BT-Drucksache 17/10206

Kenntnisstand und Positionierung der Bundesregierung zu den Vorfällen am 25./26. Mai 2012 bei El-Houleh/Syrien

Vom 29. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10206
17. Wahlperiode 29. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Harald Koch,
Niema Movassat, Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth und der Fraktion DIE LINKE.

Kenntnisstand und Positionierung der Bundesregierung zu den Vorfällen
am 25./26. Mai 2012 bei El-Houleh/Syrien

Am 25. Mai 2012 und in der folgenden Nacht kamen in der syrischen Stadt
El- Houleh 108 Menschen ums Leben, davon 49 Kinder und 34 Frauen. Nach
ersten Untersuchungen starben weniger als ein Fünftel der Opfer durch Mörser-
und Artilleriebeschuss, sondern die meisten Opfer durch Messer und Schuss-
waffen aus nächster Nähe (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/neue-erkenntnisse-
zu-getoeteten-von-hula-abermals-massaker-in-syrien-11776496.html). Dieses
Massaker hat dem Plan von Kofi Annan, der nach wie vor die größte Hoffnung
zur Verhinderung einer weiteren Eskalation birgt, schweren Schaden zugefügt.

Frankreich und die USA nahmen die Geschehnisse in El-Houleh zum Anlass,
öffentlich die Möglichkeit einer militärischen Intervention zu erörtern. Die USA
diskutierten sogar eine Intervention ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrates.
Vertreter der Europäischen Union und der Bundesregierung wiesen dem Assad-
Regime die alleinige Verantwortung zu.

Die Informationslage ist unübersichtlich. Presseberichte vermitteln einander wi-
dersprechende Bilder. Zwischen gesicherten Tatsachen und Kriegspropaganda
durch Konfliktparteien ist schwer zu unterscheiden, solange eine unabhängige
Untersuchung nicht stattgefunden hat.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie ist der aktuelle Kenntnisstand der Bundesregierung über die Frage der
Verantwortung für die Vorfälle am 25./26. Mai 2012 bei El-Houleh/Syrien?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über sowohl dem Assad-Regime
als auch der Opposition nahestehende bewaffnete Gruppen in Syrien und ihre
jeweilige Stärke, Bewaffnung, Zielsetzung und Führungsstruktur?

3. Wie verträgt sich nach Auffassung der Bundesregierung die Aufforderung,
die Zivilbevölkerung vor bewaffneten Gruppen zu schützen, mit den Ver-
pflichtungen aus dem Sechs-Punkte-Plan, wonach sich die Armee aus be-
wohnten Gebieten zurückzuziehen hat?
4. Beinhaltet der Annan-Plan nach Auffassung der Bundesregierung in jedem
Falle den Abtritt des Regimes Assad zugunsten einer neuen Regierung, und
wie verträgt sich nach ihrer Auffassung die positive Bezugnahme auf den
Annan-Plan mit der in der Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom
29. Mai 2012, „Deutschland weist syrischen Botschafter aus“, mit der dort
ebenfalls geäußerten Feststellung, dass „Syrien […] unter Assad keine Zu-
kunft [hat]“?

Drucksache 17/10206 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

5. Wie wirkt sich nach Auffassung der Bundesregierung die international er-
hobene Forderung nach einem Rücktritt Bashar al-Assads gerade auch in
Verbindung mit der Forderung nach internationaler Strafverfolgung auf die
Erfolgsaussichten des Annan-Planes aus?

6. Wie wirkt sich nach Auffassung der Bundesregierung die Bewaffnung
der Opposition, an der offensichtlich auch Staaten beteiligt sind („Saudi
sends military gear to Syria rebels“, AFP-Meldung vom 17. März 2012),
mit denen die EU gemeinsam die Sondersitzung des UN-Menschenrechts-
rates beantragt hat (www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/
SpecialSession/Session19/NV_19SpecialSession_30May2012.pdf), auf die
Erfolgsaussichten des Annan-Planes aus?

7. Wie wirken sich nach Auffassung der Bundesregierung die seit Beginn des
Konfliktes anhaltenden Waffenlieferungen an die syrische Regierung auf
die Erfolgsaussichten des Annan-Planes aus, und was ist der Bundesregie-
rung über solche Waffenlieferungen bekannt (bitte mit der Angabe über
Ursprung, Ziel und Art der Rüstungsgüter auflisten)?

8. Wie wirken sich nach Auffassung der Bundesregierung die wiederholt
durch ihre Verbündeten vorgetragenen Kriegsdrohungen (vgl. zuletzt
www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/syria/9303815/US-raises-
prospect-of-intervention-in-Syria.html) auf die Erfolgsaussichten des
Annan- Planes aus?

