BT-Drucksache 17/10394

Bilanz der Bleiberechtsregelungen zum 30. Juni 2012 und politischer Handlungsbedarf

Vom 24. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10394
17. Wahlperiode 24. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Dr. Petra Sitte, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Bilanz der Bleiberechtsregelungen zum 30. Juni 2012 und politischer
Handlungsbedarf

Trotz unterschiedlichster Bleiberechtsregelungen der letzten Jahre für langjäh-
rig Geduldete mit zum Teil sehr spezieller Ausrichtung auf Schülerinnen und
Schüler oder Geduldete mit hohen fachlichen Qualifikationen für den Arbeits-
markt bleibt die Zahl der in Deutschland geduldeten Personen mit 87 649 zum
31. März 2012 weiter hoch (Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche
Frage 10 der Abgeordneten Ulla Jelpke auf Bundestagsdrucksache 17/9615).
Aktuell werden deshalb im Bundesrat zwei Gesetzentwürfe der Länder
Schleswig-Holstein und Niedersachsen beraten. Beide wollen auf unterschied-
liche Weise eine dynamische, d. h. nicht mehr stichtagsgebundene Bleibe-
rechtsregelung schaffen, die an die Dauer des bisherigen Aufenthalts und an
eine Reihe so genannter Integrationsleistungen anknüpft. Dies ist jedoch grund-
sätzlich problematisch, da das geltende Recht eine Integration von Personen
mit noch ungeklärtem Aufenthaltsstatus geradezu verhindert (Arbeitsverbote
bzw. Einschränkungen des Arbeitsmarktzugangs, kein Zugang zu Integrations-
kursen, isolierende Wohnheimunterbringung und Einschränkungen der Bewe-
gungsfreiheit, gekürzte Sozialleistungen, die eine Teilhabe am sozialen und
kulturellen Leben nicht vorsehen usw.). Neben dem Spracherwerb und der
überwiegenden oder vollständigen Sicherung des Lebensunterhaltes verlangt
der niedersächsische Gesetzentwurf z. B. auch den Nachweis bürgerschaft-
lichen Engagements als Kriterium für eine gelungene Integration – viele Deut-
sche würden angesichts solcher Voraussetzungen ihr „Bleiberecht“ verlieren.
Die Fraktion DIE LINKE. fordert deshalb seit langem eine großzügige huma-
nitäre Bleiberechtsregelung (vgl. zuletzt Bundestagsdrucksache 17/7459).

Der Verein PRO ASYL e. V. bezeichnete in einer Pressemitteilung vom 31. Mai
2012 insbesondere die Forderung nach einer vollständigen Lebensunterhalts-
sicherung als „unrealistisch“. Der niedersächsische Flüchtlingsrat ging in einer
Stellungnahme davon aus, dass der von der niedersächsischen Landesregierung
vorgelegte Gesetzentwurf „nicht mehr als 10 Prozent“ der Betroffenen den
Übergang in einen regulären Aufenthalt ermöglichen könne. Nur die „Qualifi-
ziertesten unter den Geduldeten“ kämen in Frage. Die bisherige Kritik an den

unterschiedlichen Bleiberechtsregelungen, für einen großen Teil der Betroffe-
nen zu hohe Hürden aufzustellen, scheint sich somit fortzusetzen.

Auch im Rahmen der Innenministerkonferenz (IMK) am 31. Mai/1. Juni 2012 in
Göhren-Lebbin wurde das Thema Bleiberecht erörtert. In einer Protokollnotiz
ließen die Länder Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg,
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz vermerken, sie erwarteten die Vor-
lage eines entsprechenden Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung. Die

