BT-Drucksache 16/9939

Auswirkungen der neuen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug (Stand 30. Juni 2008)

Vom 7. Juli 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9939
16. Wahlperiode 07. 07. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion
DIE LINKE.

Auswirkungen der neuen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug
(Stand 30. Juni 2008)

Der seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes Ende August 2007
erforderliche Nachweis deutscher Sprachkenntnisse vor der Einreise im Rah-
men des Nachzugs von Ehegatten und Lebenspartnern/-innen hat zu einem
massiven Rückgang der erteilten Visa geführt (vgl. die Antwort auf eine Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 16/9137, Anlage 1).
Obwohl seitens der Regierung der Eindruck erweckt wird, bei diesem Rück-
gang handele es sich um einen „vorübergehenden Rückgang“ (ebd., Frage 5),
lag die Zahl der erteilten Visa im 1. Quartal 2008 – d. h. ein halbes Jahr nach
der Gesetzesänderung – immer noch um ein Drittel unterhalb des Vorjahreswer-
tes. In Bezug auf das wichtigste Herkunftsland Türkei betrug dieser anhaltende
Rückgang sogar 46 Prozent. Beschwichtigungsversuche der für Integration zu-
ständigen Staatsministerin Dr. Maria Böhmer im Parlament erweisen sich vor
diesem Hintergrund als unzutreffend: „Der Sprachkurs dauert circa drei Mo-
nate. Das heißt, es wird niemand gehindert, zum Ehegatten zu ziehen“ (Plenar-
protokoll 16/144, S. 15188).

Erste praxisnahe Auswertungen der gesetzlichen Neuregelung durch den Ver-
band binationaler Familien und Partnerschaften (iaf) zeichnen ein desaströses
Bild (vgl. iaf-Informationen 1/2008). Fehlende Härtefallregelungen, die strenge
Anwendungspraxis und Beschränkungen vor Ort führten in zahlreichen Fällen
zu unzumutbaren Trennungen von Eheleuten. Der Verband sieht sich mit „Wut
und Ohnmacht der Ratsuchenden konfrontiert“, das Verhalten der Behörden sei
„schikanös, willkürlich und demütigend“. Die Regelung sei insgesamt „fami-
lienfeindlich“, sie verhindere keine Zwangsheirat und fördere nicht die Integra-
tion, sondern stelle eine zusätzliche, abwehrende Hürde dar. „Die Befürchtun-
gen werden in der Praxis bestätigt. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, diese nicht
mehr länger zu ignorieren und über Änderungen zu diskutieren. Aus Sicht des
Verbandes sind diese Regelungen wieder zurückzunehmen“ (a. a. O.). Ein Ge-
setz, dass vorschreibe, in welcher Sprache sich Familienmitglieder verständi-
gen können sollen, sei nicht hinnehmbar. Es gehe auch nicht um die Förderung
von Sprachkenntnissen (denn die könnte in der Bundesrepublik Deutschland

besser erreicht werden). Geprüft werde vielmehr die Fähigkeit zu lernen, in der
Annahme, daraus könnten Rückschlüsse für die ‚Integrationsfähigkeit‘ in die
deutsche Gesellschaft abgeleitet werden.

Drucksache 16/9939 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im 2. Quartal des Jahres
2008 erteilt (bitte die Gesamtzahl angeben, zusätzlich differenzieren nach
den 15 aufkommensstärksten Ländern, und jeweils die Vergleichszahlen des
2. Quartals 2007 und des 1. Quartals 2008 sowie den jeweiligen prozentua-
len Rückgang oder Anstieg benennen)?

2. Welches waren die 20 Länder mit dem prozentual stärksten Rückgang der
erteilten Visa zum Ehegattennachzug, wenn die addierten Werte des 1. und
2. Quartals 2008 mit den addierten Werten des 1. und 2. Quartals 2007 ver-
glichen werden, und wie hoch war jeweils der Rückgang in Prozent und in
absoluten Zahlen?

a) Wie relevant und verbreitet sind in diesen 20 Ländern jeweils Zwangs-
verheiratungen (erbeten wird zumindest eine differenzierte Einschätzung
zu jedem Land)?

b) Sollte es einen starken Rückgang der erteilten Visa in Ländern geben, in
denen Zwangsverheiratungen nicht vorkommen oder kaum relevant sind,
mit welchen Gründen hält die Bundesregierung dann an ihrer Einschät-
zung fest, dass die Neuregelung mit dem (angeblichen) Ziel der Bekämp-
fung von Zwangsverheiratungen verhältnismäßig sei, da sie offenkundig
in vielen Fällen zu einer massiven Einschränkung des Rechts auf Fami-
lienzusammenleben bzw. des grundrechtlichen Schutzes von Ehe und
Familie führt, ohne dass dies mit dem Ziel der Bekämpfung von Zwangs-
heiraten gerechtfertigt werden könnte?

