BT-Drucksache 17/10819

Konsequenzen aus der Havarie der MSC Flaminia ziehen - EU-Notfallpläne und Gefahrgutkontrollen im Seeverkehr überprüfen

Vom 24. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10819
17. Wahlperiode 24. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Dr. Hans-Peter Bartels, Sören Bartol,
Martin Burkert, Ingo Egloff, Petra Ernstberger, Karin Evers-Meyer, Iris Gleicke,
Ulrike Gottschalck, Michael Groß, Hans-Joachim Hacker, Bettina Hagedorn,
Gustav Herzog, Gabriele Hiller-Ohm, Johannes Kahrs, Ute Kumpf,
Kirsten Lühmann, Holger Ortel, Florian Pronold, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Carsten Sieling, Sonja Steffen, Franz Thönnes, Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der Fraktion der SPD

Konsequenzen aus der Havarie der MSC Flaminia ziehen –
EU-Notfallpläne und Gefahrgutkontrollen im Seeverkehr überprüfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Havarie des unter deutscher Flagge fahrenden Containerschiffs MSC Flami-
nia im Nordatlantik wirft Fragen hinsichtlich der Sicherheitsstandards im See-
schiffsverkehr auf. Im Mittelpunkt stehen die Wirksamkeit des europäischen
Notfallkonzeptes für Schiffsunfälle und eine Weiterentwicklung der bestehen-
den Sicherheitsvorkehrungen für den Gefahrguttransport mit Seeschiffen.

Erst nach mehrwöchigen Verhandlungen und erfolglosen Bemühungen, einen
Notliegeplatz in einem Anrainerstaat anzulaufen, hatte die Bundesrepublik
Deutschland als Flaggenstaat das durch einen Brand stark beschädigte Schiff in
deutsche Hoheitsgewässer schleppen lassen. Im Tiefwasserhafen JadeWeserPort
soll die MSC Flaminia nun unter Aufsicht des Havariekommandos als gemein-
same Einrichtung des Bundes und der Küstenländer gesichert und entladen wer-
den; von den mehr als 2 800 Containern, die der havarierte Frachter geladen
hatte, enthalten rund 150 Gefahrgut.

Wiederholt haben Küstenländer in Europa havarierten Schiffen in der Vergan-
genheit den Zugang zu Nothäfen bzw. Notliegeplätzen verwehrt, so im Fall des
verunglückten Frachters Pallas 1998, aber auch in den Fällen der Tanker Erika
und Prestige in den Jahren 1999 und 2002. Mit der Verabschiedung von drei Ge-
setzgebungspaketen (Erika I bis III) hat die Europäische Union (EU) seither da-
für gesorgt, dass die Standards für die Sicherheit im europäischen Seeverkehr
erheblich verbessert worden sind. Doch nicht alle Maßnahmen haben sich als
hinreichend erwiesen. Es stellt sich daher die Frage, welche Konsequenzen aus

dem Beispiel der MSC Flaminia zu ziehen sind.

Das rasche Aufsuchen eines Nothafens bzw. Notliegeplatzes kann im Fall eines
Schiffsunfalls wesentlich zu dem Erfolg des Unfallmanagements beitragen. Die
EU hat mit ihrer Richtlinie 2002/59/EG, geändert durch die Richtlinie 2009/17/
EG, einen rechtlichen Rahmen geschaffen, um verunglückten Schiffen den Zu-
gang zu infrage kommenden Häfen zu erleichtern. Die Bestimmungen schreiben

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den EU-Mitgliedstaaten die Ausarbeitung von Notfallplänen zur Aufnahme
eines Schiffes in Seenot vor und benennen Kriterien für deren Beschaffenheit
sowie das Vorgehen im Notfall.

Das uneingeschränkte Recht, einen Nothafen anlaufen zu dürfen, ist jedoch we-
der in internationalen Übereinkommen noch im EU-Recht oder in nationalen
Regelungen niedergelegt. Gemäß den EU-Richtlinien sowie der Resolution
A.949(23) der International Maritime Organization (IMO) hat der Mitgliedstaat,
zu dessen Notliegeplatz das havarierte Schiff Zugang erbittet, eine umfassende
Interessenabwägung zu treffen; der Zugang zum Hafen darf nur dann verwehrt
werden, wenn die Gefahren durch ein Einlaufen des Havaristen größer wären als
beim Verbleib des Schiffes auf See. Gleichwohl sehen die EU-Vorgaben keine
ausdrückliche Ausweisung von Notliegeplätzen vor; diese obliegt einer Einzel-
fallentscheidung der zuständigen nationalen Behörde.

