BT-Drucksache 17/10257

Interessenkonflikte und fachliche Einseitigkeit in der Risikobewertung von gentechnisch veränderten Organismen und Pflanzenschutzmitteln

Vom 2. Juli 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10257
17. Wahlperiode 02. 07. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Ebner, Nicole Maisch, Cornelia Behm, Bärbel Höhn,
Undine Kurth (Quedlinburg), Friedrich Ostendorff, Markus Tressel und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Interessenkonflikte und fachliche Einseitigkeit in der Risikobewertung von
gentechnisch veränderten Organismen und Pflanzenschutzmitteln

Sowohl bei der Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) als
auch bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist in den europäischen und
nationalen Regelungen eine Prüfung und Bewertung möglicher Risiken für
Mensch und Umwelt vorgeschrieben.

In Deutschland wird diese Risikoprüfung durch Bundesbehörden im Geschäfts-
bereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (BMELV) koordiniert, nämlich das Bundesamt für Verbraucher-
schutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und das Bundesinstitut für Risiko-
bewertung (BfR). Teilweise sind auch das Umweltbundesamt (UBA) und das
Bundesamt für Naturschutz (BfN) aus dem Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) eingebunden.

Auf europäischer Ebene erfolgt die Risikobewertung durch die Europäische Be-
hörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA).

Grundsätzlich verfügen die nationalen wie europäischen Behörden weder über
die Kompetenz noch über die finanziellen oder technischen Ressourcen zur
Durchführung umfangreicher eigener wissenschaftlicher Risikostudien (z. B.
Fütterungs- oder Anbauversuche). Diese Studien werden daher von den Antrag-
stellern für einen Antrag auf Zulassung durchgeführt bzw. deren Erstellung wird
finanziert. Trotz Hinzuziehung zusätzlicher externer Studien basieren die meis-
ten Zulassungsentscheidungen nach wie vor im Wesentlichen auf Daten von den
Unternehmen, die von einer positiven Entscheidung am meisten profitieren.

Um eine breite fachliche Basis der Risikoprüfung zu gewährleisten, haben BVL
und BfR, aber auch die EFSA Expertenkommissionen (Panels) eingerichtet,
deren Mitglieder die Aufgabe haben, ein unabhängiges Urteil auf rein wissen-
schaftlicher Basis über die eingereichten Zulassungsanträge zu fällen.

Sowohl bei der EFSA als auch bei den nationalen Behörden ist allerdings fest-
zustellen, dass diese Fachgremien zumindest bezüglich GVO und Pestiziden

sehr einseitig besetzt sind. So sind z. B. in der Expertenkommission des BfR für
die Bewertung von Pflanzenschutzmitteln 5 von 16 Mitgliedern direkt oder in-
direkt für Hersteller von Pflanzenschutzmitteln tätig. Zwar sind in der Experten-
kommission für genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel keine Repräsen-
tanten entsprechender Unternehmen vertreten; dafür wurde jüngst bekannt, dass
zahlreiche Wissenschaftler in der Kommission wesentlich engere Beziehungen
mit der Gentechnikindustrie und deren Lobbyvereinigungen pflegen, als aus den

Drucksache 17/10257 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

vorgeschriebenen Veröffentlichungen zu möglichen Interessenkonflikten er-
sichtlich ist.

Diese Einseitigkeit in der Besetzung der Expertenkommissionen wiegt auch
deshalb besonders schwer, weil keinerlei neutrale oder gar kritische Vertreterin-
nen und Vertreter der Zivilgesellschaft, etwa aus Umweltschutz- oder Verbrau-
cherverbänden, in den Kommissionen vertreten sind.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit welcher Fachrichtung
sind derzeit hauptamtlich für die Risikobewertung auf Bundesebene in den
Bereichen GVO, Pflanzenschutzmittel, Lebensmittelzusatz- und -verarbei-
tungshilfsstoffe, etc. tätig (bitte nach Name, akademischem Titel, Fachrich-
tung/Qualifikation, Institution, Abteilung, Aufgabe/Funktion, Zeitraum auf-
schlüsseln)?

2. Welche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit welcher Fachrichtung
sind derzeit ehren- oder nebenamtlich für die Risikobewertung auf Bundes-
ebene im Bereich GVO, Pflanzenschutzmittel, Nahrungsmittelzusatz- und
-verarbeitungshilfsstoffe tätig (bitte nach Name, akademischem Titel, Fach-
richtung/Qualifikation, Institution, Abteilung/Panel/Kommission o. Ä., Geld-
oder Arbeitgeber, Aufgabe/Funktion, Zeitraum aufschlüsseln)?

3. In wie vielen Fällen (absolut bzw. prozentualer Anteil der Gesamtzahl aller
Risikobewertungen der jeweiligen Stoffgruppe) ist die endgültige Risiko-
bewertung des BfR in Bezug auf mögliche Risiken eines gentechnisch ver-
änderten Organismus, eines Pflanzenschutzmittels oder eines Lebensmittel-
zusatzstoffes in wesentlichen Punkten von der Empfehlung der Experten-
kommission bzw. den Empfehlungen der jeweiligen Expertenkommissionen
abgewichen?

