BT-Drucksache 17/11201

Starke Forschung für die Energiewende

Vom 24. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11201
17. Wahlperiode 24. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Michael Gerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
Ulla Burchardt, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, Klaus Hagemann, Oliver Kaczmarek,
Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Florian Pronold, René Röspel, Marianne Schieder
(Schwandorf), Swen Schulz (Spandau), Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Starke Forschung für die Energiewende

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Fragen zur Sicherstellung der Energieversorgung durchdringen alle Berei-
che der Gesellschaft, ob Wirtschaftsstruktur, Arbeitsmarkt, Infrastruktur, Le-
bensgewohnheiten, Gesundheit, Mobilität oder Friedenspolitik. Die Herausfor-
derung besteht darin, diese Ziele in einem neuen integrativen und systemischen
Ansatz miteinander zu verbinden, Deutschland von der Ressourcenknappheit
unabhängiger zu machen und voranzugehen bei der internationalen Lösung der
Energie- und Klimakrise.

Am 30. Juni 2011 hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit zum zweiten
Mal den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie beschlossen. Allein mit
einem Ausstieg aus der Atomenergie ist die Energiewende noch lange nicht er-
reicht. Vielmehr ist es jetzt notwendig, den eingeleiteten Umbau unseres Energie-
systems hin zu einem nachhaltigen Energiedienstleistungssystem fortzusetzen.

Die Energiewende ist eine große Herausforderung und Chance für die Wissen-
schaft und Forschung in Deutschland. Der Deutsche Bundestag will die rich-
tigen Rahmenbedingungen setzen, damit die klügsten Köpfe unseres Landes
dazu beitragen können, die Energiewende nachhaltig, sicher sowie sozial und
ökonomisch gerecht zu gestalten.

Übergeordnete Ziele für die Energieforschung sind die Steigerung der Energie-
effizienz sowie die dauerhaft sichere Bereitstellung von Energie.

Forschung für die Energiewende sollte sich nicht nur auf technische Innovatio-
nen konzentrieren. Der Deutsche Bundestag setzt ebenso auf sozialwissen-
schaftliche Forschungsprojekte, die Möglichkeiten zum bewussten und effizien-
ten Umgang mit Energie und Wege zu mehr Akzeptanz neuer Technologien
aufzeigen. Der Deutsche Bundestag strebt die Einsparung von Energie in allen
gesellschaftlichen Bereichen an. Dazu gehören auch eine Verhaltensänderung in
den Privathaushalten und moderne Mobilitätskonzepte. Effizienzverbesserun-

gen dürfen nicht, wie in der Vergangenheit geschehen, dazu führen, dass mehr
elektrische Geräte genutzt werden und der Verbrauch in der Summe steigt. Der
sogenannte Rebound-Effekt muss vermieden werden.

Die Energiewende wird erhebliche Investitionen notwendig machen. Wissen-
schaft und Forschung können einen Beitrag dazu leisten, dass diese Mittel mög-
lichst effizient eingesetzt werden und die Kosten langfristig sinken. Hierzu ist
ein ganzheitlicher Ansatz der Energieforschungsförderung unabdingbar.

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Wenn es gelingen soll, bis 2050 Strom vollständig aus erneuerbaren Energien zu
gewinnen, müssen die Energieforschungsaktivitäten konsequent auf dieses Ziel
fokussiert werden. Dazu gehört, dass die Energieforschung insgesamt deutlich
ausgeweitet wird und dass die verschiedenen Forschungsaktivitäten besser ver-
netzt werden. Dabei muss die gesamte Bandbreite der erneuerbaren Energien,
der Effizienztechnologien und der Speichertechnologien bedacht werden.

Für einen echten Systemwechsel ist es zudem unabdingbar, die europäische For-
schungsförderung weg von der Mittelkonzentration auf Atomforschung hin zur
Erforschung und Anwendung erneuerbarer Energien zu führen. Das muss auch
ein Schwerpunkt des 8. Forschungsrahmenprogramms der Europäischen Union
„Horizont 2020“ werden. Ebenfalls sollte der Vertrag zur Gründung der Europä-
ischen Atomgemeinschaft (Euratom) überprüft werden und eventuell frei wer-
dende Mittel auf die Förderung der Erforschung und Entwicklung erneuerbarer
Energien fokussiert werden.

Mit dem am 3. August 2011 vom Bundeskabinett verabschiedeten 6. Energiefor-
schungsprogramm der Bundesregierung „Forschung für eine umweltschonende,
zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung“ hat die Bundesregierung nach
zahlreichen Verzögerungen ihre Ideen zur Energieforschung vorgestellt. Das
Programm ist zum 1. September 2011 in Kraft getreten und ist in seinen Grund-
zügen zu begrüßen.

Ungeachtet der positiven Elemente des Programms zeigt sich jedoch, dass die
Bundesregierung die Energiewende immer noch nicht in allen politischen Facet-
ten vollzogen hat. Insbesondere die hohen Ausgaben für die Atomforschung ent-
sprechen nicht dem beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft.