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Konferenz der Integrationsminister hatte bereits am 31. Mai 2012 einen neuen
Anlauf für eine stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung gefordert und dazu
einen Bericht vorgelegt, der Eckpunkte einer Neuregelung enthält.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integra-
tion, Staatsministerin Dr. Maria Böhmer, hatte sich am 16. März 2012 mit einer
eigenen Pressemitteilung für den Vorschlag aus Niedersachsen ausgesprochen
und um Unterstützung geworben. Sie war an den Debatten der Integrations-
ministerkonferenz nicht beteiligt. Ihr Eintreten für den niedersächsischen Vor-
schlag ist schon deshalb bemerkenswert, weil die Hauptintention dieser Rege-
lung mehr zu sein scheint, Abschiebungshindernisse zu beseitigen, und weniger,
ein Bleiberecht zu ermöglichen. Denn am Anfang des Verfahrens steht die Klä-
rung der Identität und Passbeschaffung (d. h. die Beseitigung von tatsächlichen
Abschiebungshindernissen). Bevor dann später eine (zunächst nur einjährige)
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, müssen die Betroffenen noch als Ge-
duldete innerhalb eines Zweijahreszeitraums nicht nur das Deutschsprachniveau
A1 in einem Integrationskurs erlernt und nachgewiesen haben (hieran scheitern
etwa 50 Prozent aller Integrationskursabsolvierenden), sondern zugleich bereits
mindestens ein Jahr lang die volle Lebensunterhaltssicherung für sich und etwa-
ige Familienangehörige erbracht haben (und dies muss zudem noch für die Zu-
kunft gewährleistet sein). Mithin ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass
die Betroffenen zwar die Voraussetzungen für ihre (spätere) Abschiebung schaf-
fen, dann aber an den hohen Hürden für ein dauerhaftes Bleiberecht scheitern.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen haben bis zum 30. Juni 2012 (bzw. zum letzten verfüg-
baren Stand; dies gilt auch für die folgenden Fragen) nach Angaben der
Bundesländer eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis auf Probe im
Rahmen des IMK-Beschlusses vom 4. Dezember 2009 bzw. nach der „Alt-
fallregelung“ des § 104a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) beantragt
(bitte nach Bundesländern differenzieren)?

2. Wie viele dieser Anträge waren nach Angaben der Bundesländer zum Stand
30. Juni 2012 noch nicht entschieden, wie viele hatten sich erledigt, und wie
viele waren zu diesem Datum abgelehnt (bitte nach Bundesländern differen-
zieren), und welche genaueren Erkenntnisse gibt es zu den Gründen der Ab-
lehnung in welchem Umfang?

3. Wie viele Personen hatten nach Angaben der Bundesländer zum 30. Juni
2012

a) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen nachgewiesener oder glaubhaft ge-
machter Halbtagsbeschäftigung,

b) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen (voraussichtlich) erfolgreicher
Schul- oder Berufsausbildung,

c) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
„auf Probe“ nach § 23 Absatz 1 AufenthG wegen nachgewiesener Bemü-
hungen um eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung,

d) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 5 AufenthG aufgrund
überwiegender eigenständiger Lebensunterhaltssicherung,

e) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 6 AufenthG im Rahmen
einer Härtefallregelung für Auszubildende, Familien bzw. Alleinerzie-
hende mit Kindern u. a. (bitte, soweit möglich, differenzieren),

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f) eine Aufenthaltserlaubnis aus sonstigem Grunde/auf sonstiger Rechts-
grundlage

erhalten (bitte jeweils nach Bundesländern differenzieren, bezüglich Nord-
rhein-Westfalens bitte differenzierte Angaben entsprechend der dortigen
Ausführungsregelung machen)?

4. Wie viele in Deutschland lebende Personen verfügten nach Angaben des
Ausländerzentralregisters (AZR) zum Stand 30. Juni 2012 über eine Aufent-
haltserlaubnis nach § 104a oder § 104b AufenthG, z. T. i. V. m. § 23 Absatz 1
AufenthG (bitte – auch im Folgenden – nach Bundesländern differenzieren)?

a) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a AufenthG erhalten, weil der Lebensunterhalt vollständig
durch Erwerbstätigkeit gesichert war?

b) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
AufenthG „auf Probe“ erhalten?

c) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 1 AufenthG als bei der Einreise noch min-
derjährige, inzwischen aber volljährige Kinder erhalten?

d) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 2 AufenthG als unbegleitete Minderjährige
erhalten?

e) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104b i. V. m.
§ 23 Absatz 1 AufenthG als Minderjährige unter der Bedingung der Zu-
sage einer Ausreise der Eltern erhalten?

5. Wie viele Menschen befanden sich nach Angaben des AZR zum Stichtag
30. Juni 2012 in Deutschland, deren Aufenthalt lediglich geduldet oder ge-
stattet wurde (bitte differenzieren), und wie viele von ihnen lebten länger als
sechs Jahre in Deutschland (bitte nach Bundesländern differenzieren und
jeweils die Zahl bzw. den Anteil der länger als sechs Jahre hier Lebenden an
der Gesamtzahl in Prozent angeben)?

6. Welche genaueren Angaben lassen sich zum Alter der Geduldeten bzw. der
Geduldeten mit über sechsjährigem Aufenthalt in Deutschland (bitte diffe-
renzieren) zum Stand 30. Juni 2012 machen (bitte mindestens die Alters-
grenzen 6, 12, 16, 18, 21, 26, 30, 40, 50, 60 und 65 Jahre berücksichtigen),
und über welche Staatsangehörigkeiten verfügten diese Personen (bitte nach
Bundesländern und den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differen-
zieren)?

