eines Fernsinnes (Sehen/Hören) nicht durch den je-
weils anderen Sinn ausgleichen. Sie sind auf bedarfsgerechte und dauerhafte
Unterstützung und Assistenz angewiesen, um selbstbestimmt leben und an der
Gesellschaft teilhaben zu können. Die Behindertenrechtskonvention der Verein-
ten Nationen erwähnt in Artikel 24 Absatz 3 der UN-Behindertenrechtskon-
vention neben Blindheit und Gehörlosigkeit explizit die Taubblindheit und un-
terstreicht daher deren eigenständige Bedeutung.

Aufgrund des schwierigen Zugangs zu den Betroffenen sind lediglich Schätzun-
gen über ihre Zahl möglich. Der gemeinsame Fachausschuss Hörsehbehindert/
Taubblind (GFTB) des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e. V.
geht von ca. 6 000 Betroffenen bundesweit aus.

Eine Kombination der vorhandenen Merkzeichen im Schwerbehindertenaus-
weis „Bl“ (blind) und „Gl“ (gehörlos) ist nicht bei allen Betroffenen möglich.
Denn ein Bedarf besteht bereits dann, wenn noch geringe Seh- oder Hörreste
vorhanden sind. Auch würde sie kaum Rückschlüsse auf den mit dieser Behin-
derungsart verbundenen eigenständigen Bedarf erlauben. Die sichere Teilnahme
am Straßenverkehr beispielsweise ist für einen blinden oder gehörlosen Men-
schen allein schon eine große Herausforderung. Fällt ein weiterer Sinn weg,
wird diese ohne menschliche Assistenz unmöglich. Gefährliche Situationen dro-
hen und erhöhen die Gefahr, dass sich die Betroffenen in die soziale Isolation zu-
rückziehen.
Es ist notwendig, ein eigenständiges Merkzeichen „Taubblind“ („TBl“) einzu-
führen. Zum einen werden die Betroffenen dadurch „sichtbar“, zum anderen
können die bestehenden Bedarfe in die Leistungssysteme eingeordnet werden.

Der Bedarf taubblinder Menschen ist für unser Hilfe- und Unterstützungssystem
bisher weitgehend „unsichtbar“. Bedarfsgerechte Unterstützungsleistungen in
den Bereichen Kommunikation, Information, Mobilität, alltägliche Lebensfüh-

Drucksache 17/11676 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

rung, spezifische Hilfsmittel, Förder-, Reha- und Bildungsmaßnahmen stehen
nicht oder nur eingeschränkt im System der Leistungen zur Teilhabe zur Verfü-
gung. Dies betrifft vor allem die Versorgung mit Hilfsmitteln und Assistenz
durch die gesetzliche Krankenversicherung und die Eingliederungshilfe nach
dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.

Die Eingliederungshilfeträger und die gesetzlichen Krankenkassen, die Leistun-
gen zur Teilhabe bewilligen, orientieren sich an den zuerkannten Merkzeichen
„Gl“ und „Bl“. Die Einführung eines weiteren eigenständigen Merkzeichens für
Taubblindheit würde in einem ersten Schritt dazu führen, dass die Sichtbarkeit
der Behinderung und der damit verbundenen individuellen Bedarfe bei Leis-
tungsträgern und in der Gesellschaft gefördert würde. In weiteren Schritten ist
abzuwägen, welche spezifischen Leistungen für taubblinde Menschen in die
Leistungskataloge aufgenommen werden können. Hierbei sind die Betroffenen
und ihre Verbände von Anfang an einzubeziehen.

Der Zugang zu Informationen über ihre Umwelt und die daraus resultierende
Möglichkeit, alltägliche Tätigkeiten zu verrichten und an der Gesellschaft teil-
haben zu können, ist für taubblinde Menschen an technische und menschliche
Assistenz und Dolmetschung, zumeist über taktile Kommunikationsformen, ge-
bunden. Für diese Teilhabeleistung stehen nur selten ausreichende Mittel oder
ausreichend Personal zur Verfügung.

