BT-Drucksache 16/9145

Auswirkungen der EuGH-Vorlageentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auf Asyl-Widerrufsverfahren

Vom 8. Mai 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9145
16. Wahlperiode 08. 05. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen der EuGH-Vorlageentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
auf Asyl-Widerrufsverfahren

Am 7. Februar 2008 hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) dem Europäi-
schen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt
(vgl. Pressemitteilung des BVerwG Nr. 4/2008). Es geht dabei insbesondere um
die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Widerruf einer Asyl- oder (sub-
sidiären) Flüchtlingsanerkennung im Einklang mit der so genannten Qualifika-
tionsrichtlinie der Europäischen Union (2004/83/EG) erfolgen kann.

Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, inwieweit auch allgemeine
Gefährdungslagen und labile und unsichere Verhältnisse im Herkunftsland in
Widerrufsverfahren Berücksichtigung finden müssen. Die bisherige, umstrittene
Rechtsprechung des BVerwG, wonach solche allgemeinen Gefährdungen im
Widerrufsverfahren unberücksichtigt bleiben müssten und ausschließlich in
einer gesonderten aufenthaltsrechtlichen Entscheidung Berücksichtigung finden
könnten, ist unter anderem nach Auffassung des Hohen Flüchtlingskommissars
der Vereinten Nationen (UNHCR) nicht mit der Genfer Flüchtlingskonvention
vereinbar (vgl. z. B. Ausschussdrucksache 16(4)209 G, S. 11). Vor diesem Hin-
tergrund muss damit gerechnet werden, dass der EuGH die bisherige Rechtslage
und Widerrufspraxis in Deutschland als nicht mit der Qualifikationsrichtlinie
vereinbar bewertet, zumal in den Erwägungsgründen der Richtlinie die uneinge-
schränkte Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention betont und auf die
„wertvolle Hilfe“ des UNHCR bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft
explizit hingewiesen wird.

Diese generelle Überprüfung der Rechtslage und Widerrufspraxis in Deutsch-
land fällt zeitlich damit zusammen, dass das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge derzeit im großen Stil Widerrufsprüfungen vornimmt, in Hinblick
auf den Stichtag des 31. Dezember 2008 in § 73 Abs. 7 des Asylverfahrens-
gesetzes (AsylVfG) für Widerrufe von Anerkennungen, die vor dem 1. Januar
2005 unanfechtbar wurden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie werden die dem EuGH vom BVerwG am 7. Februar 2008 vorgelegten
Fragen in Bezug auf die Voraussetzungen eines Widerrufs von der Bundes-
regierung beantwortet, und wie ist die derzeitige Rechtslage und Behörden-
praxis in Bezug auf die vom BVerwG aufgeworfenen Fragen/Themenkom-

plexe (zu den Fragen vgl. Anlage zur Pressemitteilung Nr. 4/2008 des
BVerwG vom 7. Februar 2008)?

2. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, derzeit anhängige Widerrufs-
verfahren in Hinblick auf das Verfahren beim EuGH, mit dem offene Grund-
satzfragen in Bezug auf die Vereinbarkeit der deutschen Widerrufspraxis mit
der Qualifikationsrichtlinie verbindlich geklärt werden, auszusetzen, und
wenn ja, in welchem Umfang, und wenn nein, warum nicht?

Drucksache 16/9145 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Wird das Bundesamt vor dem Hintergrund des noch nicht entschiedenen
Grundsatzverfahrens beim EuGH bis auf Weiteres darauf verzichten,
weitere Widerrufsverfahren einzuleiten, und wenn nein, warum nicht?

4. In welchem genauen Umfang (zeitlich, Personengruppen) sind nach
Ansicht der Bundesregierung die Bestimmungen der Qualifikationsricht-
linie zum Erlöschen bzw. zur Aberkennung des Flüchtlingsstatus (vgl. Arti-
kel 11 Abs. 1e, Abs. 2 und Artikel 14 bzw. Artikel 16 und Artikel 19 der
Richtlinie) anwendbar, und was gilt insbesondere in Bezug auf

a) bereits laufende Widerrufsverfahren,

b) künftige Widerrufsverfahren,

c) Widerrufe von Anerkennungen, die vor bzw. nach Oktober 2004
(Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie) ausgesprochen wurden,

d) Widerrufe von Anerkennungen, die auf Anträgen beruhen, die vor bzw.
nach Oktober 2004 (Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie) ausge-
sprochen wurden?

5. Wie viele Widerrufsverfahren sind derzeit beim Bundesamt anhängig, d. h.
noch nicht entschieden (bitte auch differenzieren nach Art des möglicher-
weise zu widerrufenden Status und nach den zehn bedeutendsten Her-
kunftsländern)?

6. Wie viele Widerrufsverfahren beabsichtigt das Bundesamt bis zum
31. Dezember 2008 zu prüfen/einzuleiten, und wie viele Anerkennungen
wurden zum derzeitigen Stand noch nicht hinsichtlich der Frage eines
möglichen Widerrufs überprüft (bitte auch differenzieren nach Art des
möglicherweise zu widerrufenden Status und nach den zehn bedeutendsten
Herkunftsländern)?

7. Wie viele Widerrufsverfahren wurden seit 2000 bis heute eingeleitet (bitte
auch nach Jahren, dem jeweiligen Status und den jeweils zehn wichtigsten
Herkunftsländern differenziert angeben)?

8. Wie viele Widerrufsentscheidungen wurden seit 2000 bis heute getroffen,
und wie viele dieser Entscheidungen führten zum Widerruf (in absoluten
oder in relativen Größen; bitte auch nach Jahren, dem jeweiligen Status
und den jeweils zehn wichtigsten Herkunftsländern differenziert angeben)?

9. Wie viele Klagen gegen Widerrufe wurden seit 2000 bis heute erhoben (so-
weit vorliegend, bitte auch nach den zehn bedeutendsten Herkunftsländern
differenzieren), und wie viele sind derzeit insgesamt anhängig?

10. Liegen die zum Stand Dezember 2007 noch „in Vorbereitung“ befindlichen
Statistiken zum Ausgang gerichtlicher Verfahren zu Widerrufsentscheidun-
gen inzwischen vor (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7426, Frage 4), und
wenn ja, wie lauten diese, und wenn nein, wann ist mit ihnen zu rechnen?

11. Wie hat sich der Personalbedarf im Bundesamt für Migration und Flücht-
linge in Bezug auf Widerrufsverfahren in 2007 und 2008 (Planung) ent-
wickelt (Angaben bitte entsprechend der Antwort zu Frage 12 auf
Bundestagsdrucksache 16/2419)?

12. Warum ist mit dem damaligen Entwurf zum Richtlinienumsetzungsgesetz
die Frist zur Überprüfung von „Altfällen“ auf den 31. Dezember 2008
festgesetzt worden, obwohl laut Evaluierungsbericht des Bundes-
ministeriums des Innern zum Zuwanderungsgesetz (S. 53) beabsichtigt
war, das Datum 31. Dezember 2007 zu wählen?

Berlin, den 7. Mai 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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