9. Welche Schritte hat die Bundesregierung bislang unternommen, um die aus
der Sicht der Fragesteller völkerrechtswidrigen Kriegsandrohungen, Forde-
rungen nach einem Regime Change und Waffenlieferungen durch ihre Ver-
bündeten zu beenden, und plant sie, auf eine Befassung des UN-Sicherheits-
rates mit diesen den Frieden bedrohenden Verstößen gegen das Völkerrecht
zu drängen (vgl. www.tagesspiegel.de/zeitung/golfstaaten-bieten-rebellen-
waffen-an-un-menschenrechtsrat-verurteilt-damaskus/6279388.html)?

10. Was ist der Bundesregierung über Umfang und Art der Waffen bekannt, die
seit Beginn des Konfliktes an

a) das syrische Regime,

b) die bewaffnete Opposition und

c) weitere bewaffnete Gruppen in Syrien

geliefert wurden, und welche Maßnahmen plant oder hat die Bundesregie-
rung ergriffen, um diese Waffenlieferungen zu unterbinden?

11. Über welche Berichte über das Massaker von El-Houleh verfügte die Bun-
desregierung zu welchem Zeitpunkt, welche davon sind öffentlich, und wo-
rauf begründete die Bundesregierung ihre frühzeitigen einseitigen Schuld-
zuweisungen an das Assad-Regime?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die eindeutige Schuldzuweisung an das
Assad-Regime durch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zu einem
Zeitpunkt, als die Zahl der Opfer noch nicht einmal grob beziffert werden
konnte, und auf welchen Informationen beruhte diese Schuldzuweisung
nach Kenntnis der Bundesregierung?

13. Wann und wie drängte die Bundesregierung auf eine Befassung des UN-
Sicherheitsrates und anderer internationaler Gremien mit den Vorkommnis-
sen in El-Houleh, und welchen neuen Informationen lagen diese Initiativen
jeweils zugrunde?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10206

14. Wie bewertet die Bundesregierung die russische Initiative, vor der Verab-
schiedung einer gemeinsamen Erklärung des UN-Sicherheitsrates den Lei-
ter der UN-Beobachtermission vor Ort anzuhören, und warum hat ihr Ver-
treter bei den Vereinten Nationen nicht selbst eine entsprechende Initiative
ergriffen?

15. Hätte der Vertreter der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat dem zuvor
von Frankreich und Großbritannien vorbereiteten Erklärungsentwurf ohne
diese Anhörung nach den Weisungen der Bundesregierung zustimmen sollen
oder können?

16. Was ist der Bundesregierung über den Bericht des Leiters der UNSMIS
(United Nations Supervision Mission in Syria) am 27. Mai 2012 bekannt
(vgl. www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID =42095&Cr=syria&Cr1)?

17. Was ist der Bundesregierung über die geografische Lage der „zwei getrenn-
ten Orte“ bekannt, an denen nach Berichten der UNSMIS ein Großteil der
Hinrichtungen in El-Houleh stattfand (vgl. www.bbc.co.uk/news/world-
middle-east-18249413)?

18. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, wie viele der Hingerichteten
an diesen zwei Orten zu denselben Familien gehörten, und was ist der
Bundesregierung darüber bekannt, wie stark diese Familien in den Wider-
stand gegen das Assad-Regime involviert waren (vgl. www.faz.net/aktuell/
politik/neue-erkenntnisse-zu-getoeteten-von-hula-abermals-massaker-in-
syrien-11776496.html)?

19. Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, wo sich die Kräfte der Freien
Syrischen Armee, die zuvor Stellungen der syrischen Armee angegriffen
hatten, zum Zeitpunkt der Hinrichtungen aufhielten?

20. Welche Hinweise hat die Bundesregierung über Aktivitäten der Schabiha-
Milizen in räumlicher und zeitlicher Nähe zu den Hinrichtungen bei El-
Houleh?

21. Was ist der Bundesregierung über die Aktivitäten der regulären syrischen
Armee zum Zeitpunkt des Massakers bekannt?

22. Welche Hinweise und Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Stärke,
Präsenz und Bewaffnung der Freien Syrischen Armee und anderer der Op-
position zuzurechnenden Kräfte in unmittelbarer räumlicher und zeitlicher
Nähe zu den Hinrichtungen bei El-Houleh?