In der Gesamtbetrachtung kommen z. B. die Entwicklung und Förderung von
neuen Energiedienstleistungen und die Energiesystemtechnik (Netzausbau,
Netzintegration, Energiemanagement) im 6. Energieforschungsprogramm viel
zu kurz. Dabei bietet dieser wachsende Dienstleistungssektor erhebliche Ar-
beitsmarktpotenziale. Eine Berücksichtigung der Auswirkungen der Ener-
giewende auf den Arbeitsmarkt oder Überlegungen zu etwaigen zukünftigen
Bedarfen und Qualifikationsprofilen finden im Programm der Bundesregie-
rung so gut wie nicht statt. Die arbeits- und industriepolitischen Auswirkungen
der Energiewende sind aber für die Akzeptanz der politischen Grundsatz-
entscheidung sowie für die Stabilität des Industriestandortes Deutschland von
großer Bedeutung.

Auch die Finanzierung der Energieforschung im Rahmen des Energie- und
Klimafonds (EKF) ist fraglich, zumal die Einnahmen nicht kalkulierbar sind. Im
Januar 2012 war der Preis für die CO2-Zertifikate, aus deren Verkauf der EKF
gespeist wird, deutlich geringer als erwartet. In der Folge stehen weniger
Finanzmittel für die Projekte der Energiewende zur Verfügung. Die finanzielle
Förderung der Energieforschung muss deshalb neu ausgerichtet und stabilisiert
werden. Forschung und Wissenschaft brauchen Planungssicherheit.

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

– ohne eine breit aufgestellte Grundlagenforschung kann und wird die Umset-
zung der Energiewende nicht gelingen;

– die von Politik und Gesellschaft mit deutlicher Mehrheit gewünschte Ener-
giewende hat den Problem- bzw. Handlungsdruck für die Energieforschung
signifikant erhöht;

– die Förderung der Energieforschung muss ein ganzheitliches und entwick-
lungsoffenes Konzept zur Grundlage haben;

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– die Gestaltung der Energiewende ist eine globale Herausforderung, die sich
nur bewältigen lässt, wenn europäische und internationale Kooperationen an-
gestrebt werden.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt

– grundsätzlich die Vorlage des 6. Energieforschungsprogramms der Bundes-
regierung;

– die Stellungnahmen von Expertinnen und Experten, von Interessengruppen,
von Beratungsgremien und von vielen Bürgerinnen und Bürgern, die sich in
den vergangenen Monaten mit ihrem Wissen und ihren Vorschlägen in die
Debatte zur Umsetzung der politisch beschlossenen Energiewende einge-
bracht haben.

III. Der Deutsche Bundestag bedauert,

– dass die Atompolitik der Bundesregierung bis zur Katastrophe von Fuku-
shima eine zukunftsorientierte und nachhaltige Weiterentwicklung der Ener-
giepolitik und der Energieversorgung verhindert bzw. erheblich verzögert
hat;

– dass das Konzept der Bundesregierung für das 6. Energieforschungspro-
gramm an den Ressortzuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung und
nicht entlang der Themen oder Herausforderungen ausgerichtet wurde. Dies
verdeutlicht, dass die Bundesregierung offenkundig nicht in der Lage ist, eine
echte, ressortübergreifende Strategie zur Energieforschung zu verfassen;

– das Fehlen einer Fachkräftestrategie, da schon heute das Potenzial von Wis-
senschaft und Industrie in der Energieforschung und der Entwicklung neuer
Energietechnologien durch den Fachkräftemangel nicht ausschöpfbar ist.

IV. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Förderung der Energieforschung unabhängig von den Eigeninteressen der
beteiligten Ressorts der Bundesregierung ganzheitlich zu denken und aus-
zugestalten;

– die Kompetenzen der verschiedenen Ressorts im Bereich der Energie-
forschung besser zu koordinieren und für Forscherinnen und Forscher trans-
parenter zu machen;

– möglichst schnell die im 6. Energieforschungsprogramm angesprochene
„Landkarte der Energieforschung“ (S. 119) vorzulegen, um besser einschät-
zen zu können, welche Energieforschungsbereiche gegebenenfalls gestärkt
werden müssen;

– den Deutschen Bundestag über den Sachstand des Vorhabens „Energietech-
nologie- Radar“ (S. 115) zu informieren;

– die Arbeitsweise der Koordinierungsplattform Energieforschungspolitik zu
erläutern bzw. transparent zu machen und zeitnah den im Energieforschungs-
programm angesprochenen „Bundesbericht Energieforschung“ vorzulegen;

– die im EKF veranschlagten Forschungsgelder über den Bundeshaushalt
bzw. die Einzelpläne der Ressorts zur Verfügung zu stellen, um die großen
Chancen im Bereich der Effizienztechnologien bei Stromerzeugung und
Stromverbrauch sowie Wärmeerzeugung und Wärmeverbrauch wahrzuneh-
men und die Erforschung effizienter Energienutzung auszubauen;