Mit dieser Begründung haben im Falle des deutschen Containerschiffs MSC
Flaminia denn auch mehrere europäische Anrainerstaaten die Hilfeersuchen von
Schiffsbesatzung, Reederei und Bergungsfirma negativ beschieden. So wurde
die Aufnahme des Frachters im Hafen von Le Havre mit dem Hinweis auf unkal-
kulierbare Risiken sowie die Lage des Containerterminals in einem Industriege-
biet untersagt. Der Unfall der MSC Flaminia sollte daher zum Anlass genom-
men werden, die Regeln für die Verbringung havarierter Schiffe in geeignete
Nothäfen und Notliegeplätze zu überarbeiten. Dies betrifft insbesondere den
Informationsaustausch zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie die Kriterien
für die Festlegung der auszuweisenden Nothäfen bzw. deren Beschaffenheit und
Ausrüstung mit Sicherheitsvorkehrungen. Denn: Die Benennung eines Not-
häfens hilft nur dann, wenn dieser im Notfall auch tatsächlich angelaufen wer-
den kann.

Vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung des Containerverkehrs
rücken zudem die Transportrisiken beim Seeversand von Gefahrgut in den
Blick. Der Anteil der Gefahrgüter am gesamten Güteraufkommen im See-
verkehr beträgt nach Expertenschätzungen rund 30 Prozent; bei den Container-
linienverkehren macht dieser Anteil demnach zwischen 15 und 20 Prozent aus.
Genauere Daten sind kaum verfügbar, da Häfen die umgeschlagenen Gefahr-
güter nach Klassen und Tonnen erfassen, nicht jedoch nach Herkunft und Desti-
nation; manche erfassen diese Güter gar nicht.

Die IMO hat auf den wachsenden Trend zu Containerisierung und neuen Logis-
tikmodellen wie Just-in-time-Konzepten reagiert und den international gelten-
den Vorschriftenkodex kontinuierlich angepasst. Der Internationale Code für die
Beförderung gefährlicher Güter mit Seeschiffen (International Maritime Dange-
rous Goods Code/IMDG-Code) regelt verbindlich, wie der Transport von Ge-
fahrgut auf Containerschiffen zu erfolgen hat; dies gilt nicht nur im Hinblick auf
die Verpackung der Waren, sondern auch für die Unterbringung der Container
an Bord sowie die Klassifizierung und Dokumentation der Ladung durch den
Versender. So sind denn auch keine Unfälle bekannt, die auf fehlende Vorschrif-
ten zurückzuführen wären.

Das Problem ist vielmehr die Nichtbeachtung oder falsche Anwendung vorhande-
ner Bestimmungen. Immer wieder wird Gefahrgut – zum Teil aus Unwissen, zum
Teil absichtlich – von den Versendern falsch oder unzureichend deklariert und
dann verschifft. Genaue Zahlen zur Falschdeklaration liegen laut Experten zwar
nicht vor; die Einrichtung des Cargo Incident Notification System (CINSNET)
durch mehrere internationale Linienreedereien hat aber gezeigt, dass ein großer
Teil der Unfälle und Vorkommnisse mit Ladung jeglicher Art auf falsche Dekla-
ration von Waren zurückzuführen ist – eine Problematik, die insbesondere Ge-
fahrguttransporte aus Asien betrifft. Kontrollen in den Häfen und durch den Zoll

können verhindern, dass durch falsch deklarierte Güter an Bord eine Gefähr-
dung für Mensch und Umwelt entsteht.

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Während die Umsetzung des IMDG-Codes in Deutschland durch die Gefahrgut-
verordnung See (GGVSee) erfolgt ist und die Einhaltung der Vorschriften durch
Stichprobenkontrollen überprüft wird, bestehen in der Verwaltungspraxis zahl-
reicher anderer Länder deutliche Umsetzungsdefizite. Nicht zuletzt vor diesem
Hintergrund sieht der IMDG-Code in seiner aktualisierten Fassung neben ande-
ren Neuerungen eine verstärkte Zusammenarbeit der nationalen Behörden vor.
Ab dem 1. Januar 2013 kann diese Vorschrift von den Mitgliedstaaten auf frei-
williger Basis angewendet werden, ab dem 1. Januar 2014 muss das Regelwerk
für die Beförderung gefährlicher Güter auf See zwingend und ohne jede weitere
Übergangsvorschrift angewandt werden. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt,
um möglichst einheitliche und weltweit anerkannte Sicherheitsstandards im
Seeverkehr zu schaffen; weitere müssen folgen. Notwendig sind verlässliche
Informationen über Vorfälle mit gefährlichen Gütern und ein Höchstmaß an
Transparenz bei den Transportbeteiligten, um die Risiken bei der Beförderung
von Gefahrgut im Seeverkehr zu minimieren und Schäden für Mensch und Um-
welt weitestgehend zu verhindern.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt

