BT-Drucksache 17/11109

Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung in Deutschland

Vom 19. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11109
17. Wahlperiode 19. 10. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Yvonne Ploetz, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Schutz vor geschlechtsspezifischer Verfolgung in Deutschland

Mit dem 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz wurde auch in Deutsch-
land endlich geschlechtsspezifische Verfolgung als ein möglicher Grund für
eine Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
gesetzlich festgeschrieben. Zugleich wurde festgeschrieben, dass Verfolgung
auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, gegen die der Staat keinen
Schutz bieten kann oder will. Die Zahl der Anerkennungen geschlechtsspezifi-
scher Verfolgung ist in den vergangenen Jahren gestiegen, von 56 im Jahr 2005,
114 im Jahr 2006 auf 359 im Jahr 2011 (Bundesamt für Migration und Flücht-
linge, Das Bundesamt in Zahlen 2011). Darüber hinaus wird Abschiebungs-
schutz nach dem Aufenthaltsgesetz gewährt, wenn nach Ansicht des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Anerkennung als Flüchtling
nicht erfolgen kann, den Betroffenen bei einer Rückkehr ins Herkunftsland aber
konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen. Dies betrifft insbeson-
dere Frauen, deren erlittene geschlechtsspezifische Gewalt nicht als asylrele-
vant eingestuft wird, die aber infolge dieser Gewalt so schwer erkranken, dass
ihnen eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht zugemutet wird oder die dort
mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Gewalt erleiden werden. Von Letzterem
konkret betroffen sind beispielsweise zwangsverheiratete Frauen, die in ihrer
Ehe schwer misshandelt wurden und dann nach Deutschland geflohen sind,
oder die sich in Deutschland aus einer Zwangsehe befreit haben und nicht zu-
rückkehren können.

Praktikerinnen und Praktiker berichten allerdings ungeachtet der gesetzlichen
Änderungen weiterhin von Problemen bei der Anerkennung geschlechtsspezifi-
scher Verfolgung. So hält eine Dokumentation der Tagung „6 Jahre Anerken-
nung geschlechtsspezifischer Verfolgung – Erfahrungen aus der Praxis“ fest,
dass es „in der Praxis eine Reihe von Barrieren gibt, die eine tatsächliche Aner-
kennung der von Verfolgung betroffenen Frauen [...] unnötig erschweren“
(Flüchtlingsrat, Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 137/
Dezember 2011, S. 3). In den Beiträgen wird ausgeführt, dass die vom Bundes-
amt für Migration und Flüchtlinge eingesetzten Sonderbeauftragten oft überar-
beitet sind und dies auch negative Auswirkungen auf die Verfahren habe. Feh-
lende Beratung und die kurze Zeit von der Aufnahme in Deutschland bis zur

Anhörung führten dazu, dass Asylbewerberinnen die erlittene geschlechtsspezi-
fische Verfolgung in der Erstanhörung nicht thematisierten. Zu einem späteren
Zeitpunkt werde sie dann nicht mehr als glaubwürdig eingestuft. In Folgever-
fahren werde das BAMF seiner Sachaufklärungspflicht in der Regel nicht ge-
recht, da es keine Gutachten zu den aus der Verfolgung herrührenden psychi-
schen Erkrankungen in Auftrag gebe oder bezahle. Auf eigene Initiative der
Frauen erstellte Gutachten würden hingegen als „Parteigutachten“ eingestuft.

Drucksache 17/11109 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

In der Dokumentation findet sich auch die in anderen Zusammenhängen bereits
geäußerte Forderung nach einem dem Asylverfahren vorgeschalteten institutio-
nalisierten Verfahren, in dem besonders verletzliche Asylsuchende identifiziert
werden könnten. Bei der Unterbringung bestünden Schwierigkeiten, wenn sich
Frauen in Deutschland aus einer gewalttägigen oder erzwungenen Beziehung
lösten und in ein Frauenhaus außerhalb des Kreises gingen, in dem ihnen ihr
Wohnsitz angewiesen wurde.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen erhielten in den Jahren 2009, 2010 und 2011 Abschie-
bungsschutz nach § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
aufgrund geschlechtsspezifischer Gefahren?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zur Arbeitsbelastung der Son-
derbeauftragten des BAMF für geschlechtsspezifische Verfolgung, und
welche Maßnahmen sind ggf. zur Entlastung ergriffen worden?

3. Welche Maßnahmen sind beim BAMF eingeleitet worden, um mehr Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter zu Sonderbeauftragten in diesem Bereich wei-
terzubilden?

