BT-Drucksache 16/9956

Bundesmittel für das Lepsius-Haus und die Gedenkstätte zum Völkermord an den Armeniern

Vom 7. Juli 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9956
16. Wahlperiode 07. 07. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Lukrezia Jochimsen und der Fraktion
DIE LINKE.

Bundesmittel für das Lepsius-Haus und die Gedenkstätte zum Völkermord
an den Armeniern

Zum Gedenken an den Völkermord des extrem nationalistischen jungtürki-
schen Regimes an weit über einer Million Armenier während der Kriegsjahre
1915/16 verabschiedete der Deutsche Bundestag am 15. Juni 2005 einen
gemeinsamen Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und FDP zu „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und
Massaker an den Armeniern 1915“ (Bundestagsdrucksache 15/5689).

„Besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für
das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entris-
sen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen,
dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden“, forderte
der Bundestagsantrag. Zum 150. Geburtstag des Pfarrers Johannes Lepsius am
15. Dezember 2008 soll in dessen früheren Potsdamer Wohnhaus eine gemein-
sam vom Bund und dem Land Brandenburg finanzierte Gedenkstätte eröffnet
werden. Laut einer Meldung der Berliner Morgenpost vom 21. November 2007
soll das Lepsius-Haus dafür in den kommenden Jahren rund 800 000 Euro aus der
Kulturförderung des Bundes erhalten. Im Lepsius-Haus sind eine Bibliothek,
eine Forschungs- und Begegnungsstätte für internationale wissenschaftliche und
ökumenische Zusammenarbeit sowie die Wiederbelebung der bereits von Lep-
sius seit 1923 geplanten deutsch-armenischen Akademie vorgesehen. Das vom
Theologie-Professor Dr. Hermann Goltz geführte Lepsius-Archiv befindet sich
noch an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wit-
tenberg.

Der Theologe Johannes Lepsius hatte als einziger Deutscher während des Welt-
krieges über den Völkermord mit seiner Schrift „Der Todesgang des armeni-
schen Volkes“ versucht, die Deutschen aufzurütteln. Wie der Journalist und
Autor Wolfgang Gust nachgewiesen hat, war Lepsius keineswegs nur der un-
eigennützige Anwalt der Armenier, sondern zugleich ein extrem rechtsgerichte-
ter Antidemokrat, der eine deutsche Expansion und den Erwerb von Kolonial-
gebieten im Osmanischen Reich befürwortete und dafür die Armenier nutzen
wollte. Die Deportationen der Armenier an sich bezeichnete er als „unbedenk-

lich“, wenn nicht die türkische Verwaltungstechnik meist zum Tode der Depor-
tierten führte. Auch die von Lepsius herausgegebene Deutsch-Armenische Kor-
respondenz nannte noch 1918 den offiziellen türkischen Deportationsbefehl
„harmlos genug“. Dies korrespondierte mit der Haltung der deutschen Bot-
schafter in der Türkei, die nicht gegen die Deportationen an sich, sondern nur
gegen die Massenmorde bei ihrer Durchführung protestierten (Wolfgang Gust,
„Verständnislose Auswüchse des Militarismus“, Historicum Juni 2008).

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1916 schloss sich Lepsius dem extrem rechten Kreis um den führenden deut-
schen General Erich Ludendorff an und arbeitete für dessen Chefpropagandis-
ten Hans von Haeften in Holland (Wolfgang Gust, „Verständnislose Auswüchse
des Militarismus“, Historicum Juni 2008).

Als zu Ende des Krieges damit zu rechnen war, dass die deutsche Mitwirkung
oder Zustimmung zum Völkermord bei den Pariser Friedensverhandlungen zur
Sprache kommen werde, beauftragte das Auswärtige Amt Lepsius mit der
Herausgabe von Dokumenten, die diesen Vorwurf entkräftigen. Die dann von
Johannes Lepsius 1919 herausgegebenen Dokumente „Deutschland und Arme-
nien 1914–1918“ war durch Auslassungen und Fälschungen so manipuliert
worden, dass eine deutsche Mitverantwortung am Völkermord vertuscht
wurde. Tatsächlich war die deutsche Regierung nicht nur Mitwisser der Ver-
brechen ihrer türkischen Verbündeten, sondern deutsche Militärs wie der im
türkischen Großen Hauptquartier für das Verkehrswesen und damit auch die
Bagdadbahn zuständige deutsche Oberstleutnant Böttrich hatten sogar unmit-
telbar etwa durch die Unterzeichnung von Deportationsbefehlen daran mit-
gewirkt (www.armenocide.de). Lepsius gab seinen guten Namen für die Ak-
tenpublikation her und übernahm im Vorwort ausdrücklich die alleinige
Verantwortung „für die Zuverlässigkeit des Bildes“, das die Akten „von der
Haltung der deutschen Regierung in der Behandlung der armenischen Frage
geben“ und damit auch für die Fälschungen, soweit er sie erkannt hatte. In den
20er Jahren rückte Lepsius weiter nach rechts. Er war ein Anhänger der anti-
semitischen Rassenideologie Houston Steward Chamberlains, nannte die Wei-
marer Demokratie ein Intermezzo und hoffte auf ein neues Großdeutsches
Kaiserreich (Wolfgang Gust, „Verständnislose Auswüchse des Militarismus“,
Historicum Juni 2008).

