BT-Drucksache 17/10856

Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen - Ausbildung für alle garantieren

Vom 26. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10856
17. Wahlperiode 26. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte
und der Fraktion DIE LINKE.

Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen –
Ausbildung für alle garantieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In der Bundesrepublik Deutschland verfügen rund 1,5 Millionen Menschen zwi-
schen 20 und 29 Jahren über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Diese
hohe Zahl ist seit Jahren unverändert und wird vom Bundesinstitut für Berufs-
bildung (BiBB) auch im Berufsbildungsbericht 2012 nochmals bestätigt. Eben-
falls auffällig häufig von Ausbildungslosigkeit betroffen ist die Altersgruppe der
30- bis 35-Jährigen. Die Ausbildungslosigkeit dieser Menschen ist die Folge
einer nunmehr fast zwei Jahrzehnte andauernden Ausbildungskrise. Seit 1995
stehen durchgehend bundesweit weniger Ausbildungsstellen zur Verfügung, als
es Ausbildungsinteressierte gibt.

Das BiBB stellt fest: Mehr als 80 Prozent der 1,5 Millionen jungen Menschen
ohne abgeschlossene Berufsausbildung besitzen einen Schulabschluss, rund
550 000 haben einen Realschulabschluss oder Abitur. Offenkundig blieb diesen
jungen Menschen nicht etwa aufgrund mangelnder Kenntnisse und Fähigkeiten
der Zugang zu einer Ausbildung verwehrt, sondern durch einen eklatanten Man-
gel an betrieblichen Ausbildungsplätzen in den zurückliegenden Jahren. Jugend-
liche mit Migrationshintergrund sind hiervon in besonderem Maße betroffen;
sie stellen 46 Prozent der benannten Gruppe. Besondere Barrieren bestehen
außerdem für Jugendliche mit Behinderung. Sie haben nur geringe Chancen auf
eine Ausbildung im dualen System; ihr Anteil dort liegt bei lediglich 0,9 Pro-
zent. Zudem nimmt die Teilnahme von jungen Frauen an einer dualen Ausbil-
dung stetig ab und verteilt sich im Wesentlichen auf wenige Berufe.

Ein beachtlicher Teil der betroffenen jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jah-
ren bezieht als Ungelernte bzw. Ungelernter ein geringes Einkommen in prekä-
rer Beschäftigung. Rund 300 000 von ihnen sind offiziell bei der Bundesagentur
für Arbeit (BA) arbeitsuchend gemeldet. Es besteht die Gefahr, dass sie dauer-
haft in den Niedriglohnsektor oder die Arbeitslosigkeit abgedrängt werden. Im
BiBB Report 18/12 wird zudem davon ausgegangen, dass sich die Beschäf-

tigungschancen für Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung weiter
verschlechtern werden. Ausgrenzung von weiten Teilen des gesellschaftlichen
Lebens, schlechtere Zukunftschancen, geringere Mobilität und große Unzufrie-
denheit sind die Folge.

Ein signifikanter Rückgang der Zahl derer ohne Ausbildungsabschluss ist auch
in den nächsten Jahren nicht zu erwarten, sofern die Bundesregierung ihre Poli-
tik der Freiwilligkeit gegenüber den Betrieben aufrechterhält. Nach aktuellen

Drucksache 17/10856 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Zahlen bilden nur 22,5 Prozent aller Betriebe – wobei 56 Prozent aller Betriebe
ausbildungsberechtigt sind – tatsächlich aus. Aufgrund dessen mündeten allein
im letzten Jahr 300 000 junge Menschen in öffentlich finanzierte Maßnahmen
des sogenannten Übergangssytems. Zwischen den Jahren 2000 und 2008 waren
dies sogar jährlich 400 000 bis 490 000 junge Menschen, also mehr als ein Drit-
tel aller Ausbildungssuchenden. Ihnen vermittelt das Übergangssystem keinen
vollqualifizierenden Berufsabschluss, im Anschluss nehmen sie nur zu einem
geringen Teil eine anerkannte Ausbildung auf. Die Mehrheit dieser Maßnahmen
hat damit das Ziel, junge Menschen in Ausbildung zu integrieren, verfehlt.

Es wird ein grundlegender Kurswechsel benötigt. Ziel muss es sein, deutlich
mehr Ausbildungsplätze im dualen System zu schaffen. Alle Jugendlichen ha-
ben das Recht auf eine vollqualifizierende Ausbildung. Die Bundesregierung
steht in der Verantwortung zu gewährleisten, dass dieses Recht umgesetzt wird.
Sie muss in erster Linie die Betriebe in die Pflicht nehmen, ein auswahlfähiges
Angebot an Ausbildungsplätzen für alle Ausbildungsinteressierten zu garan-
tieren. Dieses Ziel kann durch eine solidarische Ausbildungsumlage, an der sich
alle Unternehmen einzelner Branchen beteiligen und somit gemeinschaftlich zu-
sätzliche Ausbildungsplätze finanzieren, erreicht werden. Die Bundesregierung
steht außerdem in der Verantwortung, die bisher von einer Ausbildung ausge-
schlossenen Menschen zu integrieren.