23. Welche Augenzeugenberichte waren der Bundesregierung zu welchem
Zeitpunkt bekannt, die auf eine Beteiligung der Schabiha-Milizen bei den
Massakern hinweisen, woher stammen diese Berichte, und welche Kon-
sequenzen zieht die Bundesregierung aus diesen?

24. Hält die Bundesregierung die Bezeichnung der Freien Syrischen Armee und
anderer aus dem Ausland unterstützter und bewaffnet agierender Gruppen
durch das syrische Regime als „bewaffnete terroristische Gruppen“ für
angemessen, und wenn nein, warum nicht?

25. Welche Kenntnisse besitzt die Bundesregierung über die Zahl asymme-
trischer Angriffe durch Dschihadisten und Al-Qaida-nahe bewaffnete
Gruppen in Syrien?

26. Was ist der Bundesregierung über Angriffe der Freien Syrischen Armee
oder anderer der Opposition zuzurechnenden bewaffneten Gruppen auf
Stellungen der syrischen Armee am 25. Mai 2012 bekannt, und wie bewer-
tet sie die entsprechenden Berichte?

27. Hätte die Bundesregierung eine einstimmig verabschiedete Resolution des

UN-Menschenrechtsrates bevorzugt (vgl. www.ohchr.org/EN/NewsEvents/
Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=12215&LangID=E)?

Drucksache 17/10206 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
28. Hätte die Bundesregierung einer Resolution des UN-Menschenrechtsrates,
die auch die Aktivitäten bewaffneter oppositioneller oder bewaffneter
Gruppen verurteilt, zugestimmt?

29. Warum war nach Auffassung der Bundesregierung keine Resolution des
UN-Menschenrechtsrates möglich, die einstimmig hätte verabschiedet wer-
den können?

30. Wann wurde der unter anderem von Katar eingebrachte Resolutionsentwurf
des UN-Menschenrechtsrates erstmals Vertretern der Bundesregierung vor-
gelegt, und wann wurde er nach Kenntnis der Bundesregierung erstmals Ver-
tretern der russischen, chinesischen und kubanischen Regierung vorgelegt?

31. Wann und in welchem Rahmen fanden unter Beteiligung welcher Regierun-
gen Verhandlungen über den unter anderem von Katar in den UN-Men-
schenrechtsrat eingebrachten Entwurf statt?

32. Wie bewertet die Bundesregierung ihre schnelle und eindeutige Schuldzu-
weisung im Hinblick darauf, dass eine Lösung der syrischen Krise erarbei-
tet wird, welche die Bedürfnisse aller drei Konfliktparteien berücksichtigt,
„des Regimes, der bewaffneten Opposition und der schweigenden Mehr-
heit“ (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/buergerkrieg-das-syrische-drama-
11777999.html), insbesondere vor dem Hintergrund von Befürchtungen,
„[d]as Szenario gleicht dem von 1998/1999 im Kosovo: fortgesetzte An-
griffe bewaffneter Banden sollen militärische Reaktionen der Sicherheits-
kräfte provozieren, die dann zum Anlaß genommen werden können, die
Regierung wegen Bruchs ihrer Versprechungen zu verurteilen und weitere
Eskalationsschritte einzuleiten“ (Joachim Guilliard: „Ein Schritt zurück“,
in: junge Welt vom 3. April 2012)?

33. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die sogenannte Verantwor-
tung zum Schutz eine völkerrechtlich verbindliche Rechtsnorm außerhalb
des Mechanismus der kollektiven Sicherheit der UN-Charta darstellt, um
auch dann gegen den Willen der jeweiligen Regierung militärisch zu inter-
venieren, wenn diese Massaker wie in El-Houleh zulässt oder nicht verhin-
dern kann, und existiert nach Auffassung der Bundesregierung ein solches
Recht oder eine die gesamte Völkergemeinschaft völkerrechtlich bindende
Rechtspflicht auch dann, wenn auf dem Territorium eines solchen Staates
bewaffnete Gruppen aktiv sind, die vom Ausland finanziell und militärisch
unterstützt werden?

34. Sollten sich nach der Auffassung der Bundesregierung an solchen Interven-
tionen auch Staaten beteiligen können, die zuvor bewaffnete Oppositions-
gruppen unterstützt haben oder mit solchen Staaten verbündet sind oder zu-
vor mit solchen Staaten etwa im UN-Sicherheitsrat gemeinsame Initiativen
unternommen haben?

35. Ermöglicht oder gebietet gar die sogenannte Verantwortung zum Schutz
solche Interventionen nach der Auffassung der Bundesregierung auch ohne
ein Mandat des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta?

Berlin, den 29. Juni 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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