BT-Drucksache 17/11169

Stand und Perspektive der "Dual-Use"-Problematik in der biologischen Sicherheitsforschung an hochpathogenen Erregern

Vom 24. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11169
17. Wahlperiode 24. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, Edelgard
Bulmahn, Ulla Burchardt, Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke, Klaus
Hagemann, Wolfgang Hellmich, Oliver Kaczmarek, Ute Kumpf, Thomas
Oppermann, Florian Pronold, Dr. Carola Reimann, Marianne Schieder
(Schwandorf), Swen Schulz (Spandau), Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

Stand und Perspektive der „Dual-Use“-Problematik in der biologischen
Sicherheitsforschung an hochpathogenen Erregern

Technikverfahren oder Gegenstände mit doppeltem Verwendungszweck, welche
militärisch wie auch zivil genutzt werden können, werden unter Fachleuten mit
dem Begriff „dual use“ bezeichnet. Im Bereich der Biowissenschaften befürch-
ten Experten, dass Technologien, Materialien und das Wissen über zum Beispiel
Viren und deren Verbreitung oder Ausbringung für die Entwicklung von Bio-
waffen zum Beispiel durch Terroristen genutzt werden könnten. Auch in diesem
Fall spricht man von der „Dual-Use“-Problematik. Dabei geht es aber anders als
bei den meisten konventionellen „Dual-Use“-Gütern wie zum Beispiel Lkws
oder Motoren nicht nur um Geräte und Materialien, sondern insbesondere auch
um Wissen. In der Wissenschaft, insbesondere in der Grundlagenforschung, ist
die Veröffentlichung von Ergebnissen eine maßgebliche Voraussetzung für die
Überprüfung und Fortentwicklung des Wissens und der Erkenntnisse. Eine Be-
grenzung des Wissens und damit eine Einschränkung (soweit dies überhaupt
möglich ist) der Erkenntnismöglichkeiten müssen also sehr gut begründet werden.

Aktuell ist das Thema „dual use“ durch die Diskussionen über die Veröffent-
lichung zweier Studien zur Übertragbarkeit des H5N1-Virus von Ron Fouchier
bzw. Yoshihiro Kawaoka in den Fokus gerückt. Dabei wurde das hochpatho-
gene, aber nicht von Mensch zu Mensch übertragbare H5N1-Virus genetisch so
verändert, dass es – zumindest bei Frettchen – über die Luft übertragbar war.
Einige Experten befürchten, dass das veröffentlichte Wissen für terroristische
Zwecke genutzt werden könnte. Mit dieser Begründung entschieden sich im
Dezember 2011 die Mitglieder des „National Science Advisory Board for Bio-
security“ (NSABB) der USA gegen eine vollständige Veröffentlichung der
Studien. Eine „Study-Group“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kam im
Februar 2012 zu dem Schluss, dass die Studien prinzipiell notwendig im Kampf

gegen Infektionskrankheiten seien und deshalb vollständig veröffentlicht wer-
den sollten. Die NSABB schloss sich diesem Votum später an, so dass beide
Studien Mitte 2012 komplett in den angesehenen Fachzeitschriften „Science“
bzw. „nature“ veröffentlicht werden konnten. Die Unsicherheit der beteiligten
Einrichtungen und Personen, ob das Gefährdungspotenzial durch den Erkennt-
nisgewinn für die Grippebekämpfung aufgewogen wird, zeigt, wie unsicher
selbst Expertinnen und Experten in „Dual-Use“-Fragen in den Naturwissen-

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schaften agieren. Darüber hinaus wurde ebenfalls anlässlich dieser Diskussio-
nen der Mangel an klaren Richtlinien zur Einschätzung des Gefährdungspoten-
zials biowissenschaftlicher Forschung und zum Umgang mit potenziell miss-
brauchsgefährdeten Studien offenbar.

Auch nach der Veröffentlichung ging die Diskussion um den richtigen Umgang
mit ähnlichen Publikationen im Bereich der Lebenswissenschaften weiter. Ins-
besondere in den USA wird nun diskutiert, welche Forschung notwendig ist und
welche Strukturen dafür gebraucht werden, um in ähnlichen Fällen adäquater
und schneller entscheiden zu können. In Deutschland werden diese Diskussio-
nen bisher nur vereinzelt geführt. So beschäftigt sich seit Kurzem der Deutsche
Ethikrat mit dem Thema „Biosicherheit und Forschungsfreiheit“. Denn auch in
Deutschland wird an öffentlich finanzierten Forschungsinstituten an hochpatho-
genen Viren und Bakterien geforscht und darüber publiziert. Aus diesem Grund
wird sich der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
des Deutschen Bundestages im November 2012 in einem Expertengespräch mit
den „Dual-Use“-Aspekten in den Biowissenschaften auseinandersetzen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Mit welcher Summe hat die Bundesregierung – aufgeschlüsselt nach Res-
sorts – die Forschung an hochpathogenen Erregern jährlich seit 1999 ge-
fördert?

