BT-Drucksache 16/9654

Klare Grenzen für die Rücknahme und den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ziehen

Vom 19. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9654
16. Wahlperiode 19. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Klare Grenzen für die Rücknahme und den Verlust der deutschen
Staatsangehörigkeit ziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Seit Aufhebung der so genannten Inlandsklausel in § 25 Abs. 1 des Staats-
angehörigkeitsgesetzes (StAG) zum 1. Januar 2000 führt der (Wieder-)Er-
werb einer anderen Staatangehörigkeit zum unmittelbaren Verlust der deut-
schen Staatsangehörigkeit. Dies galt zuvor nicht bei Deutschen mit einem
Inlandsaufenthalt. Die Neuregelung wurde auch als „Lex Turka“ bezeichnet,
weil sie insbesondere den gängigen und von türkischen Behörden geförder-
ten Wiedererwerb der türkischen Staatsbürgerschaft nach einer Einbürge-
rung unterbinden sollte. Einer breiteren Öffentlichkeit und auch vielen Be-
troffenen wurde die Problematik erst nach Presseberichten im Jahr 2005 be-
kannt.

2. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 8. Dezember 2006
(2 BvR 1339/06) entschieden, dass die Regelung des § 25 Abs. 1 StAG
verfassungsgemäß ist. Auch das Fehlen einer Übergangsregelung für Fälle,
in denen der (Wieder-)Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit bereits vor
der Gesetzesänderung zum 1. Januar 2000 beantragt wurde, ist vom Ver-
fassungsgericht nicht moniert worden.

3. Der Deutsche Bundestag nimmt ungeachtet dessen mit großer Besorgnis zur
Kenntnis, dass in der Folge dieser Rechtslage eine unbekannte Zahl von
Menschen in der Bundesrepublik Deutschland leben, die als Deutsche gelten,
die deutsche Staatsbürgerschaftsrechte in Anspruch nehmen und die sich
selbst als Deutsche sehen – die aber streng juristisch betrachtet längst keine
Deutschen mehr sind. Hieraus ergeben sich nicht nur unzumutbare Belastun-
gen für die Betroffenen und ihre Familienangehörigen, sondern auch unüber-
sehbare Folgeprobleme für die Gesamtgesellschaft (Frage der Gültigkeit von
Wahlen usw.). Ob Betroffene infolge des Verlusts der deutschen Staatsange-
hörigkeit sogar ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland für immer verlieren,
hängt vom Einzelfall und von der konkreten Rechtsauslegung bzw. -anwen-
dung ab. Vor dem Hintergrund dieser drohenden Folgen kann jedoch von den
Betroffenen realistischerweise keine „Selbstoffenbarung“ mehr erwartet wer-

den, zumal auch ihren als „Deutsche“ aufgewachsenen Kindern ein Status der
„Illegalität“ und die erzwungene Ausreise aus ihrem Geburtsland drohen.
Mehr als acht Jahre nach dem Wegfall der Inlandsklausel ist ungeachtet
formaljuristischer Überlegungen deshalb aus humanitären Gründen eine Am-
nestieregelung zur Lösung der existenziellen Probleme der Betroffenen drin-
gend erforderlich.

4. Ähnliche Probleme stellen sich auch bei der im Staatsangehörigkeitsgesetz
bislang noch nicht geregelten Frage, wie mit Fällen einer Rücknahme von

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Einbürgerungen, die auf falschen Angaben der Betroffenen im Einbürge-
rungsverfahren beruhen, umzugehen ist. Diesbezüglich haben sowohl das
Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht den Ge-
setzgeber bereits auf den bestehenden Handlungsbedarf hingewiesen.

5. Der Bundestag verweist auf die Erkenntnisse der Anhörung des Innenaus-
schusses des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember 2007 zum Staats-
angehörigkeitsgesetz, bei der sich eine Mehrheit der Sachverständigen für
eine klare gesetzliche Regelung der genannten Problembereiche aussprach.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf zur Regelung der Voraussetzungen und Folgen bei Rück-
nahme und Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit vorzulegen, der sowohl
den persönlichen Bedürfnissen der Betroffenen als auch dem Bedürfnis nach
allgemeiner Rechtsklarheit gerecht wird, und zwar nach folgenden Maßgaben:

1. a) In Fällen des Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund des
(Wieder-)Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit ist für bereits ein-
getretene Verlustfälle eine Amnestieregelung zu treffen, die sinngemäß
eine rückwirkende Fortschreibung der bis zum 1. Januar 2000 geltenden
Inlandsklausel beinhaltet.