Der staatlichen türkischen Geschichtsinterpretation nahestehende Kreise haben
den Vorwurf der Aktenmanipulation bereits aufgegriffen, um über eine Kritik
der Person von Lepsius und seines Wirkens die Ereignisse um den Genozid
insgesamt in Frage zu stellen oder zu relativieren (z. B. Cem Özgönül – Der
Mythos eines Völkermordes, Köln 2006).

Die Bundesregierung als Förderin des Potsdamer Lepsius-Hauses wäre gut be-
raten, ihre unkritische Haltung zu Lepsius zu überdenken, um solchen Kritikern
nicht ins offene Messer zu rennen und damit das Gedenken an den Armenier-
genozid insgesamt zu gefährden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung seit Verabschiedung des
Antrags auf Bundestagsdrucksache 15/5689 „Erinnerung und Gedenken an
die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland
muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ unter-
nommen,

a) dass zwischen Türken und Armeniern durch Aufarbeitung, Versöhnen
und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird,

b) dass sich Parlament, Regierung und Gesellschaft der Türkei mit ihrer
Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart
vorbehaltlos auseinandersetzen,

c) dass eine internationale Historiker-Kommission gebildet wird, an der
außer türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale
Experten beteiligt sind,

d) dass nicht nur die Akten des Osmanischen Reiches zur Frage des Völ-
kermordes an den Armeniern, sondern auch die von der Bundesrepublik
Deutschland an die Türkei übergebenen Kopien aus dem Archiv des Aus-

wärtigen Amtes allgemein öffentlich zugänglich gemacht werden,

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e) dass innerhalb der Türkei Meinungsfreiheit insbesondere auch bezüglich
des Schicksals der Armenier gewährt wird,

f) dass die Türkei und Armenien ihre zwischenstaatlichen Beziehungen
normalisieren?

2. Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung seit Verabschiedung des
Antrags auf Bundestagsdrucksache 15/5689 „Erinnerung und Gedenken an
die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland
muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ unter-
nommen, um die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen
Rolle beim Völkermord zu fördern?

3. Welche und wie viele Mittel aus dem Bundeshaushalt 2008 sind für das Ge-
denken an den Völkermord an den Armeniern und dessen weiterer wissen-
schaftlicher Aufarbeitung vorgesehen?

a) Mit welchen und wie vielen Mitteln unterstützt der Bund das Potsdamer
Lepsius-Haus?

b) Welche und wie viele Mittel sind außer der Förderung des Lepsius-
Hauses für die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern vorge-
sehen?

4. Trifft die Meldung der „Potsdamer Nachrichten“ vom 4. Juni 2008 zu, wo-
nach sich der Bund und das Land Brandenburg nicht über Details der Finan-
zierung der Gedenkstätte im Lepsius-Haus einigen können?

a) Wenn ja, worin bestehen diese Differenzen?

b) Wenn ja, kann die Bundesregierung trotz dieser Differenzen sicherstellen,
dass die Gedenkstätte Lepsius-Haus rechtzeitig zum 150. Geburtstag von
Johannes Lepsius am 15. Dezember 2008 fertig gestellt sein wird?

5. Inwieweit sind der Bundesregierung neuere Forschungserkenntnisse be-
kannt, wonach Johannes Lepsius nicht nur der stimmgewaltige Anwalt für
die Armenier war, sondern auch ein rechtsgerichteter Antidemokrat, Anti-
semit und Befürworter eines Großdeutschen Kaiserreichs?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass Johannes Lepsius
während des Ersten Weltkrieges für deutsche Kolonien eintrat und in die-
sem Zusammenhang Kilikien und Mesopotamien als „deutsches Arbeits-
gebiet“ bezeichnete, dem er durch Einwirken auf die Armenier zu dienen
glaube?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass Johannes Lepsius
sich 1916 dem extrem rechtsgerichteten Kreis um General Erich
Ludendorff anschloss und in dessen Sinne Auslandspropaganda betrieb?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass Johannes Lepsius
ein Bewunderer der Schriften des antisemitischen Rassentheoretikers
Houston Stewart Chamberlain war, antisemitischen Klischees anhing,
wonach „das jüdische Volk […] Mittelalter und Neuzeit als Parasit der
Germanen überdauert“ habe und die Bolschewiki in Russland als „jüdi-
sche Mongolenherrschaft von Lenins ,goldener Horde‘“ bezeichnete?

d) Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache dass Johannes Lepsius
die Weimarer Republik als „Intermezzo“ und die Demokratie als „Kno-
chenerweichung“ bezeichnete und für ein Großdeutsches Kaiserreich ein-
trat?

e) Wie bewertet es die Bundesregierung, dass Lepsius die Deportationen der
Armenier an sich „unbedenklich“ nannte und die von ihm herausgege-

bene Deutsch-Armenische Korrespondenz 1918 den offiziellen türki-
schen Deportationsbefehl als „harmlos genug“ bezeichnete.

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6. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die von ihr in der Antwort auf die Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 16/4959
genannte Aktenpublikation „Deutschland und Armenien 1914–1918, Potsdam
1919, von ihrem Herausgeber Johannes Lepsius im Auftrag des Auswärtigen
Amtes durch Auslassungen und Fälschungen so manipuliert wurde, dass eine
deutsche Mitwisser- oder Täterschaft verschleiert wurde?

a) Wenn ja, warum empfiehlt die Bundesregierung diese Aktenpublikation
weiterhin – etwa in der Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestags-
drucksache 16/4959 – unkritisch zur Information der Öffentlichkeit über
die deutsche Mitverantwortung am Völkermord?

b) Wenn ja, hält es die Bundesregierung dann weiterhin für richtig, mit Bun-
desmitteln im Potsdamer Lepsius Haus einen Mann unkritisch als großen
Humanisten zu ehren, der die in der Bundestagsresolution 15/5689 als
„unrühmliche Rolle Deutschlands“ bezeichnete deutsche Mitschuld am
Völkermord an den Armeniern vertuschen wollte?

7. Inwieweit hält die Bundesregierung das Lepsius-Haus generell für eine ge-
eignete Stätte zur Aufarbeitung des Völkermordes?

a) Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, dass bei einer weite-
ren Förderung des Lepsius-Hauses mit Bundesmitteln ein ausgewogenes
und differenziertes Bild von Johannes Lepsius Leben und Werk nach
dem aktuellen Stand der Forschung vermittelt wird?

b) Wieweit teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass sich
die Ausstellung und Forschung sowie die Bibliothek im Lepsius-Haus
wesentlich dem Völkermord an den Armeniern und weniger dem Leben
von Johannes Lepsius und der christlichen Missionsarbeit widmen
sollte?

8. Hält die Bundesregierung angesichts der stark antitürkischen Einstellung
von Johannes Lepsius das Potsdamer Lepsius-Haus für eine geeignete Be-
gegnungsstätte von Armeniern und Türken im Sinne der im Bundestags-
antrag 15/5689 genannten Aussöhnung der beiden Völker?

a) Wenn ja, inwieweit hält die Bundesregierung eine gemeinsame Führung
des Lepsius-Hauses durch Deutsch-Türken und Deutsch-Armenier für
wünschenswert?

b) Wenn nein, welche Alternativen sieht die Bundesregierung?

9. Welche konkreten Reaktionen von Seiten der Regierung, von Politikern
und Nichtregierungsorganisationen aus der Türkei sowie von Seiten türki-
scher Migrantenvereinigungen aus der Bundesrepublik Deutschland auf die
geplante Einrichtung der Völkermordgedenkstätte im Lepsius-Haus sind
der Bundesregierung bekannt?

10. Inwieweit hält die Bundesregierung die weitere Betreuung der Aufklärung
des Armenier-Völkermordes durch eine theologische Fakultät anstatt durch
gesellschafts- und geschichtswissenschaftliche Fachleute in der Leitung des
mit Bundesmitteln geförderten Lepsius-Hauses dem Forschungsgegentand
für angemessen?

11. Inwieweit hält es die Bundesregierung für wünschenswert, den pazifis-
tischen Schriftsteller Armin T. Wegner und den sozialdemokratischen
Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht öffentlich zu ehren, die während
des Weltkrieges ebenso wie Johannes Lepsius bemüht waren, die Massaker
an den Armeniern öffentlich bekannt zu machen und in dieser Angelegen-
heit bei der Reichsregierung intervenierten?

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12. Wie steht die Bundesregierung zur anlässlich der zentralen Gedenkfeier für
die Opfer des Genozids an den Armeniern am 24. April 2008 in der Frank-
furter Paulskirche vom Vorsitzenden des Zentralrats der Armenier in
Deutschland erhobenen Forderung, „dass die Leugnung des Völkermordes
endlich auch hierzulande strafrechtlich verfolgt wird“?

Berlin, den 2. Juli 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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