BT-Drucksache 17/10894

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Bund und Ländern

Vom 28. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10894
17. Wahlperiode 28. 09. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Ulla Jelpke, Jan Korte, Heidrun Dittrich,
Dr. Petra Sitte, Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Bund und Ländern

Der Fall des 18-jährigen Ehsan Jafari erschütterte die Öffentlichkeit. Ausführ-
lich wurde in den saarländischen Medien der Fall des afghanischen Flüchtlings
dargestellt. Zum dritten Mal in Kürze soll er nach Italien rücküberstellt werden.
Zweimal wurde er bereits – damals noch minderjährig – nach Italien abgescho-
ben und landete in Flüchtlingslagern in Mailand bzw. in Rom.

Das Schicksal von Ehsan Jafari steht stellvertretend für die traumatischen Erleb-
nisse Tausender junger Menschen. Jährlich fliehen Tausende junge Menschen
vor den Zuständen in ihrer Heimat nach Deutschland und werden bei ihrer Ein-
reise zumeist durch die Bundespolizei aufgegriffen und dann entweder an die
gemäß § 42 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) zuständigen
Jugendämter übergeben oder, sofern in Grenznähe, direkt durch die Bundes-
polizei zurückgewiesen bzw. einem Altersfeststellungsverfahren unterzogen.
Bei den Jugendämtern in Deutschland differenzieren sich allerdings die Verfah-
rensweisen mit den Jugendlichen von Bundesland zu Bundesland. Selbst den
engagierten Anlaufstellen vor Ort ist zumeist nicht klar, wie einige Kilometer
weiter die Situationen und Infrastrukturen für unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge aussehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden in den Jahren 2012,
2011 und 2010 nach einem Aufgriff durch die Bundespolizei und nach
Kenntnis der Bundesregierung durch die Polizeien der Länder unverzüglich
an die örtlich zuständigen Jugendämter übergeben (bitte Staatsangehörig-
keiten, die übergebenden Stellen der Bundespolizei, die Fallzahlen bei den je-
weiligen Jugendämtern in den aufnehmenden Bundesländern auflisten)?

a) Wie viele dieser Minderjährigen waren jünger als 14 Jahre, wie viele
waren zwischen 14 und 16 Jahren, und wie viele waren zwischen 16 und
18 Jahren?

b) Wie viele dieser Kinder und Jugendlichen waren Mädchen?
c) Wie viele von ihnen waren in Begleitung ihrer Geschwister bzw. minder-
jähriger Verwandter?

d) Ist im Rahmen der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise eine ver-
stärkte Sekundärmigration (asylsuchender) allein reisender Minderjähri-
ger aus Drittstaaten innerhalb der Dublin-Staaten zu beobachten?

Aus welchen Daten leitet die Bundesregierung ihre Aussage dazu ab?

Drucksache 17/10894 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie unterscheidet sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Verfahrens-
ablauf bzw. die Umsetzung der Regelungen des § 42 SGB VIII in den Bun-
desländern, wenn allein reisende minderjährige Drittstaatsangehörige durch
die Bundespolizei übergeben wurden?

3. Welche Abstimmungen über ein einheitliches Behördenhandeln hat es hierzu
gegebenenfalls nach Kenntnis der Bundesregierung in den zuständigen Fach-
gremien der Länder bzw. der Länder und des Bundes gegeben?

