BT-Drucksache 17/10116

Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung

Vom 27. Juni 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10116
17. Wahlperiode 27. 06. 2012

Antrag
der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels,
Klaus Barthel, Ulla Burchardt, Petra Ernstberger, Michael Gerdes, Iris Gleicke,
Kerstin Griese, Klaus Hagemann, Petra Hinz (Essen), Christel Humme,
Oliver Kaczmarek, Daniela Kolbe (Leipzig), Ute Kumpf, Katja Mast, Thomas
Oppermann, Florian Pronold, René Röspel, Marianne Schieder (Schwandorf),
Swen Schulz (Spandau), Stefan Schwartze, Andrea Wicklein, Dagmar Ziegler,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Für den Zeitraum zwischen dem 1. Oktober 2010 bis zum 30. September 2011
wurden 570 140 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge registriert. Das ist im
Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 1,8 Prozent (2010: 559 960). Das Ausbil-
dungsangebot stieg gegenüber 2010 um 20 264 (3,5 Prozent) auf 599 829 Plätze.
Rein rechnerisch standen am Ende des Ausbildungsjahres 29 689 freie Ausbil-
dungsplätze 11 550 Bewerberinnen und Bewerber auf einen Ausbildungsplatz
gegenüber.

Junge Frauen konnten 2011 nicht von der Verbesserung auf dem Ausbildungs-
stellenmarkt profitieren. Mit 40,7 Prozent war der Anteil der Ausbildungsver-
träge, die mit Frauen abgeschlossen wurden, so niedrig wie seit 2002 nicht mehr.
Ein langanhaltender Trend setzt sich damit fort. Auch Jugendliche mit Migra-
tionshintergrund haben weiterhin das Nachsehen. Obwohl sie ein ebenso großes
Interesse an einer Berufsausbildung wie deutsche Jugendliche haben, sind sie
mit 33,5 Prozent bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen stark unter-
repräsentiert.

Eine reine statistische Gegenüberstellung von Angebot und Nachfrage auf dem
Ausbildungsmarkt lässt regionale und berufliche Disparitäten unberücksichtigt.
Auf der einen Seite differieren die Besetzungsprobleme von Ausbildungsstellen
je nach Region und Ausbildungsbereich. Auch die Größe der Ausbildungs-
betriebe spielt eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite macht sich bereits in
einigen Bereichen der absehbare Fachkräftemangel aufgrund des demografisch
bedingten Rückgangs der Schülerzahlen bemerkbar. Der Anteil der nichtstu-

dienberechtigten Schulabgängerinnen und -gänger sank im Vergleich zu 2010
um 3,5 Prozent (–19 699). Im Vergleich zu 1995 ist das ein Minus von 154 000.

Die Zahl der Ausbildungsbetriebe erreicht mit 468 789 im Zehnjahresvergleich
einen historischen Tiefstand – und das obwohl die Zahl der Unternehmen ins-
gesamt gestiegen ist. Gleichzeitig sinkt die Ausbildungsbetriebsquote auf
22,5 Prozent. Das im Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräfte in

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Deutschland angestrebte Ziel der Gewinnung von 30 000 neuen Ausbildungs-
betrieben jährlich wird somit nicht erreicht.

Laut des Qualifizierungspanels des Bundesinstituts für Berufsbildung gibt jeder
dritte Betrieb an, dass er offene Ausbildungsplätze nicht besetzen kann. Begrün-
det wird dieser Umstand mit nicht ausreichender schulischer Qualifikation,
mangelnder Leistungsbereitschaft der jungen Menschen und zunehmend auch
mit dem demografisch bedingten Bewerberrückgang. Diesen Klagen steht die
Tatsache gegenüber, dass rund 77 000 Jugendliche, die von der Bundesagentur
für Arbeit als „ausbildungsreif“ eingestuft wurden, keinen Ausbildungsplatz
bekommen haben. Sie wurden trotz bestehenden Ausbildungswunsches in die
Warteschleife des so genannten Übergangssystems geschoben oder als unver-
sorgte Bewerberinnen und Bewerber weitergeführt.

Wieder zeigt sich, dass die Debatte um die so genannte Ausbildungsreife junger
Menschen dann an Dynamik gewinnt, wenn auf dem Ausbildungsmarkt eine
Lücke zwischen Angebot und Nachfrage klafft. Statt junge Menschen zu stigma-
tisieren, muss die Integrationskraft der betrieblichen Ausbildung gestärkt wer-
den. In ihr liegt eine der herausragenden Qualitätsmerkmale des dualen Systems
in Deutschland. Gleichzeitig muss die „Ausbildungsreife“ der Betriebe verbes-
sert werden. Eine mangelnde Ausbildungsqualität, die sich u. a. in niedriger Ver-
gütung, einer hohen Zahl von Überstunden und schlechten Arbeitsbedingungen
zeigt, führt zu hohen Abbruchquoten in bestimmten Branchen. Beispielhaft ist
hier der Hotel- und Gaststättenbereich, in dem mehr als 40 Prozent der Ausbil-
dungen vorzeitig beendet werden.