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– die Mittel für die Atomforschung insgesamt nicht weiter anzuheben, sondern
entsprechend der Abnahme der Bedeutung der Atomenergie für den deut-
schen Energiemix mittelfristig umzuschichten;

– die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Kernspaltung auf Sicher-
heits- und Gesundheitsfragen zu beschränken;

– die Forschungsmittel für die Kernfusion zu begrenzen, da die Fusions-
forschung auf absehbare Zeit keine Option der Energieversorgung ist;

– den Euratom-Vertrag zu überprüfen und eventuell frei werdende Mittel auf
die Förderung der Erforschung und Entwicklung erneuerbarer Energien zu
fokussieren;

– auf europäischer Ebene bei der Ausgestaltung des 8. Forschungsrahmenpro-
gramms „Horizont 2020“ darauf hinzuwirken, dass die Energieforschung
deutlich ausgebaut wird;

– die grenzüberschreitende Energieforschung auszubauen. Eine nachhaltige
Energieversorgung kann nur gelingen, wenn die Potenziale (Know-how,
natürliche Gegebenheiten und Finanzen) der europäischen Nachbarn mitein-
ander verknüpft werden;

– die Forschungsprogramme in den Bereichen erneuerbare Energien, Strom-
und Wärmespeicherung sowie intelligente Stromnetze deutlich auszubauen;
diesbezüglich muss die größte Aufmerksamkeit der Frage gelten, wie das
Stromnetz an die zunehmend dezentrale und volatile Erzeugung angepasst
werden kann;

– eine Aufstockung der Forschungsmittel zur Effizienzverbesserung bei ener-
gieintensiven Prozessen und Technologien (energiesparende Produktionsver-
fahren) in der Industrie vorzunehmen. Die Kooperation zwischen Industrie,
produzierendem Gewerbe und Grundlagenforschung ist zu verstärken. Be-
sonders zu beachten sind z. B. Innovationen zur Steigerung von Wirkungs-
graden, Ideen zur Energierückgewinnung und die Entwicklung von Energie-
managementsystemen;

– die Haushaltsmittel für die Werkstoff- und Materialforschung zu erhöhen;
durch die Entwicklung neuer Werkstoffe kann die Materialforschung einen
entscheidenden Beitrag zur Energiewende leisten;

– die Haushaltsmittel für die Erforschung energie- und ressourcenschonender
chemischer Prozesse (Katalyseforschung) und die Biotechnologie zu erhö-
hen;

– die bisher vernachlässigte Lebenszyklusbetrachtung der Baustoffe und
technischen Anlagen (Herstellung, Nutzung und Rückbau, Entsorgung,
Recycling) in die Energieeffizienzbetrachtung im Sinne einer nachhaltigen
Ressourcennutzung einzubeziehen;

– eine nationale Strategie zur Dienstleistungsforschung rund um die moderne,
effiziente und dezentrale Energiegewinnung und -versorgung von morgen
vorzulegen; der Kundennutzen bzw. die Sicht des Verbrauchers muss eine
wesentlicher Bewertungsmaßstab zur Förderung von Projekten in der Ener-
gieforschung sein;

– die Verbraucherforschung und Erforschung der sozialen Dimension der
Energiewende zu intensivieren, zumal die Umsetzung der Energiewende
maßgeblich von privaten Investitionsentscheidungen abhängt; Akzeptanz,
Identifikation und thematische Sensibilisierung zur Änderung des Nutzerver-
haltens, aber auch Aufklärung und Nachvollziehbarkeit technischer Neue-
rungen sind wesentliche Bedingungen für den dauerhaften Erfolg der Ener-

giewende; Technikwissenschaften und Geisteswissenschaften müssen zu

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gemeinsamen Forschungsprojekten angehalten werden; technische Frage-
stellungen dürfen nicht losgelöst von Mensch und Gesellschaft erörtert wer-
den;

– eine langfristige Untersuchung über die sozioökonomischen Auswirkungen
der energetischen Gebäudesanierung und der betriebswirtschaftlichen und
volkswirtschaftlichen Gesamtkosten auf den Weg zu bringen;

– die kommunale Dimension der Energiewende („energieeffiziente Stadt“)
stärker in das Blickfeld zu nehmen und Modellprojekte zu erforschen und zu
fördern;

– gemeinsam mit den Bundesländern eine Strategie zur Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses im Bereich der Energieforschung zu entwickeln,
insbesondere mit Blick auf Studiengänge für erneuerbare Energien und
Effizienztechnologien;

– Vorschläge zu erarbeiten, wie man das Interesse der Jugend an der Energie-
und Grundlagenforschung stärker wecken kann;

– die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Energiebranche von heute
und morgen zu erforschen. Hierbei geht es einerseits um mögliche Gefahren
im Umgang mit neuen Technologien und den vorbeugenden Gesundheits-
schutz. Andererseits brauchen wir Erkenntnisse über neue Berufsbilder und
Anforderungen bei der beruflichen Erstausbildung in der Energiebranche
sowie notwendige Maßnahmen zu beruflichen Weiterbildung.

Berlin, den 24. Oktober 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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