BT-Drucksache 16/9314

Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen - Verflechtung zwischen den Behörden und der Agro-Gentechnik-Industrie beenden und wissenschaftliche Grundlagen verbessern

Vom 28. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9314
16. Wahlperiode 28. 05. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, Bettina Herlitzius,
Winfried Hermann, Peter Hettlich und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen – Verflechtung zwischen
den Behörden und der Agro-Gentechnik-Industrie beenden und wissenschaftliche
Grundlagen verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Einmal in die Natur freigesetzte Organismen sind nicht mehr rückholbar – ge-
rade darum muss das Prinzip Vorsorge bei der Agro-Gentechnik konsequent ver-
folgt werden. Gentechnisch veränderte Organismen, die ins Freiland ausge-
bracht werden, können sich unter Umständen weiter vermehren oder auskreuzen
und dadurch Anbauflächen ihrer Umgebung verunreinigen. Verunreinigungen
mit gentechnisch veränderten Organismen können auch durch Ernte, Transport,
Lagerung, Vermarktung und Weiterverarbeitung entstehen, wenn Stoffströme
nicht getrennt gehalten werden. Diese Kontaminationen können unter Umstän-
den zu Schäden an Umwelt, Tieren oder menschlicher Gesundheit führen.

Zulassungen von gentechnisch veränderten Pflanzen, die auf EU-Ebene erteilt
werden, gelten in allen EU-Ländern. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die
von einzelnen EU-Ländern vorgebrachten Entscheidungen, die auf der Basis
wissenschaftlicher Stellungnahmen nationaler Behörden getroffen werden, im
EU-Zulassungsverfahren ausreichend berücksichtigt werden. Dies war in den
90er-Jahren bei den ersten EU-Zulassungen für gentechnisch veränderte Pflan-
zen (u. a. Soja, Mais, Raps) in der EU nicht der Fall. Heftige Debatten um die
Agro-Gentechnik führten letztlich in den Jahren 1998 bis 2004 zu einem
De-facto-Moratorium für die weitere EU-Zulassung für gentechnisch veränderte
Pflanzen.

Nach langen und intensiven Diskussionen wurden schließlich neue und im Sinne
des Verbraucher- und Umweltschutzes verbesserte EU-Rechtsgrundlagen (u. a.
EG-Verordnungen 1829/1830 sowie EU-Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG)
verabschiedet, die unter anderem vorsehen, dass die Entscheidungen der einzel-
nen EU-Länder und die von ihren Behörden vorgelegten wissenschaftlichen
Stellungnahmen im EU-Zulassungsverfahren berücksichtigt werden müssen.
Zudem haben EU-Länder die Möglichkeit, wissenschaftlich begründet nationale

Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Diese Möglichkeit haben in den letzten Jahren
einige EU-Länder wie zum Beispiel Österreich, Ungarn oder Frankreich in An-
spruch genommen, die den Anbau einiger gentechnisch veränderter Pflanzen
wie zum Beispiel den Mais MON810 in ihren Ländern verboten haben.

Die Ziele der Reform des EU-Gentechnikrechts – Schutz von Mensch und Um-
welt und Gewährleistung des Schutzes gentechnikfreier Landwirtschaftsfor-

Drucksache 16/9314 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

men – werden in den letzten Jahren jedoch zunehmend durch die Umsetzungs-
praxis der EU-Kommission sowie durch die starke Verflechtung der Experten
in den Zulassungsbehörden mit der Agro-Gentechnik-Industrie gefährdet.

Kritisch ist zu bewerten, dass sich eine Praxis durchgesetzt hat, bei der letztlich
immer die EU-Kommission allein zugunsten der Antragsteller für Agro-Gen-
technik-Produkte entscheidet, selbst wenn wissenschaftlich begründete Stel-
lungnahmen aus einzelnen EU-Ländern vor einer Zulassung warnen.

In den vorgeschalteten politischen Entscheidungsgremien der EU sprechen sich
viele EU-Länder gegen Zulassungen – wie zum Beispiel zu der BASF-Kartoffel
Amflora – aus. Da aber in der Regel keine qualifizierte Mehrheit für oder gegen
einen Vorschlag der EU-Kommission zustande kommt, entscheidet die EU-
Kommission bisher immer allein. Diese Praxis der EU-Kommission führt dazu,
dass die ursprünglich mit der Reform des EU-Gentechnikrechts angestrebte Be-
rücksichtigung der Entscheidungen und wissenschaftlichen Stellungnahmen
einzelner EU-Länder de facto nicht beziehungsweise nur unzureichend stattfin-
det.