Im Bereich des so genannten Übergangssystems sind entgegen der Ankündigun-
gen der Bundesregierung auf der Sparklausur 2011 keine brauchbaren Verbes-
serungen erarbeitet worden. Weiterhin befinden sich knapp 300 000 Jugendliche
– unter ihnen auch langjährige Altbewerberinnen und Altbewerber – in verschie-
denen Maßnahmen, teilweise in sinnlosen Warteschleifen. Der jetzige Maßnah-
mendschungel ist nicht nur für die meisten Beteiligten intransparent und unüber-
sichtlich, sondern mit jährlich ca. 6 Mrd. Euro sehr kostenintensiv. Problematisch
ist, dass die Maßnahmen oftmals keine anrechenbaren und häufig auch keine
anschlussfähigen Qualifikationen für eine berufliche Ausbildung bringen. Mit
dem Recht auf Ausbildung muss das Übergangssystem perspektivisch überwun-
den werden. Zentrale Voraussetzungen sind dafür der systematische Ausbau der
persönlichen Begleitung und nachhaltigen Beratung in den Schulen, die betrieb-
liche Einstiegsqualifizierung als gezielt einzusetzende Fördermaßnahme und die
Weiterentwicklung und Stärkung des regionalen und kommunalen Bildungs-
managements. Im Fall eines zu geringen Ausbildungsplatzangebots sollen zur
Sicherung des Fachkräftebedarfs gemeinsam mit den Tarifpartnern Branchen-
oder Qualifizierungsfonds eingerichtet werden, die von den Tarifpartnern gestal-
tet und verwaltet werden.

Ein besonderes Augenmerk muss auf der Gruppe von rund 86 000 ehemaligen
Bewerbern liegen, die keine aktive Hilfe bei der Ausbildungssuche nachfragen.
Diese Jugendlichen werden zwar statistisch erfasst, aber nicht weiter betreut. Da
die Ursachen für dieses Verhalten weder bekannt noch untersucht werden,
besteht hier möglicherweise eine besonders große Gefahr, dass diese jungen
Menschen aus dem Bildungs- bzw. Ausbildungssystem fallen und somit keine
zukunftsfähige Perspektive auf dem Arbeitsmarkt entwickeln.

Der Rückgang der abgeschlossenen zweijährigen Ausbildungsverträge auf rund
52 000 erklärt sich durch die verminderte Zahl der Neuabschlüsse in den neuen
Bundesländern. Letztmalig wurden hier 2009/2010 5 000 zusätzliche Ausbil-
dungsplätze im Rahmen des Sonderprogramms Ost vom Bund in den neuen
Ländern gefördert. Der durch das Angebot zweijähriger Berufe erhoffte Effekt,

dass junge Menschen eine solche Ausbildung als Sprungbrett in eine drei- bis
dreieinhalbjährige Ausbildung nutzen, ist nicht eingetreten. Zwar erfüllen

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95 Prozent aller Neuabschlüsse in zweijährigen Ausbildungen diese Vorausset-
zung, aber nur etwa bei 26 Prozent wird die Ausbildung in einem Fortführungs-
beruf fortgesetzt. Zukünftig sollen über die Möglichkeit von Stufenausbildungen
nach § 5 Absatz 2 Nummer 1 des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) wesentlich
bessere Chancen auf eine vollumfassende Ausbildung eröffnet werden.

Konstant sind in Deutschland 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 20
und 29 Jahren ohne Berufsabschluss. Hier lässt die Bundesregierung jegliches
schlüssige Konzept zur Integration der Betroffenen in die Ausbildungs- und Ar-
beitswelt vermissen, vorhandene Instrumente werden nicht hinreichend genutzt.
Exemplarisch ist hier die Zahl der 281 000 Alleinerziehenden – überwiegend
Frauen – bis einschließlich 30 Jahre, von denen rund 46 Prozent keinen berufs-
qualifizierenden Abschluss haben. Die besonders für diese Personengruppe mit
der Reform des BBiG 2005 aufgenommene Möglichkeit zur Aufnahme einer
Teilzeitausbildung wird kaum genutzt. 2010 wurden lediglich 1 056 Teilzeit-
Ausbildungsverträge neu abgeschlossen. Ursache hierfür sind u. a. mangelnde
Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Überforderung des Elternteils bei Finanzie-
rung des Lebensunterhaltes und die mangelnde Motivation von Betrieben zur
Bereitstellung von Teilzeit-Ausbildungsplätzen.