Sofern der Verlust bislang noch nicht von deutschen Behörden registriert
wurde, gilt die deutsche Staatsangehörigkeit als fortdauernd bestehend.
Wurde der Verlust bereits festgestellt, ist eine Regelung zur unproblema-
tischen Wiedereinbürgerung in die deutsche Staatsangehörigkeit vorzu-
sehen.

b) Künftig soll ein möglicher Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit
nicht automatisch per Gesetz, sondern erst und nur dann eintreten, wenn
die Betroffenen von den Behörden zuvor auf diese Rechtsfolge ihres
Handelns noch einmal hingewiesen und ihnen die Möglichkeit gegeben
wurde, sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu entscheiden.
Durch Änderung des § 38 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ist sicher-
zustellen, dass die Betroffenen in Fällen eines Verlusts der deutschen
Staatsangehörigkeit zumindest eine Niederlassungserlaubnis erhalten.

2. In Fällen der Rücknahme der deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund
falscher Angaben der Betroffenen im Einbürgerungsverfahren ist eine Rück-
nahme nach mehr als fünf Jahren nach der Einbürgerung grundsätzlich unzu-
lässig. Von der Rücknahme kann zudem aus Gründen der Verhältnismäßig-
keit oder des Einzelfalles jederzeit im Ermessen abgesehen werden; dabei
sind die Folgen einer Rücknahme für mitbetroffene Familienangehörige
(insbesondere minderjährige Kinder), denen kein Täuschungsvorwurf ge-
macht werden kann, aber auch eine drohende Staatenlosigkeit im Sinne der
Betroffenen zu berücksichtigen.

Berlin, den 18. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Bislang wurden mindestens 21 500 Betroffene ermittelt, bei denen der Ver-
lust der deutschen Staatsangehörigkeit infolge des (Wieder-)Erwerbs der türki-
schen Staatangehörigkeit offiziell festgestellt wurde (vgl. Bundestagsdruck-

sache 16/139, Frage 2). Nach Angaben der türkischen Regierung hat es seit
dem Jahr 2000 aber rund 50 000 Fälle von (Wieder-)Einbürgerungen ehemali-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9654

ger deutscher Staatsangehöriger gegeben (vgl. Bundestagsdrucksache 15/5006,
Frage 3). Deshalb muss von mindestens ca. 30 000 Betroffenen türkischer
Herkunft ausgegangen werden, bei denen der Verlust ihrer deutschen Staats-
angehörigkeit offiziell noch nicht bekannt geworden ist und die als „faktische
Deutsche“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutsch-
land leben. Hinsichtlich der Zahl der Betroffenen mit einer anderen als der tür-
kischen Staatsangehörigkeit liegen nicht einmal Schätzungen vor.

Ob der Verlust der Staatsangehörigkeit offiziell bekannt wird, bleibt weitge-
hend dem Zufall überlassen, denn ausländische Staaten sind nicht verpflichtet,
Einbürgerungen deutscher Staatsangehöriger deutschen Stellen mitzuteilen. Es
ist davon auszugehen, dass die noch unentdeckten Betroffenen aus Angst vor
den möglichen dramatischen und geradezu existenzvernichtenden Folgen des
Bekanntwerdens des Verlusts ihrer deutschen Staatsangehörigkeit sich nicht
mehr von sich aus den deutschen Behörden offenbaren werden, wenn der Ge-
setzgeber ihnen keinen gangbaren Weg eröffnet. Die Folgen können über den
Verlust der Staatsangehörigkeit hinaus den Verlust jeglichen Aufenthaltsrechts
in Deutschland bedeuten – was angesichts des häufig jahrzehntelangen Aufent-
halts und der bereits erfolgten Integration völlig unverhältnismäßig und in
niemandes Interesse ist.