4. Mit welchen Maßnahmen sind seit 2009 Anhörerinnen und Anhörer des
BAMF für das Erkennen von Hinweisen auf geschlechtsspezifische Verfol-
gung bzw. das Vorliegen von Traumatisierungen im Rahmen der Erstan-
hörung sensibilisiert worden?

5. Wie hat sich in dieser Zeit die Quote der Übertragung einer Anhörung auf
Sonderbeauftragte entwickelt, und welche Schlüsse zieht die Bundesregie-
rung aus dieser Entwicklung?

6. Welche Angebote zur Supervision bestehen für die Sonderbeauftragten,
und in welchem Umfang werden diese Angebote angenommen?

Welche weiteren Angebote gibt es für die Sonderbeauftragten, um mit den
belastendenden Eindrücken aus den Anhörungen umgehen zu können?

7. Welche Maßnahmen unternimmt das BAMF zur Qualitätssicherung der
Anhörungen von Frauen, bei denen Anhaltspunkte für eine geschlechts-
spezifische Verfolgung vorliegen?

8. Wie viele Fälle aus den Jahren 2009 bis 2011 sind der Bundesregierung be-
kannt, in denen asylsuchende oder geduldete Frauen ein Frauenhaus oder
eine ähnliche Betreuungseinrichtung aufgesucht haben und dafür eine Zu-
stimmung zum Wohnortwechsel benötigt haben?

Was ist der Bundesregierung darüber hinaus zu den Problemen eines sol-
chen Wohnortwechsels bekannt, und kann sie die Kritik von Praktikerinnen
(siehe Vorbemerkung) bestätigen, dass Herkunfts- und gewünschte Auf-
nahmegemeinden einen Umzug in ein Frauenhaus erheblich erschweren?

9. Waren die rechtlichen und insbesondere sozialrechtlichen Probleme im Zu-
sammenhang mit dem notwendigen Umzug in ein Frauenhaus (Änderung
der Wohnsitzauflage, Zuständigkeit für Sozialleistungen etc.) in den ver-
gangenen Jahren Gegenstand der Beratungen in Bund-Länder-Gremien,
und welches Ergebnis hatten diese Beratungen?

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Zahl der Frauen, die zur
Eingehung einer Ehe mit einem in Deutschland lebenden Mann gezwungen
wurden, in Deutschland aus dieser Beziehung geflohen sind und aus Angst
vor Gewalt und Bestrafung durch ihre Verwandten im Herkunftsland in

Deutschland um Schutz nachgesucht haben?

Kam es nach Kenntnis der Bundesregierung nach 2007 zu einer signifikan-
ten Ab- oder Zunahme solcher Fälle?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11109

11. Wie oft ist nach Kenntnis der Bundesregierung seit 2007 von der Härtefall-
regelung des § 31 Absatz 2 AufenthG Gebrauch gemacht worden, nach der
Ehepartner vor Ablauf der Dreijahresfrist einen eigenständigen Aufent-
haltstitel erhalten können, und wie oft waren dabei eine zu befürchtende er-
hebliche Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange bei einer Rückkehr ins
Herkunftsland, wie oft die Unzumutbarkeit der Fortführung der Ehe in
Deutschland ausschlaggebend?

12. Wie ist die Praxis des BAMF (und nach Kenntnis der Bundesregierung der
Ausländerbehörden) bezüglich dieser Frauen, die im Rahmen der Härte-
fallregelung eine Aufenthaltserlaubnis erreichen könnten, aber zunächst
ein Asylverfahren betreiben?

Werden sie auf die Möglichkeit, nach dem Aufenthaltsgesetz einen Aufent-
haltstitel zu bekommen, in geeigneter Form hingewiesen, und wenn ja, wie?

13. Was ist der Bundesregierung zur Zahl der Frauen bekannt, die in Deutsch-
land Opfer des Menschenhandels oder von Zwangsprostitution wurden
und die im Anschluss an ihren vorübergehenden Aufenthalt nach § 25
Absatz 4a, 4b AufenthG um Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels
ersucht haben?

Wie viele dieser Frauen haben einen Aufenthaltstitel aus humanitären
Gründen erhalten, etwa weil ihnen im Herkunftsland Racheakte, erneute
Verschleppung und Zwangsprostitution oder Gewalt seitens ihrer Ver-
wandtschaft (Ehrenmord etc.) drohen (bitte für die Jahre von 2009 bis 2011
auflisten)?

Berlin, den 19. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.