Neben dem verbindlichen und zusätzlichen Ausbau von Ausbildungsplätzen in
den Betrieben muss für die Menschen, die bisher von einer Ausbildung ausge-
schlossen waren, die nötige Unterstützung bereitgestellt werden, damit sie einen
anerkannten Berufsabschluss erwerben können. Derzeit führen nur 5 Prozent
aller Qualifizierungsmaßnahmen für Ungelernte zu einem anerkannten Berufs-
abschluss (BiBB Report 17/12). Dieser Anteil muss deutlich erhöht werden. Un-
terstützende Angebote wie Beratung, Begleitung und vorbereitende Maßnah-
men müssen verlässlich in Ausbildung und zu einem Berufsabschluss führen.
Um möglichst vielen Menschen den Zugang zu einem anerkannten Berufsab-
schluss zu ermöglichen, muss die Bundesregierung mit einem Sofortprogramm
handeln und hierfür die nötigen Rahmenbedingungen sowie die notwendigen
Ressourcen bereitstellen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die „freie Wahl der Ausbildungsstätte“ nach Artikel 12 Absatz 1 des Grund-
gesetzes zu garantieren. Die Betriebe müssen verbindlich in die Pflicht ge-
nommen werden, ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen, das
die Zahl an Bewerberinnen und Bewerbern um mindestens 12,5 Prozent
übersteigt, bereitzustellen. Hierzu muss eine solidarische Finanzierung der
Berufsausbildung durch ein Umlagesystem auf den Weg gebracht werden, an
der sich alle Betriebe einzelner Branchen beteiligen. Jede und jeder Jugend-
liche muss das Recht haben, eine vollqualifizierende Ausbildung entspre-
chend ihren bzw. seinen Interessen und Kompetenzen aufzunehmen und ab-
zuschließen;

2. ein Sofortprogramm mit einem Umfang von 1,5 Mrd. Euro und einer Laufzeit
von drei Jahren aufzulegen, um insbesondere mit Blick auf die 1,5 Millionen
jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufs-
ausbildung zu erreichen, dass die, die einen anerkannten Berufsabschluss ab-
schließen möchten, hierfür die Möglichkeit sowie die nötige Unterstützung
erhalten.

Im Rahmen des Sofortprogramms für Ausbildung sind insbesondere fol-
gende Kriterien zu erfüllen:

– Der Erwerb von Berufsabschlüssen nach dem Berufsbildungsgesetz und

der Handwerksordnung erfolgt in der Regel in betrieblicher oder zum

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10856

Teil in überbetrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildung. Teilneh-
mende Kleinst- und Kleinbetriebe erhalten Unterstützung aus dem
Sonderprogramm, wenn sie erstmals Ausbildungsplätze bzw. zusätzliche
Ausbildungsplätze oder Ausbildungen im Verbund einrichten. Betriebe
mit mindestens 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden gefördert,
sofern sie eine Ausbildungsquote von mindestens 7 Prozent der Beschäf-
tigten erfüllen.

– Der Ausbau von Angeboten einer Teilzeitausbildung wird gefördert, um
beispielsweise Frauen und Männern in der Elternzeit sowie Menschen, die
mit Pflegeaufgaben betraut sind, bessere Ausbildungs- und Beschäf-
tigungsmöglichkeiten zu eröffnen.

– Kleine und mittelständische Betriebe, die ihren Beschäftigten berufs-
begleitend eine Ausbildung im eigenen Hause anbieten, werden gefördert.

– Betriebe werden finanziell unterstützt, wenn Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter die Ausbildereignungsprüfung ablegen und daraufhin zusätzliche
Ausbildungsplätze geschaffen werden.

– Betriebe, die ihr Ausbildungsangebot im Sinne der UN-Behindertenkon-
vention inklusiv ausgestalten, sollen gezielt gefördert werden.

– Betriebe, die verstärkt Menschen mit Migrationshintergrund ausbilden,
sollen gezielt gefördert werden.

– Betriebe, die Frauen in nicht geschlechtsstereotypischen Berufen ausbil-
den, sollen gezielt gefördert werden.