Scharf zu kritisieren ist auch, dass die EU-Kommission die grundlegenden Ziele
des EU-Gentechnikrechts selbst unterläuft, wenn sie – wie im Fall der BASF-
Kartoffel Amflora – Vorschläge unterbreitet, gentechnisch veränderte Kons-
trukte quasi als „Verunreinigung“ zuzulassen, selbst wenn diese keine Zulassung
nach EU-Recht als Lebens- oder Futtermittel oder für den Anbau haben. Auch
die derzeitige Forderung vor allem aus den Reihen der Futtermittel- und Agro-
Gentechnik-Industrie, die Nulltoleranzschwelle für in der EU nicht zugelassene
gentechnisch veränderte Organismen oder Konstrukte aufzuheben, unterläuft
das geltende EU-Gentechnikrecht.

Anstelle der notwendigen Beachtung der Sorgfaltspflichten und Trennung der
Warenströme zur Vermeidung der Verunreinigungen durch die verantwortlichen
Exportländer wie die USA und die Exportwirtschaft drängen Futtermittelwirt-
schaft und Fleischindustrie auf eine Aufweichung des EU-Gentechnikrechts. Sie
drohen mit Preissteigerungen bei Futtermitteln und versuchen so, Deutschland
und die EU-Kommission unter Missachtung der Umwelt- und Verbraucher-
interessen zu erpressen. Dabei haben die Preissteigerungen vielfältige Ursachen,
unter anderem die Bioethanolerzeugung in den USA aus Mais. Absurd ist vor
allem, dass hier eine Aufweichung des EU-Gentechnikrechts – vor allem auf
Druck der US-Industrie – gefordert wird, die selbst in den USA klar verboten ist.
Dort dürfen gentechnisch veränderte Organismen, die keine US-Zulassung
haben, auch nicht auf den Markt gebracht werden, auch nicht bis zu einem
bestimmten Schwellenwert.

Weiterhin wachsen seit einigen Jahren die Zweifel an den von den zuständigen
Behörden (unter anderem EU-Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA oder auf
nationaler Ebene Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher-
heit – BVL) vorgelegten wissenschaftlichen Stellungnahmen und deren Unab-
hängigkeit von der Agro-Gentechnik-Industrie. Aktuelle Studien wie zum Bei-
spiel auf EU-Ebene von der Umweltorganisation Friends of the Earth oder in
Deutschland von den Autoren Antje Lorch und Christoph Then zeigen auf,
dass einige Experten in den nationalen und EU-Behörden nicht durchgängig
frei von eigenen Interessen an der Agro-Gentechnik sind. Experten, die selbst
in der Agro-Gentechnik wissenschaftlich tätig sind, in Lobbyorganisationen
der Agro-Gentechnik-Industrie aktiv sind oder als Erfinder bei Biopatenten ge-
führt werden, sind beratend für die Politik tätig.

Politische Entscheidungsträger sind angewiesen auf eine gründliche wissen-
schaftliche Prüfung und breite Berücksichtigung von wissenschaftlichen Stu-
dien zur Agro-Gentechnik durch die Experten in den Zulassungsbehörden und

durch eine unabhängige Risikoforschung. Die Ergebnisse und Schlussfolgerun-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9314

gen der Zulassungsbehörden auf nationaler und EU-Ebene müssen transparent,
nachvollziehbar und durch unabhängige Experten überprüfbar sein. Es darf
keine Interessensverflechtungen der Experten in den nationalen und EU-Behör-
den mit denjenigen geben, deren Produkte sie prüfen. Experten der Regierung
und der nachgeordneten Behörden, die an der Risikoprüfung oder am Zulas-
sungsverfahren für Gentechpflanzen beteiligt sind, dürfen nicht gleichzeitig an
Forschungen beteiligt sein, bei denen gentechnisch veränderte Produkte oder
Pflanzen entwickelt werden oder in diesem Arbeitsfeld wirtschaftliche Interes-
sen wahrnehmen. Derartige Verflechtungen sind das Gegenteil von einer unab-
hängigen wissenschaftlichen Prüfung und unterwandern demokratische Ent-
scheidungen und gesetzliche Vorgaben – wie zum Beispiel die Verankerung des
Vorsorgeprinzips im deutschen und europäischen Gentechnikrecht.