2. Welche Summe wurde bisher im Forschungsprogramm für die zivile Sicher-
heit für den Bereich der Forschung an und mit hochpathogenen Erregern
ausgegeben bzw. zugesagt (bitte nach Projekten auflisten)?

Wie hoch war der finanzielle Anteil der Geistes- und Sozialwissenschaften
(bitte nach Projekten auflisten)?

3. Welche Summe wurde bisher im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm (2007 –
2013) für die Forschung an und mit hochpathogenen Erregern ausgegeben
bzw. zugesagt (bitte nach Projekten auflisten)?

Wie hoch war der finanzielle Anteil der Geistes- und Sozialwissenschaften
(bitte nach Projekten auflisten)?

4. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Anzahl der Hoch-
sicherheitslabore (BL-3 und BL-4) seit 1999 in Deutschland entwickelt (bitte
Anzahl der Labore nach BL-3 und BL-4 pro Jahr bis heute angeben)?

5. Welche Hochsicherheitslabore der Stufen BL-3 und BL-4 existieren nach
Kenntnis der Bundesregierung aktuell in Deutschland (bitte nach Orten und
Datum der ersten Arbeitsaufnahme/Eröffnung sowie Jahren der letzten um-
fassenden Renovierung und Trägern der Einrichtung auflisten)?

6. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Anzahl der Hochsicher-
heitslabore (BL-4) bzw. vergleichbarer Labore nach 2001 in Europa, den
USA und Russland verändert?

7. Wie viele Personen haben nach Kenntnis der Bundesregierung 1999 und
2011 an hochpathogenen Erregern/bioterroristisch relevanten Erregern in
Deutschland gearbeitet (ohne Diagnostik)?

8. Welche Zugangsbeschränkungen gibt es für BL-3- bzw. BL-4-Labore in
Deutschland?

9. Wie werden Personen überprüft, die einen Zugang zu einem BL-4-Labor er-
halten sollen, werden diese Überprüfungen nach einer gewissen Zeit wieder-
holt, und unter welchen Umständen verliert man die Zugangsberechtigung

wieder?

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10. Welche Gremien entscheiden in Deutschland über die Publikation einer
Studie mit „Dual-Use“-Aspekten?

11. Welche Unfälle hat es nach Kenntnis der Bundesregierung seit 2001 in
deutschen BL-3- und BL-4-Laboren gegeben (bitte Datum, Ort, Anzahl der
Betroffenen, involviertes Agens auflisten)?

12. Nach welchen Kriterien wird in Deutschland über die Veröffentlichung
einer Studie mit „Dual-Use“-Aspekten“ entschieden?

13. Welchen Publikationsbeschränkungen unterliegen Biowissenschaftler, die
sich an Forschungsprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung beteiligen?

14. Welche Fragen sollten nach Auffassung der Bundesregierung im Bereich
der Forschung an hochpathogenen biologischen Erregern prioritär bearbei-
tet werden?

15. Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus der Debatte über die
Publikation der H5N1-Studien bereits gezogen, und welche Konsequenzen
plant die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode zu ziehen?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung die Effizienz von Verhaltenskodizes für
die Forschung an biologischen Erregern, und sind der Bundesregierung
Fälle bekannt, bei denen Forscherinnen/Forscher gegen Verhaltenskodizes
zur Forschung an biologischen Erregern verstoßen haben?

17. Welche Maßnahmen fördert die Bundesregierung, um die Sensibilität von
angehenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für die „Dual-Use“-
Problematik zu erhöhen (etwa im Hinblick auf die Voraussetzungen für
einen Zugang zu einem BL-3- oder BL-4-Labor)?

18. In welchen internationalen Gremien ist nach Kenntnis der Bundesregierung
die „Dual-Use“-Problematik im Zusammenhang mit der Veröffentlichung
der H5N1-Papiere diskutiert worden, bzw. ist eine solche Diskussion ge-
plant, und welche Position hat bzw. wird Deutschland dabei vertreten?

19. Welche Eigenschutzmaßnahmen vor biologischen Erregern stehen nach
Kenntnis der Bundesregierung Rettungskräften in Deutschland zur Ver-
fügung, und geht die Bundesregierung davon aus, dass die lokalen Ret-
tungskräfte darüber informiert sind, dass in ihrem jeweiligen Zuständig-
keitsbereich Forschungen etwa in einem BL-3- oder BL-4-Labor statt-
finden?