7. Wie viele ausreisepflichtige Personen befanden sich nach Angaben des AZR
zum Stichtag 30. Juni 2012 ohne Duldung in Deutschland, und wie viele von
ihnen lebten länger als sechs Jahre in Deutschland (bitte nach Bundes-
ländern differenzieren und jeweils die Zahl bzw. den Anteil der länger als
sechs Jahre hier Lebenden an der Gesamtzahl in Prozent angeben)?

8. Welche genaueren Angaben lassen sich zum Alter dieser ausreisepflichtigen
Personen ohne Duldung bzw. dieser Personen mit über sechsjährigem Auf-
enthalt in Deutschland (bitte differenzieren) zum Stand 30. Juni 2012 ma-
chen (bitte mindestens die Altersgrenzen 6, 12, 16, 18, 21, 26, 30, 40, 50, 60
und 65 Jahre berücksichtigen), und über welche Staatsangehörigkeiten ver-
fügten diese Personen (bitte nach Bundesländern und den zehn wichtigsten
Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

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9. Wie viele Personen lebten nach Angaben des AZR zum 30. Juni 2012 mit
einer Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG in
Deutschland (bitte nach Bundesländern und den zehn wichtigsten Staats-
angehörigkeiten differenzieren)?

10. Wie viele Personen lebten nach Angaben des AZR zum 31. Juni 2012 mit
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG in Deutschland (bitte nach
Bundesländern und den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differen-
zieren)?

11. Wie viele Personen lebten nach Angaben des AZR zum 31. Juni 2012 mit
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Absatz 1, 2 Satz 1, 2 bzw. mit einer
Duldung nach § 60a Absatz 2b AufenthG in Deutschland (bitte jeweils nach
Bundesländern und den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differen-
zieren)?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die Wirksamkeit der Regelungen der
§§ 18a und 25a AufenthG, auch in Anbetracht der unverändert hohen Ge-
samtzahl der lediglich geduldeten Personen im jugendlichen Alter?

13. Welche Erkenntnisse oder ungefähren Einschätzungen hat die Bundes-
regierung zu der Frage, in welchem Ausmaß Betroffene zum Jahreswechsel
2011/2012 ihre Aufenthaltserlaubnis auf Probe bzw. ihre Aufenthaltserlaub-
nis im Rahmen der Altfall- bzw. IMK-Anschlussregelung wieder verloren
haben bzw. inwieweit sie in eine Aufenthaltserlaubnis nach den allgemeinen
Regeln des Aufenthaltsrechts wechseln konnten (Aufenthaltsverfestigung)
oder inwieweit Personen aus diesem Personenkreis ausgereist oder abge-
schoben worden sein könnten?

14. Wie erklärt die Bundesregierung den deutlichen Rückgang der im AZR er-
fassten Aufenthaltserlaubnisse nach § 23 Absatz 1 AufenthG vom 31. De-
zember 2010 zum 31. Dezember 2011 um etwa 15 000 auf 44 382, und
stimmt sie mit der Einschätzung der Fragestellerinnen und Fragesteller über-
ein, dass es sich bei vielen dieser 15 000 Personen um solche handeln könnte,
die zuvor eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen von Bleiberechtsregelungen
(z. T. „auf Probe“) hatten, deren Verlängerung nun noch geprüft wird?

Welche Erklärungen hat die Bundesregierung gegebenenfalls dafür, dass
die Zahl der im AZR erfassten Personen, die einen Antrag auf einen Auf-
enthaltstitel gestellt haben, insgesamt von 75 000 Ende 2010 auf fast
134 000 Ende 2011 gestiegen ist?

15. Welche Auffassung vertritt die Bundesbeauftragte für Migration, Flücht-
linge und Integration zu den von ihren Länderkolleginnen und -kollegen
aus der Integrationsministerkonferenz vorgelegten Vorschlägen für eine
dynamische Bleiberechtsregelung, und was konkret tut sie im Bereich des
Bleiberechts?

16. Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung bzw. vertreten einzelne
Ressorts zu den derzeit im Bundesrat vorliegenden Gesetzentwürfen für
eine dynamische Bleiberechtsregelung?

17. Plant die Bundesregierung, in dieser Wahlperiode noch eine eigene Geset-
zesinitiative für eine dynamische Bleiberechtsregelung vorzulegen?

Wenn ja, mit welchen ungefähren Eckpunkten?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 24. Juli 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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