4. Welche Arten von Verfahren zur Bestimmung des Alters von Personen, die
erklären, minderjährig zu sein, werden von der Bundespolizei oder auf Ver-
anlassung der Bundespolizei angewendet, und auf welcher rechtlichen
Grundlage?

a) Auf welcher rechtlichen Grundlage werden nach dem Aufgriff durch die
Bundespolizei medizinische Verfahren zur Altersfestsetzung und durch
wen durchgeführt?

b) Warum und in welchen Fällen werden die unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlinge durch die Bundespolizei geröntgt?

c) Über welche Kenntnisse und Ausbildungen verfügen die für die Inaugen-
scheinnahmen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes-
polizei?

d) Welche Unterschiede zum Vorgehen der Bundespolizei gibt es nach
Kenntnis der Bundesregierung in den Verfahren zur Altersfeststellung bei
den zuständigen Behörden in den einzelnen Bundesländern?

e) Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Altersfeststellung
eines unbegleiteten Minderjährigen erst im geschützten Rahmen eines so
genannten Clearingverfahrens erfolgen sollte, wenn ja, dass eine solche
Altersfestsetzung geradezu eine der eigentlichen Aufgaben solcher Clea-
ringverfahren ist, und wenn nein, warum nicht?

5. Wie viele unbegleitete Minderjährige wurden nach Kenntnis der Bundes-
regierung in den Jahren 2012, 2011 und 2010 nach der sogenannten Dublin-
II-Verordnung an welche anderen Mitgliedstaaten der EU rücküberstellt (bitte
aufschlüsseln), und bei wie vielen wurde auf die Rücküberstellung verzichtet
(bitte nach 0 bis 13 Jahren, 14 bis 16 Jahren, 17 bis 18 Jahren aufschlüsseln)?

Wie viele Jugendliche befanden sich vor der Durchführung der Rückfüh-
rungsmaßnahme in Jugendschutzeinrichtungen (bitte nach Bundesländern
aufschlüsseln)?

a) Welche Aspekte des Schutzes muss die Bundesregierung dabei beachten,
und wie werden diese umgesetzt?

b) Plant die Bundesregierung Aussetzungen der Rücküberstellung von unbe-
gleiteten minderjährigen Schutzsuchenden nach der Dublin-II-Verord-
nung in andere Länder neben Griechenland, und wenn ja, für welche?

c) Hegt die Bundesregierung Befürchtungen, dass Italien gegenwärtig seine
durch Unterzeichnung völkerrechtlicher Abkommen (etwa der Genfer
Flüchtlingskonvention – GFK – und der Europäischen Menschenrechts-
konvention – EMRK) übernommenen Verpflichtungen gegenüber unbe-
gleiteten minderjährigen Schutzsuchenden und Flüchtlingen nicht einhält,
und dass jene auch tatsächlich keine Möglichkeit haben, die Einhaltung
der Verpflichtungen in angemessener Zeit rechtlich durchzusetzen?

d) Ist der Bundesregierung der Fall Ehsan Jafari bekannt, und befürwortet sie
einen Stopp der Rücküberstellung im Rahmen der Dublin-II-Verordnung

aus humanitären Gründen, und wenn ja, welche Maßnahmen hat sie
ergriffen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10894

6. Wie sichert die Bundesregierung, dass rücküberstellte bzw. zurückgescho-
bene minderjährige Flüchtlinge in den Ankunftsländern sicher, geschützt
und der Situation entsprechend sensibel und kindgerecht aufgenommen
werden?

a) Wie ist die Aufnahme in den Ländern geregelt, in die von Deutschland
aus unbegleitete minderjährige Schutzsuchende und Migrantinnen und
Migranten im Rahmen des Dublin-Verfahrens oder im Rahmen von
Rückübernahmeabkommen rücküberstellt werden?

b) Welche Rolle spielt bei der Rückführungsentscheidung der konkrete
Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden in den
Zielstaaten von Zurückweisungen und Zurückschiebungen, und wie ge-
währleistet die Bundesregierung, dass die in den Rückführungsländern
vorgefundene Infrastruktur mit den Forderungen der UN-Kinderrechts-
konvention in Einklang steht?

7. Wie viele unbegleitete Minderjährige wurden in den Jahren 2012, 2011 und
2010 ohne vorherigen Kontakt mit der Bundespolizei bzw. nach Kenntnis
der Bundesregierung mit einer Länderpolizei in welchen Bundesländern
festgestellt, und wie viele meldeten sich direkt bei einer Erstaufnahmeein-
richtung, bei Jugendämtern oder anderen Behörden?

