BT-Drucksache 17/11206

Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur unverzüglichen Stilllegung besonders gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in Frankreich

Vom 24. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11206
17. Wahlperiode 24. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, Markus Tressel,
Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch,
Dr. Hermann E. Ott, Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Harald Ebner,
Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, Stephan Kühn, Friedrich Ostendorff,
Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Daniela Wagner, Dr. Valerie Wilms
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bilaterale Verhandlungen aufnehmen zur unverzüglichen Stilllegung besonders
gefährlicher grenznaher Atomkraftwerke in Frankreich

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die französische Regierung unter Präsident François Hollande hat eine Neuaus-
richtung der französischen Energiepolitik angekündigt, in deren Rahmen bis
2025 der Atomkraftanteil an der Stromproduktion von heute rund 75 Prozent auf
50 Prozent gesenkt werden soll. Als einen der ersten Schritte gab Präsident
François Hollande bekannt, dass das Atomkraftwerk (AKW) Fessenheim spä-
testens Ende 2016 endgültig stillgelegt werden soll. In absehbarer Zeit ist eine
Entscheidung über weitere Abschaltdaten anderer französischer AKWs zu er-
warten.

Diese Entscheidung und generell die französische Energiepolitik liegt nun einer-
seits selbstverständlich in der nationalen Hoheit Frankreichs, die der Deutsche
Bundestag ausdrücklich respektiert. Anderseits stellen AKWs als Hochrisiko-
technologie einen energiepolitischen Sonderfall dar, weil bei einem katastropha-
len Unfall das Schadensausmaß nicht an Landesgrenzen Halt macht. Der Atom-
unfall von Tschernobyl kontaminierte rund 40 Prozent der Fläche Europas.

Bei Hochrisikotechnologien steht der zu respektierenden Souveränität eines
Staates immer auch das ebenso berechtigte Schutzbedürfnis der Bevölkerung im
Nachbarstaat gegenüber. Dessen Wahrung zählt zu den zentralen Aufgaben des
Staates. Aus der Pflicht zur bestmöglichen Schadensvorsorge ergibt sich für die
Bundesregierung die Notwendigkeit, die Menschen in Deutschland auch vor den
Gefahren ausländischer AKWs so gut sie kann zu schützen. Gerade bei beson-
ders gefährlichen Atomkraftwerken in Grenznähe kann dies auch heißen, sich
für eine unverzügliche Stilllegung zu engagieren, wenn es aus sachgerechten

Gründen der Sicherheit angezeigt ist.

Bei den französischen AKWs Cattenom und Fessenheim ist dies der Fall. Sie
befinden sich in unmittelbarer Grenznähe zu Deutschland, und es handelt sich
bekanntermaßen um besonders gefährliche und alte Atomkraftwerke, deren
wesentliche Defizite und Risiken sich nicht mehr durch Nachrüstungen beheben
lassen.

Drucksache 17/11206 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Fessenheim ist das älteste AKW Frankreichs, das noch in Betrieb ist. Somit ist
schon die Grundauslegung die veraltetste in Frankreich. Dies dürfte mit ein
Grund sein, warum sich in Fessenheim im innerfranzösischen Vergleich beson-
ders viele Zwischenfälle ereignen.

Hinzu kommt eine unter Sicherheitsaspekten denkbar ungünstige Lage. Das
Kraftwerksgelände befindet sich in der erdbebengefährdeten Region Oberrhein-
graben. Kritische Experten weisen schon länger neben den direkten Erdbeben-
gefahren für sicherheitskritische Komponenten auch auf das Risiko einer durch
Überflutung verursachten Kernschmelze hin. Ein Versagen des Dammbau-
werks, das das Kraftwerksgelände vom höher gelegenen Rheinseitenkanal
trennt, aus dem Fessenheim sein Kühlwasser bezieht, kann nicht sicher ausge-
schlossen werden.

Vor dem Hintergrund der spezifischen Erdbeben- und Überflutungsrisiken Fes-
senheims ist ein weiteres Manko der Anlage umso besorgniserregender. Fessen-
heim besitzt das dünnste Fundament des gesamten französischen AKW-Parks.
Mittlerweile sind sich auch die französische Atomaufsicht und der Betreiber
Électricité de France (EDF) bewusst, dass es sich hierbei um eine erhebliche
Schwachstelle handelt. Da eine umfassende Fundamentverstärkung nachträg-
lich nicht realisierbar ist, wurde EDF eine reduzierte Nachrüstmaßnahme zur
Auflage gemacht. Doch selbst deren Umsetzung wird mehr als fünf Jahre in An-
spruch nehmen. Mithin wird es für ein gravierendes Defizit Fessenheims, das
mittlerweile allseits anerkannt ist, bis zum bislang geplanten Abschalttermin
nicht einmal mehr eine Minimalabhilfe geben können.