4. In wie vielen Fällen erfolgte diese Abweichung von der Empfehlung der Ex-
pertenkommission bzw. den Empfehlungen der jeweiligen Expertenkommis-
sionen aufgrund befürchteter Interessenkonflikte bei einzelnen oder mehre-
ren in der Kommission/den Kommissionen beteiligten Experten?

5. Inwiefern trifft es zu, dass die Mitglieder der Expertenkommissionen beim
BfR Erklärungen über mögliche Interessenkonflikte abgeben müssen (siehe
www.bfr.bund.de/de/bfr_kommissionen-311.html), und wo und wie ist diese
Verpflichtung formell verankert?

6. In welchen Fällen und in welchen der 15 Expertenkommissionen sind diese
Erklärungen zu möglichen Interessenkonflikten aus Sicht der Bundesregie-
rung nicht korrekt oder nicht vollständig abgegeben worden, wie dies in
einem Bericht der Organisation Testbiotech e. V. vom 24. Mai 2012 für die
Expertenkommission für genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel be-
hauptet wird?

7. Seit wann wusste die Bundesregierung von den von Testbiotech e. V. erhobe-
nen Vorwürfen bezüglich unvollständiger oder inkorrekter Erklärungen zu
Interessenkonflikten bei Mitgliedern der Expertenkommission für genetisch
veränderte Lebens- und Futtermittel beim BfR, und warum hat sich die Bun-
desregierung in der Sitzung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages vom 13. Juni 2012 zum
konkreten Vorwurf unvollständiger Interessenkonflikterklärungen nicht ge-
äußert?

8. Prüfen die Bundesregierung und die ihr unterstellten Bundesbehörden Erklä-
rungen über mögliche Interessenkonflikte auf Vollständigkeit und Richtig-

keit?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10257

9. Durch wen, nach welchen Kriterien und mit welchen Instrumenten prüfen
die Bundesregierung und die ihr unterstellten Bundesbehörden mögliche
Interessenkonflikte bei haupt- oder ehrenamtlich tätigen Personen in der
Risikobewertung?

10. Inwieweit werden dabei bezahlte oder unbezahlte Tätigkeiten oder Funk-
tionen in Einrichtungen und Organisationen erfasst und bewertet, die ein-
seitig bestimmte Interessen verfolgen oder befördern (z. B. International
Life Sciences Institute – ILSI, Verein zur Förderung Innovativer und Nach-
haltiger AgroBiotechnologie Mecklenburg-Vorpommern – FINAB, Wis-
senschaftlerkreis Grüne Gentechnik – WGG)?

11. Durch welche Institutionen bzw. Funktionsträger, nach welchem Verfahren
und mit welchen Maßnahmen bzw. Sanktionen wird bei nachgewiesenen
oder vermuteten Interessenkonflikten vonseiten der Bundesregierung und
der ihr unterstellten Behörden reagiert?

12. Wie regelmäßig und durch wen wird das System der Erfassung, Bewertung
und Sanktionierung von Interessenkonflikten durch unabhängige Fachleute,
Kommissionen o. Ä. evaluiert?

Falls eine derartige Evaluierung stattfindet, wo sind die Ergebnisse doku-
mentiert und veröffentlicht?

13. Inwieweit ist aus Sicht der Bundesregierung das ILSI als Lobbyorganisa-
tion zu bewerten, und wie begründet die Bundesregierung ihre Ansicht?

14. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für die ihr unterstellten
Institutionen und Gremien aus dem Umstand, dass die EFSA als Folge der
massiven Kritik an ihrem Umgang mit Interessenkonflikten nunmehr die
Mitarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Verbindun-
gen zum ILSI in ihren Panels ausschließt?

15. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung der EFSA im Kontext der
europäischen und nationalen Risikobewertung bei, und welche Relevanz
bzw. Konsequenzen haben aus Sicht der Bundesregierung Risikobewer-
tungsentscheidungen der EFSA für die deutschen Verbraucher, die Ernäh-
rungs- oder Landwirtschaft und verwandte Bereiche?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die wissenschaftliche Unabhängigkeit
und den Umgang mit Interessenkonflikten in der EFSA und ihren Experten-
panels in der Zeit bis zum Rücktritt der Verwaltungsratschefin Diana Banati
am 8. Mai 2012?

17. Welche Personen sind sowohl in den Expertenpanels bzw. -kommissionen
der EFSA als auch in entsprechenden Gremien der deutschen Regulierungs-
behörden (BfR, BVL, UBA etc.) tätig (bitte nach Name, Fachrichtung,
Panel/Kommission, Institution, Geld- oder Arbeitgeber, Aufgabe/Funktion,
Zeitraum aufschlüsseln)?