– Die Bundesregierung initiiert Aufklärungskampagnen, mit deren Hilfe
Barrieren sowie Vorurteile gegenüber den zuvor genannten Gruppen ab-
gebaut werden. Darüber hinaus ist das Ausbildungspersonal entsprechend
zu qualifizieren.

– Das Sonderprogramm wird begleitend evaluiert, um eine Anpassung der
Ausrichtung zu ermöglichen und weiteren Förderbedarf zu ermitteln.

Das Sofortprogramm wird umrahmt von einer öffentlichen Förderstruktur,
die folgende Kriterien erfüllt:
– Im Sozialgesetzbuch wird ein Rechtsanspruch verankert, der Menschen

ohne abgeschlossene Berufsausbildung ermöglicht, eine vollqualifizie-
rende Ausbildung mit dem Ziel eines anerkannten Berufsabschlusses auf-
zunehmen und abzuschließen.

– Die Verpflichtung, Menschen unverzüglich in Ausbildung zu vermitteln,
wird in einem ersten Schritt vom 25. Lebensjahr auf das 29. Lebensjahr
ausgeweitet. Dabei ist der Vermittlung in Ausbildung der Vermittlung in
Arbeit ein klarer Vorrang einzuräumen.

– Die Beratung und Vermittlung der Arbeitsagenturen und der Jobcenter
werden rechtskreisübergreifend und gemeinsam vor Ort organisiert; die
Möglichkeiten, das Personal in Bezug auf Gender und Migration umfäng-
lich fortzubilden, werden ausgebaut.

– Die Beratungs- und Vermittlungsleistungen für Menschen ohne abge-
schlossene Berufsausbildung werden deutlich ausgebaut und die Kürzun-
gen der Programme „Kompetenzagenturen“ und „Schulverweigerung –
Die 2. Chance“ zurückgenommen.

– Für Menschen, die einen anerkannten Berufsabschluss über eine Exter-
nenprüfung erwerben möchten, werden mithilfe der Mittel aus dem So-
fortprogramm Kurse, die die Teilnehmenden auf die Prüfung vorbereiten,
gebührenfrei bereitgestellt und ihre Lebensgrundlage wird in dieser Phase
finanziell abgesichert.

Drucksache 17/10856 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
– In Abstimmung mit den Ländern werden ein gebührenfreier Zugang und
eine durchgängige finanzielle Absicherung über den gesamten Weg bis
hin zu einer vollqualifizierenden Ausbildung auch für diejenigen sicher-
gestellt, denen der Einstieg in Ausbildung über Weiterbildungsmaßnah-
men gelingt. Der Bundeskostendurchschnittssatz für die Förderung beruf-
licher Weiterbildung kommt nicht zur Anwendung; zu finanzieren sind die
tatsächlichen Kosten.

– Die individuellen Wege zu einem vollqualifizierenden Berufsabschluss
werden bei Bedarf mit ausbildungsbegleitenden Hilfen, berufsvorbereiten-
den Maßnahmen und Berufseinstiegsbegleitungen ergänzt. Die Aufnahme
von Berufseinstiegsbegleitungen muss grundsätzlich auch denjenigen
möglich sein, die die Schule bereits verlassen haben. Diese Maßnahmen
sollen künftig verbindlich in Ausbildung führen. Erworbene Kompetenzen
werden zertifiziert und auf die Ausbildung angerechnet. Die Vergabe
dieser Maßnahmen muss anhand von Qualitätskriterien, wie etwa einer
Betreuung durch gut ausgebildetes und gut bezahltes Personal, erfolgen.

– Der Rechtsanspruch auf eine Förderung zum Nachholen von Schul-
abschlüssen wird erweitert, damit allen Menschen zu jeder Zeit im
Lebenslauf ein verbindliches Angebot unterbreitet werden kann, Schul-
abschlüsse zu erlangen. Hierbei ist sicherzustellen, dass eine bedarfs-
deckende Finanzierung beim Erlangen des angestrebten Schulabschlusses
gesichert ist, unabhängig davon, ob der Erwerb vollzeitschulisch oder be-
rufsbegleitend erfolgt.

– Öffentlich geförderte Aus- und Weiterbildungsangebote sind im Sinne der
UN-Behindertenrechtskonvention inklusiv auszugestalten, barrierefreie
Beratungsangebote sind einzurichten. Die überbetrieblichen Ausbildungs-
stätten für Menschen mit Behinderung werden finanziell und personell da-
rin unterstützt, in Kooperation mit den Betrieben inklusive Ausbildungs-
und Arbeitsplätze einzurichten. Die barrierefreie Gestaltung innerbetrieb-
licher Arbeitsprozesse und Informationstechnik ist zu fördern.

Berlin, den 26. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.