20. Welchen Wissensstand hat nach Einschätzung der Bundesregierung die
deutsche Bevölkerung zu möglichen Gefahren im Bereich der biologischen
Erreger?

Hat die Bundesregierung Maßnahmen implementiert, um im Notfall die
Bevölkerung sachkundig und umfassend informieren zu können, bzw. sind
solche Maßnahmen geplant?

21. Welche Konsequenzen erwartet die Bundesregierung aus dem Klima-
wandel für den Ausbruch von Infektionskrankheiten in Deutschland?

22. Welche Fähigkeiten (etwa zur Quarantäne) besitzt Deutschland an seinen
Grenzen (insbesondere an internationalen Flughäfen), um das Einschleppen
von Krankheitserregern zu minimieren?

23. Welche Konsequenzen zum Schutz der Bevölkerung hat die Bundesregie-
rung aus dem Umgang mit SARS und der Vogelgrippe gezogen?

24. Wie bewertet die Bundesregierung die Sicherheit von BL-4-Laboren in

weniger entwickelten Ländern?

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25. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Morato-
rium der 39 Influenza-Wissenschaftler vom Januar 2012, und teilt die
Bundesregierung die Einschätzung, dass sich deutsche Forscherinnen und
Forscher an dieses Moratorium halten sollten?

26. Bis wann sollte nach Einschätzung der Bundesregierung dieses Morato-
rium aufrechterhalten werden?

27. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus den Strukturplanun-
gen in den USA für einen verbesserten Umgang mit sicherheitsrelevanter
Forschung im biologischen Bereich?

28. War es nach Meinung der Bundesregierung richtig, die H5N1-Studien von
Ron Fouchier und Yoshihiro Kawaoka zu veröffentlichen, und wenn ja,
welchen wissenschaftlichen Gewinn sieht die Bundesregierung in der Ver-
öffentlichung, und wenn nein, auf Grund welchen Risikos hätte die Studie
aus ihrer Sicht nicht veröffentlicht werden sollen?

29. Wie steht die Bundesregierung zur Forderung nach Zerstörung der letzten
weltweiten Pockenbestände in den USA und Russland?

30. Ist nach Meinung der Bundesregierung die EG-Dual-Use-Verordnung (Ver-
ordnung (EG) Nr. 428/2009) in der jetzigen Form ausreichend, um adäquat
mit möglichen sicherheitsrelevanten Ergebnissen aus der biowissenschaft-
lichen Forschung umzugehen?

31. Welche Verhaltenskodizes zum Thema Biosicherheit sind der Bundesregie-
rung bekannt?

32. Hat die Bundesregierung in den letzten zehn Jahren die Erarbeitung von Ver-
haltenskodizes in den Biowissenschaften unterstützt, und falls ja, welche,
und mit welchem Erfolg?

33. Welche Agenzien bzw. Techniken schätzt die Bundesregierung als sicher-
heitspolitisch besonders problematisch ein?

34. Teilt die Bundesregierung die Meinung, dass die steigende Anzahl der
Zugangsberechtigten zu Hochsicherheitslaboren die Gefahr eines Unfalls
oder Missbrauchs proportional erhöht?

35. Sieht die Bundesregierung in Bezug auf das Missbrauchspotenzial der
synthetischen Biologie Regelungsbedarf auf nationaler, europäischer oder
internationaler Ebene?

36. Wie bewertet die Bundesregierung aus sicherheitspolitischer Sicht die
Arbeitsverhältnisse (Arbeitsplatzsicherheit, Einkommen, Berufschancen etc.)
von Zugangsberechtigten zu Hochsicherheitslaboren in Deutschland?

37. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Personen, die zuvor
Zugang zu BL-3- oder BL-4-Sicherheitslaboren hatten, in ein Land aus-
gewandert sind, von dem Risiken für die internationale Sicherheit aus-
gehen?

38. Welche Position vertritt die Bundesregierung in Bezug auf die Diskussion
über „legal ownership“ von neu auftretenden Viren oder Bakterien?

39. Wie viele biowaffen- bzw. bioterrorrelevante Agenzien sind nach Kenntnis
der Bundesregierung seit 1999 in deutschen Laboren als gestohlen ge-
meldet worden?

40. Sind der Bundesregierung weltweit seit 1999 Fälle eines terroristischen
oder kriminellen Einsatzes biologischer Erreger bekannt?

41. Liegen der Bundesregierung Informationen über biowaffentechnologische

Forschungen im internationalen Kontext militärischer Forschung vor?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11169

42. Welcher Stand ist bei der Erforschung und Entwicklung von Instrumenten
zur Abwehr militärischer Angriffe mit biologischen Waffen erreicht?

Berlin, den 24. Oktober 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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