Erhebliche Zweifel bestehen auch an der Zuverlässigkeit der Notstromversor-
gung Fessenheims. Ein Versagen der Notstromversorgung war eine der wesent-
lichen Ursachen der Atomkatastrophe von Fukushima. Daher ist dieses Defizit
Fessenheims ein Grund mehr, die Anlage unverzüglich stillzulegen.

Das AKW Cattenom weist ähnlich gravierende Defizite auf, wie der im Auftrag
von Rheinland-Pfalz, Saarland und Luxemburg vom langjährigen Unterabtei-
lungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesministerium für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit, Dieter Majer, erstellte Expertenbericht über den
Cattenom-Stresstest belegt. So bestehen erhebliche Zweifel an der Zuverlässig-
keit elektrischer Einrichtungen, Kabelführungen, Pumpen und Wasserzuleitun-
gen. Zum Teil räumt der Cattenom-Betreiber EDF selbst „eine relativ geringe
Zuverlässigkeit“ wichtiger Komponenten, wie beispielsweise Ventile zur Druck-
entlastung, ein.

Erhebliche Zweifel bestehen auch an der Sicherheit der Verbindungsstation zwi-
schen den vier Cattenom-Blöcken und dem nahegelegenen Mirgenbachsee. Ein
Versagen dieser Verbindungsstation würde zu einer Überflutung des niedriger
gelegenen Kraftwerksgeländes von Cattenom führen. Wie bei Fessenheim stellt
auch die nicht genug redundante und ungesicherte Notstromversorgung ein gra-
vierendes Defizit dar.

Ein weiteres Defizit beider Anlagen besteht darin, dass sie einerseits nicht gegen
Flugzeugabstürze ausgelegt sind, aber andererseits in der Nähe internationaler
Flughäfen liegen.

Bislang zeigt die Bundesregierung kaum Interesse, sich ein eigenständiges Bild
über die wichtigsten Sicherheitsdefizite grenznaher französischer AKWs zu bil-
den und im Rahmen der bestehenden Kooperation mit Frankreich auf dem Ge-
biet der Nuklearsicherheit zu thematisieren. Dies kommt in ihren Antworten auf
mehrere parlamentarische Anfragen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
deutlich zum Ausdruck, siehe beispielsweise Bundestagsdrucksachen 17/8817
und 17/9905. Auch die durch den EU-Stresstest generierten Informationen zu

ausländlichen Anlagen will sie lediglich im Hinblick auf etwaige Rückschlüsse
für deutsche Anlagen analysieren lassen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11206

Die geplante Neuausrichtung der französischen Energiepolitik stellt eine einma-
lige Gelegenheit dar, die die Bundesregierung nicht ungenutzt verstreichen las-
sen darf. Noch nie gab es eine solche Bereitschaft seitens der französischen
Staatsregierung, einen Kurswechsel in der Atompolitik einzuleiten. Durch die
Aufnahme bilateraler Gespräche könnte es der Bundesregierung gelingen, sich
kooperativ und erfolgreich für die unverzügliche Stilllegung der besonders ge-
fährlichen AKWs Frankreichs zu engagieren.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• bilaterale Verhandlungen mit Frankreich zum Zweck einer unverzüglichen
Stilllegung der beiden grenznahen, besonders anfälligen und alten AKWs
Cattenom und Fessenheim aufzunehmen;

• anders als bislang die durch den EU-Stresstest generierten Informationen
über den Sicherheitszustand der französischen AKWs systematisch auszu-
werten bzw. auswerten zu lassen; insbesondere den Expertenbericht von Die-
ter Majer über den Cattenom-Stresstest;

• die Ergebnisse dieser Analyse in die bilaterale Kooperation mit Frankreich
zwecks nötiger Nachrüstungen oder weiterer Stilllegungen einzubringen;

• die von ihr nach Fukushima vorgenommene Neubewertung des atomaren
Risikos auch konsequent durch eine verbesserte Kooperation mit Frankreich
auf dem Gebiet der Nuklearsicherheit umzusetzen; insbesondere indem ein-
geführt wird, in der Deutsch-Französischen Kommission, für Fragen der
Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen wesentliche AKW-spezifische
Unterlagen systematisch auszutauschen und zu diskutieren;

• sich deutlich stärker als bislang der Risiken anzunehmen, die von grenznahen
AKWs im Ausland ausgehen, und dabei auf eine möglichst rasche Abschal-
tung der besonders alten und anfälligen AKWs zu dringen;

• die deutsche Öffentlichkeit deutlich besser über den Zustand und die Sicher-
heitsrisiken grenznaher ausländischer AKWs und diesbezügliche Tätigkeiten
der Bundesregierung zu informieren.

Berlin, den 24. Oktober 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.