Die unabhängige Risikoforschung muss weit stärker unterstützt werden als
bisher, da nur so eine einseitig an den Interessen der Agro-Gentechnik orien-
tierte wissenschaftliche Fragestellung und Problemanalyse vermieden werden
können.

Eine klare Absage muss Bestrebungen erteilt werden, Entscheidungen zur Zu-
lassung von gentechnisch veränderten Pflanzen nur noch wissenschaftlichen
Experten in den Behörden zu überlassen und somit der Politik die Kontrollmög-
lichkeit zu entziehen. Interessen anderer Gruppen wie z. B. der Verbraucher,
Imker, Umweltverbände oder gentechnikfrei wirtschaftender Landwirte und
Hinweise kritischer Wissenschaft erhalten dadurch nicht die nötige Beachtung.

Es ist die Aufgabe der Politik, sich den – wenn auch schwierigen – Anforderun-
gen zur Regulierung einer so weit reichenden Technologie wie der Agro-Gen-
technik zu stellen und die verschiedenen Interessen, Schutzrechte und -ziele ab-
zuwägen. Nur so können die wichtigen Schutzziele des Gentechnikrechts –
Schutz von Mensch und Umwelt, die Wahlfreiheit der Verbraucher und Land-
wirte sowie die Koexistenz unterschiedlicher Landwirtschaftsformen – bei der
Agro-Gentechnik gewährleistet werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich bei Verhandlungen auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass der Schutz von
Mensch und Umwelt oberstes Ziel des europäischen Gentechnikrechts blei-
ben muss und dementsprechend für in der EU nicht zugelassene gentechnisch
veränderte Organismen weiterhin die Nulltoleranz gilt;

2. kurzfristig konkrete Vorschläge vorzulegen, wie die Praxis des EU-Zulas-
sungsverfahren für gentechnisch veränderte Organismen verbessert werden
kann hinsichtlich

● einer stärkeren Berücksichtigung der wissenschaftlichen Stellungnahmen
nationaler Behörden der EU-Länder,

● einer Stärkung der demokratischen Rechte einzelner EU-Länder, wenn sie
begründete Bedenken gegen die EU-Zulassung von gentechnisch verän-
derten Organismen vorbringen,

● einer Entflechtung der Experten in der EU-Lebensmittelsicherheitsbe-
hörde EFSA mit der Agro-Gentechnik-Industrie beziehungsweise ihren
Lobbyorganisationen,

● sowie einer verbesserten Risikoprüfung, so dass Umwelt- und Verbrau-
cherinteressen stärker einbezogen werden;

3. einen Vorschlag für Maßnahmen vorzulegen, wie die im Bericht des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Bundes-

tagsdrucksache 16/1211) dargelegten Defizite beim Zulassungs- und Geneh-
migungsverfahren von gentechnisch veränderten Pflanzen der so genannten

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zweiten und dritten Generation (wie zum Beispiel gentechnisch veränderte
Pflanzen, die pharmazeutische Wirkstoffe produzieren) hinsichtlich der Risi-
kobewertung, beim Risikomanagement, beim Monitoring sowie im EU-Zu-
lassungsverfahren behoben werden können;

4. offenzulegen, in welcher Form es Verflechtungen zwischen den Experten in
den nationalen Behörden wie dem BVL mit der Agro-Gentechnik-Industrie
sowie Institutionen und Lobbyorganisationen gibt und ob und in welcher
Form finanzielle Zuwendungen und Begünstigungen erfolgten;

5. dafür Sorge zu tragen, dass die Risiko- und Folgenabschätzung bei gentech-
nisch veränderten Pflanzen verbessert wird; dazu gehört unter anderem,
sämtliche Haushaltsmittel für Projekte, bei denen gentechnisch veränderte
Pflanzen entwickelt werden, zu streichen und in Projekte zu investieren, bei
denen zum Beispiel Auswirkungen eines Anbaus auf das Ökosystem oder bei
insektenresistenten Pflanzen die Auswirkungen eines Anbaus dieser Pflanzen
auf Bienen, Schmetterlinge oder andere Insekten besser untersucht werden;

6. die unabhängige Risikoforschung zu stärken; so muss zum Beispiel sicherge-
stellt sein, dass auch Forscher öffentliche Mittel erhalten, die kritische Fragen
und Antworten zur Agro-Gentechnik wie zum Beispiel zu den Auswirkungen
eines Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen, die für Insekten giftig
sind (Bt-Pflanzen), auf Bienen oder andere Insekten untersuchen und publi-
zieren.

Berlin, den 28. Mai 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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