Nach § 38 AufenthG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels für ehemalige
Deutsche zwar vorgesehen, im Regelfall käme jedoch allenfalls eine befristete
Aufenthaltserlaubnis in Betracht, weil die Erteilung einer Niederlassungser-
laubnis einen fünfjährigen Aufenthalt „als Deutscher“ voraussetzt – was hier
gerade nicht der Fall ist. Zudem ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels für ehe-
malige Deutsche nach § 38 Abs. 1 Satz 2 AufenthG generell davon abhängig,
dass der Antrag „innerhalb von sechs Monaten nach Kenntnis vom Verlust der
deutschen Staatsangehörigkeit“ gestellt wird. Zwar belegt nach Auskunft der
Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 15/5006 (Frage 6) „allein die
Möglichkeit, die Rechtslage abstrakt den Medien zu entnehmen oder auf sons-
tige Weise in Erfahrung zu bringen, […] – für sich genommen – nicht die
‚Kenntnis‘ im Sinne dieser Vorschrift“. Jedoch ist es den Betroffenen nicht zu-
zumuten, ihre Existenz und ihre gesamte Lebensgrundlage in Deutschland zu
gefährden, wenn in einem langwierigen Gerichtsverfahren mit offenem Verfah-
rensausgang die Frage geklärt werden muss, ob und wann sie nachweisbar
„Kenntnis“ davon erlangt haben, dass ihr Handeln mit dem Verlust der deut-
schen Staatsangehörigkeit verbunden war. Rechtsstaatlich inakzeptabel sind
auch die möglichen Folgen für die nach dem Verlust der deutschen Staatsange-
hörigkeit geborenen Kinder, die zwar als (vermeintliche) „Deutsche“ aufge-
wachsen sind, tatsächlich aber weder die deutsche Staatsangehörigkeit (nach
§ 4 Abs. 3 Satz 1 StAG) noch – schlimmstenfalls – ein Aufenthaltsrecht (nach
§ 33 AufenthG) geltend machen können und damit faktisch „illegal“ in
Deutschland leben und das Land nach einer „Aufdeckung“ unter Umständen
verlassen müssten.

Der Sachverständige Prof. Dr. Kay Hailbronner plädierte im Rahmen der An-
hörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 10. Dezember
2007 im Zusammenhang mit den Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit
für einen Erwerb der Staatsangehörigkeit in diesen Fällen „nach Ablauf einer
bestimmten Jahresfrist – 5 Jahre –“ (Protokoll 16/54, S. 65). Der Sachverstän-
dige Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann schlug ebenfalls eine „etwa 5 Jahre“ (S. 66)
dauernde Zeitspanne vor, ab der rückwirkende Rücknahmen nicht mehr mög-
lich sein sollten. Beide Sachverständige empfahlen eine solche „Schlussstrich-
regelung“ ausdrücklich unter Berücksichtigung der Bedenken gegen eine mög-
licherweise damit verbundene „Belohnung“ rechtswidrigen Verhaltens. Der
Bundesverwaltungsrichter und Sachverständige Prof. Dr. Uwe Berlit plädierte

für „eine Art ‚Amnestie-Regelung‘“, die eine rückwirkende Regulierung der
staatsangehörigkeitsrechtlichen und integrationspolitischen Probleme vor-
nimmt und dabei „über den Schatten springt“ (S. 72). Auch der Sachverstän-

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dige Memet Kiliç hielt „eine Amnestie oder eine rückwirkende Korrektur auf
der gesetzgeberischen Ebene“ für erforderlich (S. 67). Der Sachverständige
Dr. Reinhard Marx sah angesichts des in Artikel 8 der Europäischen Menschen-
rechtskonvention (EMRK) verbürgten Rechts auf Privatleben insbesondere im
Hinblick auf die Kinder geradezu eine Verpflichtung des Gesetzgebers, Lösun-
gen zu schaffen (S. 68).