• die hervorragende Arbeit des Havariekommandos von Bund und Küsten-
ländern im Rahmen des Sicherheitskonzeptes Deutsche Küste und insbeson-
dere die Koordination des Unfallmanagements im Fall der havarierten MSC
Flaminia;

• die bisherigen Anstrengungen auf EU-Ebene, einen verbindlichen Rahmen
für den Zugang havarierter Schiffe zu Nothäfen und sonstigen Notliegeplät-
zen zu schaffen;

• die kontinuierliche Fortentwicklung und Harmonisierung der Vorschriften
der IMO hinsichtlich der Deklaration von Gefahrgut bei Seebeförderungen
im IMDG-Code, um den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen
beim Transport verpackter gefährlicher Ladung Rechnung zu tragen;

• die Einrichtung des CINSNET zur Identifizierung von Sicherheitsproblemen
mit Gefahrgutladungen auf der Basis eines freiwilligen Netzwerkes führen-
der Containerlinienreedereien.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• den Deutschen Bundestag über die Ergebnisse der Analyse des Unfallher-
gangs auf der MSC Flaminia sowie die Brandursachen zu informieren und zu
dokumentieren, welche Schritte Schiffs- und Ladungseigner sowie die auf
See und im Küstenbereich zuständigen Behörden unternommen haben, um
die Zuweisung des havarierten Schiffs zu einem sicheren Nothafen bzw. Not-
liegeplatz zu erwirken;

• sich auf der Grundlage dieser Ergebnisse auf europäischer Ebene dafür ein-
zusetzen, dass im Rahmen des EU-Notfallkonzeptes eine Präzisierung der
Merkmale der von den Mitgliedstaaten zu benennenden Nothäfen bzw. Not-
liegeplätze geprüft wird. Diese sollte gewährleisten, dass auf Hilfe angewie-
sene Schiffe die nächstgelegenen und am besten geeigneten Nothäfen oder
Notliegeplätze schnellstmöglich anlaufen können. Dabei sollte geprüft wer-
den, welche Rolle der European Maritime Safety Agency (EMSA) im Rah-
men ihrer bestehenden Aufgabenstellung zukommt;

• sich auf europäischer Ebene für die ordnungsgemäße Anwendung der Richt-
linie 2002/59/EG über die Einrichtung eines gemeinschaftlichen Über-
wachungs- und Informationssystems für den Schiffsverkehr sowie der Richt-

linie 2009/17/EG zur Änderung der Richtlinie 2002/57/EG durch die
Mitgliedstaaten einzusetzen, insbesondere im Hinblick auf den Informations-

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austausch der europäischen Partner über die Zahl und Beschaffenheit mög-
licher Notliegeplätze; dabei müssen die Kompetenzen der Mitgliedstaaten
gewahrt bleiben;

• sich im Rahmen der IMO dafür einzusetzen, dass die Vorschriften des IMDG-
Code von den Mitgliedstaaten vollständig umgesetzt werden;

• sich im internationalen Rahmen dafür einzusetzen, dass eine Meldepflicht für
nicht ausreichend oder falsch deklariertes Gefahrgut im Rahmen des Global
Integrated Shipping Information System (GISIS) geprüft wird und dafür ein-
zutreten, dass der Informationszugang der nationalen Behörden erleichtert
wird; dabei ist insbesondere der Vorschlag einer zentralen Datenbank zu prü-
fen;

• sich gegenüber den IMO-Partnern dafür einzusetzen, dass Konzepte unter-
sucht werden, die eine gemeinsame Kontrolle der Seefracht durch die für Ge-
fahrgutkontrollen zuständigen nationalen Behörden sowie die Zollverwaltun-
gen zum Ziel haben;

• sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass die Einführung eines
neuen Status „bekannter Versender“ nach dem Vorbild des Luftverkehrs ge-
prüft wird, um eine sichere Lieferkette auf See zu gewährleisten;

• sich gegenüber den europäischen Partnern dafür einzusetzen, dass bei der
Erstellung der auf der Basis der Richtlinie 2001/106/EG geführten Schwarzen
Liste von Schiffen, die im Zuge der Hafenstaatkontrolle durch Sicherheits-
mängel aufgefallen sind, auch unzuverlässige Versender berücksichtigt
werden.

Berlin, den 24. Oktober 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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