BT-Drucksache 17/10186

Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung voranbringen

Vom 27. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10186
17. Wahlperiode 27. 06. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben), Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme,
Petra Ernstberger, Elke Ferner, Iris Gleicke, Hubertus Heil (Peine), Josip Juratovic,
Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Gabriele Lösekrug-Möller, Katja Mast,
Thomas Oppermann, Mechthild Rawert, Anton Schaaf, Ulla Schmidt (Aachen),
Ottmar Schreiner, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung voranbringen

Die UN-Behindertenrechtskonvention ergänzt die allgemeinen Menschenrechte
um die Perspektive von Menschen mit Behinderungen, also auch von Kindern
mit Behinderungen, erstmals international einheitlich. Die frühkindliche Bil-
dung ist dabei eine Säule, die das Recht der Kinder auf Bildung garantiert. Damit
Kinder mit Behinderungen und drohenden Behinderungen gleichberechtige Bil-
dungschancen haben, unterstützen die Frühförderstellen die frühkindliche Bil-
dung in Familien. Hier werden die Voraussetzungen geschaffen, damit Kinder
individuell gestärkt am gesellschaftlichen Leben gemeinsam mit ihren Familien
teilnehmen können.

Durch das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) im Jahr 2001 und die Früh-
förderungsverordnung (FrühV) im Jahr 2003 wurde ein interdisziplinäres
System geschaffen, welches Kindern, die von Behinderung betroffenen oder
bedroht sind, und ihren Familien einen abgestimmten Leistungskomplex von Be-
ratung, Diagnostik, Förderung und Behandlung ermöglichen soll: die Komplex-
leistung Frühförderung.

Die Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung erfolgt in der Praxis in den
Bundesländern sehr unterschiedlich und nicht selten sehr unbefriedigend. Dies
wird unter anderem in dem Abschlussbericht zur Studie „Strukturelle und finan-
zielle Hindernisse bei der Umsetzung der interdisziplinären Frühförderung“ des
Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e. V. (ISG) von März 2012,
welche das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Auftrag
gegeben hatte, deutlich. Die Regelungen der Verordnung wurden sehr flexibel
gestaltet, um die bestehende sehr unterschiedlich gewachsene Struktur in den
Ländern nicht zu gefährden. Die Folge sind bundesweit unterschiedliche Inter-
pretationen von Leistungsträgern und Leistungserbringern, was unter der Kom-
plexleistung Frühförderung zu verstehen ist und welche Qualität diese Leistung
aufweisen muss. Verbunden damit gibt es fortdauernd Streitigkeiten um die Fi-

nanzierung.

Da zur Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung Verhandlungen zwi-
schen der gesetzlichen Krankenversicherung, den Trägern der Sozial- und
Jugendhilfe und den Leistungserbringern notwendig sind und bisher sehr unter-
schiedlich erfolgten, bleibt eine annähernd bundeseinheitliche Umsetzung der
Komplexleistung Frühförderung auch weiter auf der Strecke. Der Zuständig-
keitsstreit zwischen Krankenkassen und Trägern der Sozial- und Jugendhilfe

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beeinträchtigt die Versorgung von Kindern mit Behinderungen und drohenden
Behinderungen. Somit ist die Zusammenarbeit mit den Rehabilitationsträgern
zu verbessern und gegebenenfalls sind Klarstellungen vorzunehmen.

Eine ergänzende Vernetzung mit den Frühen Hilfen des SGB XIII wird verschie-
dentlich in die Debatte eingebracht und sollte angesichts der zunehmenden Zahl
von Kindern mit Bedarf an Frühförderung in schwierigen sozialen Situationen
vorangetrieben werden.

Konkreter Handlungsbedarf ist unter anderem bereits von den Leistungserbrin-
gern, durch die ISG-Studie des BMAS und durch die Debatte in der Kinderkom-
mission des Deutschen Bundestages formuliert worden. Konkrete und zeitnahe
Aktivitäten zur Verbesserung der Situation für die betroffenen Kinder und Fami-
lien wurden dagegen von der Regierungskoalition bisher nicht unternommen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Schnittstellenprobleme sieht die Bundesregierung bei der
Umsetzung der FrühV, und welche Wege zur Lösung werden aktuell in der
Bundesregierung und mit den Ländern diskutiert?

2. Worin sieht die Bundesregierung die Ursachen für die fortbestehenden Ab-
stimmungs- und Schnittstellenprobleme im Bereich Frühförderung?

3. Welche konkreten Schritte wurden seit Verabschiedung des Nationalen Akti-
onsplanes durch die Bundesregierung ergriffen, um die Schnittstellenprob-
leme und Abstimmungsprobleme zu beseitigen?

4. Plant die Bundesregierung eine weitere Überprüfung der aktuellen bundesge-
setzlichen Regelungen zur Komplexleistung Frühförderung in Bezug auf die
Leistungs- und Finanzierungsstrukturen in der Umsetzung der FrühV?

Wenn nein, warum nicht?

5. Zieht die Bundesregierung zur Beseitigung der Schnittstellenprobleme be-
reits jetzt bundesgesetzliche Änderungen in Betracht?

Wenn ja, welche Änderungen werden hierzu diskutiert, und könnte ein ent-
sprechender Vorschlag noch in dieser Legislaturperiode gemacht werden?

Wenn nein, warum nicht?

6. Wird das BMAS gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit
(BMG) eine Klärung auf Bundesebene herbeiführen und festlegen, welche
Kosten im Rahmen der Frühförderung von den Krankenkassen übernommen
werden sollen, damit die Krankenkassen nicht länger regional unterschied-
lich, sondern bundeseinheitlich Leistungen gewähren?

Wenn ja, bis wann soll dies geschehen?

Wenn nein, warum nicht?

7. Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, bundeseinheitliche Festlegungen zu
Leistungsinhalt, Leistungsumfang und Qualität zu treffen und diese in der
FrühV zu konkretisieren?

Wenn ja, bis wann soll dies realisiert werden?

Wenn nein, warum nicht?

8. Hält die Bundesregierung eine gesetzliche Definition der Komplexleistung
Frühförderung, die keine Addition von Einzelleistungen, sondern eine inte-
grierte eigenständige Leistung in der gemeinsamen Verantwortung der Leis-
tungsträger ist, für sinnvoll?
Wenn nein, warum nicht?

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9. Welche Regelungen zur Pauschalvergütung sowie zur Kostenteilung der
Rehabilitationsträger hält die Bundesregierung für geeignet, um entspre-
chende Anreize zur gemeinsamen Leistungsträgerschaft zu geben?

10. Was ergab die Auswertung der Erhebung des BMAS bei 500 Frühförder-
stellen zum Stand der Umsetzung der FrühV vor Ort, und welche Schlüsse
zieht die Bundesregierung daraus?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Diskussion zur Frühförderung inner-
halb der Kinderkommission des Deutschen Bundestages in der 17. Legisla-
turperiode, und welche Schlüsse zieht sie daraus?

12. Hält es die Bundesregierung angesichts der bestehenden Probleme zur Um-
setzung der Komplexleistung Frühförderung weiterhin für notwendig, der
Entschließung des Bundesrates zur Umsetzung der Frühförderungsverord-
nung von 2003 – eine klare Abgrenzung von Leistungen der medizinischen
Rehabilitation und heilpädagogischen Leistungen, die im Rahmen der Früh-
erkennung und Frühförderung zu erbringenden Leistungen den jeweiligen
Kostenträgern eindeutig zuzuordnen und im Gesetz selbst klare Aussagen
zur ausgewogenen Aufteilung der Kosten im Rahmen der Komplexleistung
zu treffen – nunmehr durch gesetzliche Änderungen zu entsprechen?

Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?

13. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Beteiligung der Be-
troffenen und ihrer Verbände gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention
an der Ausgestaltung der Leistungen zur Frühförderung in den Ländern vor,
und ist die Bundesregierung der Auffassung, dass gemäß der UN-Behinder-
tenrechtskonvention eine Einbeziehung der Betroffenen, auch im Bereich
der Leistung zur Frühförderung in den Ländern und im Bereich der Ver-
tragsgestaltung, erfolgen muss?

Wenn ja, wie kann dies gelingen, und welcher gesetzliche Änderungsbedarf
bestünde?

14. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des ISG-Gutachtens von
März 2012 zur Wirkung des Rundschreibens von BMAS und BMG aus
2009, und teilt sie die dort geäußerte Ansicht, dass die Bemühungen um
Klarstellungen und vermittelnde Gespräche seitens des Bundes nur wenig
an der fehlenden flächendeckenden und bundesweit uneinheitlichen Leis-
tungserbringung geändert haben?

Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?

15. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Kenntnis über das ge-
meinsame Rundschreiben von 2009 bei den Leistungsträgern nicht ausrei-
chend ist bzw. die darin gemachten Abgrenzungen des Leistungsinhalts der
Komplexleistung Frühförderung nicht ausreichend umgesetzt werden?

Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?

16. Wird die Bundesregierung zu den regional unterschiedlichen Auslegungen
seitens der Krankenkassen, welche Leistungen im Rahmen der Frühför-
derung übernommen werden, eine Klärung durch das BMG herbeiführen,
die in entsprechenden gesetzlichen Vorgaben mündet?

Wenn nein, warum nicht?

17. Wie kann nach Ansicht der Bundesregierung die Sicherung eines offenen
niedrigschwelligen Beratungsangebotes zur Frühförderung erfolgen, und
welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung an dieser Stelle?

18. Wie ist der aktuelle Stand der Diskussion zwischen Bund und Ländern zur

sogenannten Großen Lösung im SGB VIII, und wann wird die Bundesregie-
rung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen?

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19. Worauf ist die vollkommene Trennung der Frühen Hilfen (SGB VIII) vom
Leistungsbereich Frühförderung zurückzuführen, und welche fachliche
Auffassung vertreten jeweils die Bundesministerien für Arbeit und Soziales
sowie für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zu einer Über-
windung dieser bestehenden Trennung?

20. Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, die Systeme Frühförderung und
Frühe Hilfen miteinander enger zu vernetzen, um gerade Kinder, die in
einem schwierigen sozialen Umfeld leben, zielgerichteter unterstützen zu
können?

Wenn nein, warum nicht?

21. Gibt es aktuell zwischen den jeweils für die Leistungsbereiche Frühför-
derung und Frühe Hilfen zuständigen Bundesministerien (BMAS, BMFSFJ
und BMG) zu diesem Thema Abstimmungsverfahren?

Wenn ja, welchen Inhalt haben diese Abstimmungen?

22. Gibt es zur Vernetzung der Leistungsbereiche Frühförderung und Frühe
Hilfen Abstimmungsverfahren mit den Ländern?

Wenn ja, welchen Inhalt haben diese Abstimmungen, und welche Auffas-
sungen vertreten die Länder?

23. Entspricht es den Tatsachen, dass die Bundesregierung die Einsetzung einer
Expertenarbeitsgruppe aus Vertretern von BMAS, BMG und BMFSFJ ge-
prüft hat, und wie ist das Ergebnis dieser Prüfung?

24. Wie müsste der Arbeitsauftrag einer solchen Expertenarbeitsgruppe kon-
kret umschrieben sein, um den aktuellen Problemen im Bereich der Kom-
plexleistung Frühförderung gerecht zu werden?

Berlin, den 27. Juni 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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