3. Wie viele Personen mussten im 1. und 2. Quartal 2008 (bitte differenzieren)
keine einfachen Sprachkenntnisse vor der Einreise bzw. vor der Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis nachweisen, weil eine Ausnahmevorschrift des
§ 30 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erfüllt war; bitte – soweit mög-
lich – differenzieren nach

a) Ehegatten von anerkannten Asylberechtigten bzw. anerkannten Flüchtlin-
gen,

b) Ehegatten von Hochqualifizierten,

c) Ehegatten von Forschern,

d) Ehegatten von Selbstständigen,

e) Ehegatten von Daueraufenthaltsberechtigten aus anderen EU-Staaten,

f) Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krank-
heit oder Behinderung nicht in der Lage sind, einfache Kenntnisse der
deutschen Sprache nachzuweisen,

g) Ehegatten mit „erkennbar geringem Integrationsbedarf“,

h) Ehegatten, die Personen geheiratet haben, die aus einem in § 41 der Auf-
enthaltsverordnung bezeichneten Länder stammen

und falls es keine genauen Zahlen hierzu geben sollte, wie schätzt die Bun-
desregierung die Größe der jeweiligen Gruppen ungefähr ein bzw. inwieweit
lassen die Daten des Ausländerzentralregisters Einschätzungen zu diesen
Fragen zu?

4. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im 1. bzw. 2. Quartal des Jah-
res 2008 (bitte differenzieren) erteilt, ohne dass die Vorlage von Sprachnach-
weisen erforderlich war, weil offenkundig Deutschkenntnisse vorlagen (bitte
auch nach den zehn herkunftsstärksten Ländern differenzieren)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9939

5. Wie lautet die gesonderte Statistik des Auswärtigen Amtes (AA) zum
Sprachnachweis beim Ehegattennachzug für die zehn Hauptherkunftslän-
der für das 2. Quartal 2008 (bitte auch die Vergleichswerte für das
1. Quartal benennen; vgl. Anlage 2 zu Bundestagsdrucksache 16/9137)?

6. Mit welcher Begründung spricht die Bundesregierung von einem „vorüber-
gehenden Rückgang“ beim Ehegattennachzug (Bundestagsdrucksache
16/9137, Fragen 5a bis 5c), wenn der Rückgang auch nach einem halben
Jahr nach Inkrafttreten der Neuregelung immer noch fast ein Drittel (ge-
samt) bzw. 46 Prozent (Türkei) beträgt?

7. Hält es die Bundesregierung für zutreffend und realistisch, dass 70 Prozent
der in der Türkei gestellten Visaanträge zum Ehegattennachzug auf Schein-
oder Zwangsheiraten beruhen?

a) Wenn ja, welche substantiellen Anhaltspunkte hat sie hierfür, und was
hat sie diesbezüglich unternommen?

b) Wenn nein, wie bewertet sie entsprechende angebliche Äußerungen der
Leiterinnen der deutschen Visastellen in der Türkei?

8. Wieso genügt der Bundesregierung nicht der Nachweis einer Sprachkurs-
teilnahme (statt einer bestandenen Prüfung) als Einreisevoraussetzung,
wenn im Inland bei Verpflichtungen die Kursteilnahme und nicht das Be-
stehen einer Prüfung das entscheidende Kriterium ist, und warum sieht sie
nicht die Gefahr, dass der individuelle Bildungsstand und Sprachbegabun-
gen darüber entscheiden, ob und ab wann binationale Ehegatten zusammen
leben dürfen?

9. Was wird die Bundesregierung unternehmen, um in der Praxis sicherzustel-
len, dass Visaanträge im Rahmen des Ehegattennachzugs auch dann be-
arbeitet werden, wenn kein Zertifikat A1 vorgelegt wird, da entgegen der
Erlasslage (vgl. insofern eindeutig: Bundestagsdrucksache 16/9137, Ant-
wort zu Frage 13) häufig immer noch eine solche Vorlage Bedingung der
Bearbeitung zu sein scheint (vgl. iaf-Informationen 1/2008)?

10. Wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Kritik zum Beispiel des
Verbands binationaler Familien, dass

a) die Forderung nach einem Sprachzertifikat A1 strenger sei als die ge-
setzliche Forderung „einfacher Sprachkenntnisse“,

b) Beratungen im Ausland über die Ausnahmetatbestände bezüglich der
Sprachanforderungen ungenügend seien,

c) es keine Ausnahmeregelung gebe, wenn nur unzureichende Kursange-
bote vor Ort vorhanden sind oder wenn Betroffene einen Wohnortwech-
sel vornehmen müssen, um an einem Sprachkursangebot teilnehmen zu
können,

d) es keine Ausnahmeregelung gebe, wenn Antragsteller/innen Analpha-
bet/innen sind,

e) es keine Ausnahmeregelung gebe, wenn Antragstellerinnen schwanger
oder Antragsteller werdende Väter deutscher Kinder sind oder wenn
Antragsteller/innen Erziehungsleistungen für Kinder zu erbringen
haben, die sie am zügigen Spracherwerb hindern,

f) Sprachprüfungen teilweise Vokabeln enthielten, die nicht gelehrt wurden,
und zahlreiche „Fangfragen“ (doppelte Verneinung) verwandt würden,

g) zum Beispiel in Afghanistan nicht einmal das Sprachzertifikat A1 eines
Goethe-Instituts genügt haben soll, weil die Botschaftsleiterin entschie-

den habe, eigene Sprachtests durchzuführen?

Drucksache 16/9939 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
11. Wie ist die Antwort auf Bundestagsdrucksache 16/9137 zu Frage 9 zu ver-
stehen?

Müssen für das Bestehen der Prüfung über das Sprachniveaus A1 GER
650 oder 300 Wörter erlernt werden?

12. Ist es zutreffend, dass die tatsächliche Teilnahme an Integrationskursen bei
zur Teilnahme Verpflichteten bei türkischen Staatsangehörigen mit 94 Pro-
zent im Herkunftsländervergleich am zweithöchsten und weitaus höher als
im Durchschnitt ist (vgl. Bundestagsdrucksache 16/9137, Anlage 3)?

a) Wenn ja, wie lässt sich die pauschale Äußerung der Staatsministerin
Dr. Maria Böhmer gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdogan begründen, dass türkische Männer in der Bun-
desrepublik Deutschland ihren Ehefrauen verböten, an Deutschkursen
teilzunehmen (vgl. FAZ vom 24. November 2007)?

b) Wenn ja, wie lässt sich die Behauptung begründen, Sprachkenntnisse
müssten unbedingt bereits vor der Einreise vermittelt werden, um Opfer
von Zwangsverheiratungen erreichen zu können?

13. Hat sich die deutsch-türkische Arbeitsgruppe inzwischen getroffen, um die
vom Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, auf seiner Türkei-
Reise Anfang Februar 2008 zugesagte Prüfung des türkischen Vorschlags,
deutsche Sprachkenntnisse erst in der Bundesrepublik Deutschland erlernen
zu müssen (vgl. FAZ und EPD vom 6. Februar 2008), vornehmen zu kön-
nen, und wenn ja, mit welchem Ergebnis, und wenn nein, wann wird dies der
Fall sein?

14. Wann nimmt die Bundesregierung durch wen und in welcher Form eine
Evaluierung der Auswirkungen der Neuregelung des Ehegattennachzugs
vor?

a) Wird das Bundesministerium des Innern (BMI), das Auswärtige Amt
oder eine andere, z. B. externe und unabhängige Stelle/Institution die
Evaluierung vornehmen?

b) War ein merklicher Rückgang des Ehegattennachzugs ein Ziel der gesetz-
lichen Neuregelung, und wenn nein, wird die Bundesregierung Änderun-
gen der gesetzlichen Regelung vornehmen (etwa die Schaffung einer all-
gemeinen Härtefallklausel, wie vielfach gefordert), wenn die Evaluie-
rung einen solchen Rückgang ergeben wird (wenn nein, warum nicht)?

c) Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anteil von Zwangsehen
beim Ehegattennachzug in die Bundesrepublik Deutschland ein, im All-
gemeinen und konkret in Bezug auf die Türkei, und wenn sie hierzu
über keine Einschätzungen verfügen sollte, wie will sie die Wirksamkeit
der Neuregelung hinsichtlich des (angeblichen) Ziels der Bekämpfung
von Zwangsverheiratungen evaluieren?

d) Wie lange schätzt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der bishe-
rigen Erfahrungen die Zeit ein, die durchschnittlich benötigt wird, um
Sprachkenntnisse des Niveaus A1 GER im Ausland zu erwerben (wie
lang ist diese Zeit beispielsweise durchschnittlich, wenn ein geeigneter
Sprachkurs zur Verfügung steht, wenn die Sprache im Selbststudium an-
geeignet werden muss, wenn erst eine Alphabetisierung erfolgen muss)?

Berlin, den 2. Juli 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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