Assistenzpersonen, die taubblinde Menschen begleiten und unterstützen, müs-
sen nicht nur sicher in Führtechniken für blinde Menschen sein, sondern auch
unterwegs mit den Betroffenen kommunizieren und Gesprächsinhalte und zu-
sätzliche Informationen bedarfsgerecht vermitteln können. Taubblindenassis-
tentinnen und -assistenten werden derzeit nur projektbasiert ausgebildet. Quali-
fizierte Assistenz ist für taubblinde Menschen jedoch ein notwendiger Teil der
Assistenz, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können und dadurch ihre
Lebensbedingungen zu verbessern.

Auch die Beratung über mögliche Rehabilitations- und Eingliederungshilfeleis-
tungen sollte möglichst kompetent und barrierefrei sein. Nach Auskunft von Be-
troffenen wäre eine aufsuchende Beratung durch die verschiedenen Träger oder
Verbände am hilfreichsten. Solche aufsuchenden Beratungen werden bislang
nicht im ausreichenden Maß angeboten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• § 3 der Schwerbehindertenausweisverordnung um ein eigenständiges Merk-
zeichen „TBl“ (Taubblind) zu ergänzen. „TBl“ ist einzutragen, „wenn der
schwerbehinderte Mensch mindestens hochgradig sehbehindert und zugleich
mindestens an Taubheit grenzend schwerhörig ist“. Schwerbehinderte Men-
schen, denen das Merkzeichen „TBl“ zuerkannt wird, sollen alle Rechte er-
halten, die aus den Merkzeichen „Bl“, „Gl“, „B“, „H“ und „RF“ abgeleitet
werden;

• die Förderung der Verständigung von taubblinden Menschen permanent und
nicht nur anlassbezogen leistungsrechtlich abzusichern. § 17 Absatz 2 des
Ersten Buches Sozialgesetzbuch, § 57 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
und alle weiteren Gesetzestexte, in welchen das Gebärdendolmetschen be-
reits anlassbezogen geregelt ist, müssen entsprechend geändert werden. Die
Bundesregierung soll dem Deutschen Bundestag hierzu einen Gesetzentwurf
vorlegen;

• die Aus- und Weiterbildungen von Taubblindendolmetschern und Taub-
blindenassistentinnen und -assistenten im Einvernehmen mit den Ländern zu
fördern;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11676

• mit den Ländern im Zuge der Etablierung eines einheitlichen Verfahrens der
Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe, Richtlinien für die Bedarfsermitt-
lung für taubblinde Menschen auszuarbeiten;

• die unabhängige Beratung von taubblinden Menschen flächendeckend und
wohnortnah zu fördern. Bestehende Beratungsangebote der Rehabilitations-
träger, Selbsthilfeorganisationen und Wohlfahrtsverbände sind einzubezie-
hen und entsprechend um Ressourcen für eine qualifizierte aufsuchende
Fachberatung zu ergänzen;

• darauf hinzuwirken, dass die Qualifizierung und Sensibilisierung von Ver-
waltungsmitarbeitenden der Rehabilitationsträger, insbesondere der Träger
der gesetzlichen Krankenversicherung und der Eingliederungshilfeträger,
hinsichtlich der Bedarfe taubblinder Menschen vorangetrieben werden. In
Anbetracht der geringen Zahl der Betroffenen sollte zumindest schwerpunkt-
bezogen ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden sein, welches mit den
Betroffenen arbeiten kann. Zu prüfen ist, ob auch hier aufsuchende Beratung
angeboten werden sollte;

• sich dafür einzusetzen, dass die Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen
Bundesausschusses um Regelungen für Hilfsmittel für taubblinde Menschen
ergänzt wird;

• darauf hinzuwirken, dass das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Kran-
kenversicherung um Regelungen für Hilfsmittel für taubblinde Menschen
ergänzt wird;

• die Entwicklung von bedarfsgerechten Hilfsmitteln im Sinne des Artikels 20
Buchstabe d der UN-Behindertenrechtskonvention zu fördern. Die nur ge-
ringe Zahl der Betroffenen macht verstärkte Anreize für Hersteller-Unterneh-
men nötig, um Hilfsmittel zu entwickeln und in den Markt einzuführen;

• die aufgeführten Maßnahmen in den Aktionsplan der Bundesregierung zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bei der Fortschreibung des
Aktionsplans aufzunehmen und einen Umsetzungshorizont verbindlich fest-
zulegen.

Berlin, den 27. November 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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