Der Gedanke der „Verjährung“ ist ein fester Bestandteil der hiesigen Rechts-
ordnung. In Bezug auf die beschriebenen Fälle sollte es großzügige Amnestie-
bzw. Verjährungsregelungen schon deshalb geben, weil niemand durch den zu-
sätzlichen Wiedererwerb der alten Staatsangehörigkeit substantiell geschädigt
wurde und keine ersichtlichen Nachteile für die deutsche Gesellschaft hieraus
entstanden sind. Auch darf das abstrakte Prinzip der Vermeidung der doppelten
Staatsangehörigkeit, das für den Wegfall der Inlandsklausel maßgeblich verant-
wortlich ist, nicht stärker wiegen als die berechtigten Interessen der Betroffenen
an einer Absicherung ihres Aufenthaltsrechts und der Wahrung ihrer erlangten
deutschen Staatsbürgerschaftsrechte. Dies gilt insbesondere deshalb, weil es ei-
nen generellen Trend in Europa gibt, Mehrstaatigkeit vermehrt zu akzeptieren
(Sachverständiger Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, a. a. O., S. 13). Auch in der
Bundesrepublik Deutschland wurde im Jahr 2007 durch das Richtlinien-
umsetzungsgesetz die Mehrfachstaatsangehörigkeit bei Unionsbürgerinnen und
-bürgern sowie bei Bürgerinnen und Bürgern aus der Schweiz generell ermög-
licht. Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler haben ebenfalls diese Möglich-
keit; hinzu kommen zahlreiche Ausnahmeregelungen. Trotz des gesetzlichen
Prinzips der Vermeidung von Mehrstaatigkeit stellen deshalb Einbürgerungen
unter „Hinnahme“ einer weiteren Staatsangehörigkeit bereits heute den „Nor-
malfall“ dar und machten zum Beispiel im Jahr 2006 51 Prozent aller Einbürge-
rungen aus. Warnungen davor, die Mehrstaatigkeit könne bedrohliche Loyali-
tätskonflikte hervorrufen oder zu schwer wiegenden praktischen Problemen
führen, erweisen sich vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Realität als
haltlos. Selbst der von der Fraktion der CDU/CSU benannte Sachverständige
Prof. Dr. Kay Hailbronner verwies darauf, dass „die Problematik und die Pro-
bleme, die mit mehrfacher Staatsangehörigkeit verbunden sind, in der Diskus-
sion gelegentlich überschätzt werden“ (a. a. O., S. 12), und auch er sprach sich
für „eine Erweiterung der Einbürgerungsmöglichkeiten“ als „prinzipiell richtig
und notwendig“ aus (S. 49).

Das Bundesverfassungsgericht konnte mit Urteil vom 24. Mai 2006 – 2 BvR
669/04 – in der Rücknahme der Staatsangehörigkeit in Täuschungsfällen ohne
gesetzliche Ermächtigungsgrundlage im Staatsangehörigkeitsrecht aufgrund
der Stimmengleichheit im Senat (4 : 4-Entscheidung) keinen Verfassungsver-
stoß feststellen. Vier Verfassungsrichterinnen und -richter waren allerdings der
Auffassung, dass eine solche Rücknahmeentscheidung in Täuschungsfällen
nicht auf der Grundlage der allgemeinen Landesverwaltungsverfahrensgesetze
getroffen werden könne, wie es derzeit der Fall ist. Aber auch die anderen vier
Richter hielten eine solche Rücknahme nur in Fällen einer „zeitnahen“ Rück-
nahme für verfassungsgemäß. Insbesondere bedürfe die Frage der Auswirkun-
gen einer Rücknahme auf nicht an der Täuschungshandlung beteiligte Dritte
(vor allem Kinder) einer Antwort durch den Gesetzgeber, etwa durch die Ein-
führung von Befristungsregelungen oder Altersgrenzen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Urteilen vom 14. Februar 2008
(BVerwG 5 C 4.07, 5.07, 14.07 und 15.07) unter Bezugnahme auf die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls auf das Fehlen klarer spe-
zialgesetzlicher Regelungen zur Rücknahme der Staatsangehörigkeit hingewie-
sen. Im konkreten Fall einer Rücknahme nach achteinhalb Jahren lag nach Auf-
fassung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls keine „zeitnahe“ Entschei-

dung vor, so dass die Rücknahme als unzulässig beurteilt wurde.

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