18. Sind die Informationen auf der Website des BfR korrekt und aktuell, nach
denen von 188 Mitgliedern der 15 Expertenkommissionen nur zwei von den
Verbraucherzentralen rekrutiert wurden, während die ca. zwanzigfache
Größenordnung (39) aus „Unternehmensverbänden und Industrie“ stammt
und kein Experte aus dem Bereich der Umweltschutzverbände oder ähn-
licher Vertretungen der Zivilgesellschaft berufen wurde?

Drucksache 17/10257 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

19. Welche Anstrengungen und Maßnahmen hat die Bundesregierung unter-
nommen bzw. ergriffen, um eine bessere Repräsentation von Umwelt- und
Verbraucherverbänden sowie anderer Vertreter der Zivilgesellschaft, deren
Arbeit wesentliche Bezüge zu den Tätigkeitsfeldern des BfR aufweist, in
den Expertenkommissionen des BfR zu erreichen?

Wie bewertet die Bundesregierung die Konsequenzen für die inhaltliche
Ausrichtung und wissenschaftliche Unabhängigkeit von Bewertungen
durch die Expertenpanels zu GVO oder zu Pflanzenschutzmittelrückstän-
den angesichts der starken Präsenz von Vertretern der direkt von Entschei-
dungen betroffenen Unternehmen in diesen Gremien sowie der dort fehlen-
den Vertretung von Umwelt- oder Verbraucherschutzorganisationen?

20. Wie erklärt die Bundesregierung den Umstand, dass das BVL bereits am
2. Mai 2012 in einer ersten Reaktion auf die US-Studie zu Chlorpyrifos
erklärte, dass alle in der Studie genannten Aspekte in die EU-Sicherheits-
bewertung eingegangen seien, während das BfR erst am Tag danach betonte,
die Studie „sehr ernst“ zu nehmen und durch deutsche Experten prüfen zu
wollen und inzwischen eine Neubewertung der toxikologischen Grenzwerte
für Chlorpyrifos empfiehlt?

21. Welche deutschen Experten haben die US-Studie zu Chlorpyrifos nach wel-
chen Verfahren und Kriterien überprüft?

Über welche wissenschaftliche Qualifikation verfügt die Autorin/der Autor
bzw. verfügen die Autorinnen/Autoren der BfR-Stellungnahme zu Chlorpy-
rifos, insbesondere zu Fragen der Neuroanatomie und der Durchführung
von Langzeitkohortenstudien beim Menschen?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die wissenschaftliche Ausgewogenheit
von Beurteilungen des BfR zu Risiken durch Pflanzenschutzmittel an-
gesichts des Umstandes, dass von öffentlichen Institutionen publizierte
Studien, wie z. B. die Studie der University of Columbia zu Chlorpyrifos,
sowie die Untersuchungen von Prof. Andrés E. Carrasco zu Glyphosat vom
BfR unter Verweis auf methodische Mängel als nicht relevant für die Risi-
kobewertung bewertet wurden, während mögliche methodische Mängel der
von der Industrie im Rahmen der Risikobewertung während des EU-Zulas-
sungsverfahrens eingereichten Studien wegen deren Geheimhaltung gar
nicht durch unabhängige Wissenschaftler überprüft werden können?

23. Durch wen, nach welchen Kriterien und nach welchem Verfahren werden
die Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats des BfR berufen?

24. Inwiefern und durch welche Institutionen werden nach Kenntnis der Bun-
desregierung die Mitglieder der Senatskommissionen der Deutschen For-
schungsgemeinschaft (DFG) auf eventuell vorhandene Interessenkonflikte
überprüft?

25. Wird sich die Bundesregierung für eine verstärkte Überprüfung und ggf.
Sanktionierung von Interessenkonflikten in den DFG-Senatskommissionen
einsetzen, auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Vertreterinnen und
Vertreter der DFG-Kommissionen wie z. B. der Senatskommission für die
gesundheitliche Bewertung von Lebensmitteln auch in die Verfahren zur
Berufung von Mitgliedern in die BfR-Expertenkommissionen eingebunden
sind?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10257

26. Wie bewertet die Bundesregierung die Problematik möglicher Interessen-
konflikte in den DFG-Kommissionen vor dem Hintergrund, dass eine dem
Gemeinwohl dienende industrieunabhängige Risikoforschung zu gentech-
nisch veränderten Organismen oder zu Pflanzenschutzmitteln aufgrund der
Geschäftsinteressen in diesen Branchen kaum Aussicht auf erfolgreiche
Akquise von Drittmitteln aus der Privatwirtschaft hat und insofern darauf
angewiesen ist, Finanzmittel in ausreichendem Maße aus industrieunabhän-
gigen öffentlichen bzw. halbstaatlichen Quellen bewilligt zu bekommen?

Berlin, den 2. Juli 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.