8. In welcher Form werden nach Kenntnis der Bundesregierung unbegleitete
Minderjährige in den einzelnen Bundesländern beschult?

9. In welchen Bundesländern gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung seit
wann gegebenenfalls interkulturell angelegte Angebote zur fachlichen
Schulung, Weiterbildung und Qualifizierung z. B. von

a) in Asylerstaufnahmeeinrichtungen bzw. Clearingstellen Beschäftigten,

b) Polizistinnen und Polizisten bzw. von Justizbeamtinnen und -beamten,

c) Beamtinnen und Beamten in Jugendämtern und Ausländerbehörden bzw.

d) Vormündern

im professionellen Umgang und in der Betreuung von unbegleiteten Min-
derjährigen (bitte nach den Ländern sowie den hierbei entstandenen Kosten
aufschlüsseln)?

10. Wie viele Clearingstellen für unbegleitete Minderjährige stehen nach
Kenntnis der Bundesregierung in den Bundesländern zur Verfügung, in wel-
cher Trägerschaft befinden sie sich, und welche Unterschiede bestehen in
deren Einrichtung, bei Betreuungsangeboten und Ausgestaltung?

a) Ist ein bundesweit flächendeckendes Angebot an Clearingstellen für un-
begleitete Minderjährige gegeben?

b) Wie viele Minderjährige wurden in den Jahren 2012, 2011 und 2010 in
Clearinghäusern in Obhut genommen (bitte nach Bundesland, Jahr, Ge-
schlecht, Herkunftsland und Alter aufschlüsseln)?

11. Wie wird nach Kenntnis der Bundesregierung der Übergang der unbeglei-
teten minderjährigen Schutzsuchenden bzw. Migrantinnen und Migranten
im Hinblick auf Unterbringung und Versorgung nach Erreichen der Volljäh-
rigkeit und/oder nach Beendigung von Jugendhilfemaßnahmen gestaltet,
aufgeschlüsselt nach Bundesländern?

12. Durch welche Maßnahmen und Instrumente fördert die Bundesregierung
die Integration der in den Jahren 2012, 2011 und 2010 eingereisten minder-
jährigen Schutzsuchenden bzw. Flüchtlinge, und wie viele Mittel stehen für

diese Maßnahmen zur Verfügung (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?

Drucksache 17/10894 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
13. Überprüft die Bundesregierung, ob in allen Bundesländern die EU-Aufnah-
merichtlinien erfüllt werden, nach welcher die Mitgliedstaaten verpflichtet
werden, der speziellen Situation von Personen mit besonderem Schutz-
bedarf (Alten, Kranken, Behinderten, Minderjährigen, Schwangeren etc.)
bei der Gestaltung der Aufnahmebedingungen, der medizinischen Versor-
gung, der Beschulung etc. Rechnung zu tragen (Artikel 17)?

a) Wie wird in den einzelnen Bundesländern der speziellen Situation von
Personen mit Schutzbedarf Rechnung getragen?

b) Wird in allen Fällen in den ersten Schritten der individuelle Schutzbedarf
ermittelt und diesem Rechnung getragen?

c) Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse von gegenteiligen Fällen vor?

Welche sind dies?

d) Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, ob in der Aufnahme-
stelle im saarländischen Lebach die EU-Aufnahmerichtlinie erfüllt
wird?

Wenn gegenteilige Erkenntnisse vorliegen, wie müsste nach Ansicht der
Bundesregierung das „Konzept Lebach“ verändert werden, um den in
der Aufnahmerichtlinie geforderten Schutzmaßnahmen Rechnung zu
tragen?

14. Wird die Bundesregierung gesetzgeberisch initiativ werden, um im Sinne
des Kindeswohls die verfahrensrechtliche Handlungsfähigkeit von Asyl-
suchenden von 16 auf 18 Jahre heraufzusetzen?

Berlin, den 28. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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