Festzustellen bleibt unterm Strich, dass die trotz bestehender Finanzkrise guten
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht genutzt wurden, um
durch das Ausschöpfen aller Ausbildungspotenziale den Fachkräftebedarf von
morgen zu sichern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. jedem Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Recht auf eine qualifizierte
Ausbildung zu garantieren;

2. ein Förderkonzept vorzulegen, das für alle jungen Menschen, die keinen be-
trieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben, einen öffentlich geförderten
und mit der Praxis verzahnten Ausbildungsplatz vorsieht, der mit einer Be-
rufsausbildungsgarantie für eine vollqualifizierende Ausbildung verknüpft ist;

3. einen Gesetzentwurf für ein Rahmengesetz vorzulegen, das Vereinbarungen
der Sozialpartner zur Gründung von Qualifizierungs- bzw. Branchenfonds er-
möglicht, die auf tariflicher Basis realisiert werden können (freiwillige Ver-
einbarungen sollten tarifliche Grundlagen berücksichtigen). Unterstützende
Fördermöglichkeiten bestehender Programme im Rahmen der Weiterbildung
sollten auch für die Qualifizierungsfonds nutzbar sein;

4. im Rahmen der Neuordnungsverfahren und Modernisierung von Ausbil-
dungsberufen ausschließlich gemäß dem Beschluss auf Bundestagsdruck-
sache 15/4752 im Konsens mit den beteiligten Akteuren zu verfahren (Kon-
sensprinzip);

5. gemeinsam mit den Sozialpartnern und unter Einbeziehung des Hauptaus-
schusses des Bundesinstituts für Berufsbildung die über 300 Ausbildungs-
berufe in Berufsfamilien zusammenzuführen, um der Intransparenz und Über-
spezialisierung entgegenzuwirken;

6. gemeinsam mit den Ländern unverzüglich Vereinbarungen zur Verbesserung
des Übergangsmanagements zu erarbeiten; der Beschluss des Hauptaus-
schusses des Bundesinstituts für Berufsbildung vom 17. Juni 2011 „Leitlinien
zur Verbesserung des Übergangs Schule – Beruf“ ist dafür die entscheidende
Grundlage. Kein Abschluss ohne Anschluss ist hierbei das Ziel;

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7. im Rahmen der Verbesserung des Übergangsmanagements die Einstiegs-
qualifizierung als zentrales Instrument fortzuführen, deren Inhalte auch zu-
künftig an der betrieblichen Ausbildung zu orientieren und ausschließlich
zielgruppenadäquat einzusetzen;

8. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der folgende Punkte enthält:

– die Berufseinstiegsbegleitung nach § 49 des Dritten Buches Sozial-
gesetzbuch (SGB III) wird gestärkt, indem die bisher geforderte Mit-
finanzierung durch Dritte gestrichen wird;

– die Förderung von ausbildungsbegleitenden Hilfen nach § 241 SGB III
wird erweitert, indem auch Auszubildende unterstützt werden sollen, de-
nen ohne Förderung ein Abbruch ihrer zweiten Berufsausbildung drohen
würde und für die diese Förderung für eine erfolgreiche und nachhaltige
berufliche Integration erforderlich ist;

9. endlich ein Konzept für die Weiterqualifizierung der rund 1,5 Millionen
jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss zu entwickeln. Mit der Einrich-
tung von Qualifizierungsfonds für die Facharbeitermärkte und Branchen
soll den Sozialpartnern ein Instrument zur Verfügung gestellt werden, das
sie in Eigenregie zur Sicherung und Weiterentwicklung des Fachkräftebe-
darfs nutzen können;

10. zweijährige Ausbildungen nicht weiter zuzulassen, sondern im Rahmen von
Stufenausbildung nach § 5 Absatz 2 Nummer 1 BBiG die Perspektiven auf
eine vollqualifizierende Ausbildung für die betroffenen jungen Menschen
zu verbessern.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Länder auf,

1. dafür Sorge zu tragen, dass alle Jugendliche eine Ausbildung erhalten. Bei
fehlenden betrieblichen Ausbildungen muss gewährleistet werden, dass Ju-
gendliche wie im „Hamburger Modell“ eine Ausbildung in berufsbildenden
Schulen in Kooperation mit Betrieben absolvieren können;

2. die Möglichkeiten der Anrechnung beruflicher Vorbildung auf die Ausbil-
dungszeit nach § 7 BBiG im Sinne der Gleichwertigkeit der allgemeinen und
beruflichen Bildung verstärkt zu nutzen;

3. gemeinsam mit der Bundesregierung umgehend ein Konzept zur Verbesse-
rung des Übergangsmanagements zu erarbeiten und sich dabei den Beschluss
des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung vom 17. Juni
2011 „Leitlinien zur Verbesserung des Übergangs Schule – Beruf“ als Grund-
lage zu nehmen;

4. alleinerziehenden Frauen und Männer beim Nachholen eines Schul- bzw. Be-
rufsabschlusses – auch in Form einer Teilzeitausbildung – einen Rechts-
anspruch auf einen sofortigen Kinderbetreuungsplatz zu garantieren;

5. die individuelle Berufsorientierung in den Curricula der Schulen und in der
Lehreraus- und -fortbildung zu verankern.

Berlin, den 27. Juni 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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