BT-Drucksache 16/8917

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung -16/8300- Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007

Vom 23. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8917
16. Wahlperiode 23. 04. 2008

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(21. Ausschuss)

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
– Drucksache 16/8300 –

Entwurf eines Gesetzes
zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007

A. Problem

Am 13. Dezember 2007 haben die Staats- und Regierungschefs der Mitglied-
staaten der Europäischen Union den Vertrag von Lissabon zur Änderung des
Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Euro-
päischen Gemeinschaft unterzeichnet. Durch das Vertragsgesetz sollen die von
deutscher Seite erforderlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten dieses Ver-
trags geschaffen werden.

Der Vertrag bedarf der Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften gemäß
Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG). Gemäß Artikel 23 Abs. 1
Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 2 GG ist die Zustimmung von zwei
Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des
Bundesrates erforderlich.

B. Lösung

1. Annahme des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen
der Fraktion DIE LINKE.

2. Annahme einer Entschließung der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP
C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Durch die Ausführung des Gesetzes entstehen keine unmittelbaren zusätzlichen
Kosten für die öffentlichen Haushalte. Es entsteht auch kein zusätzlicher Voll-

Drucksache 16/8917 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

zugsaufwand. Kosten für die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme
entstehen nicht. Es werden keine Informationspflichten für Unternehmen,
Bürgerinnen und Bürger sowie für die Verwaltung eingeführt, abgeschafft oder
geändert.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8917

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

1. den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8300 unverändert anzunehmen,

2. folgende Entschließung anzunehmen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Europäische Union auf ein neues
institutionelles Fundament gestellt, das die Handlungsfähigkeit der Europäi-
schen Union nach innen und außen stärkt und ihre demokratische Legitima-
tion über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente deutlich
verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten – und damit auch Bundestag
und Bundesrat – erhalten erstmalig direkte Mitwirkungsrechte gegenüber den
Organen der Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle sowie bei
institutionellen Entscheidungen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt den Vertrag von Lissabon. Er schafft die
Voraussetzungen, damit die Europäische Union auch mit 27 Mitgliedern
handlungsfähig bleibt. Mit ihm wird die Europäische Union effizienter,
demokratischer und transparenter werden. Der Bundestag begrüßt die institu-
tionellen Neuerungen des Vertrages. Neben dem hauptamtlichen Präsidenten
des Europäischen Rates, der deutlichen Aufwertung des Hohen Vertreters für
Außen- und Sicherheitspolitik, der Ausweitung der Entscheidungen mit qua-
lifizierter Mehrheit und der Verkleinerung der Kommission ist insbesondere
die Stärkung des Europäischen Parlaments zu nennen. Es wird zum vollwer-
tigen Mitgesetzgeber gemeinsam mit dem Rat und hat das entscheidende
Gewicht bei der Benennung des Kommissionspräsidenten. Dies verbessert
die demokratische Legitimation europäischer Rechtsetzung entscheidend.

Der Stärkung der demokratischen Legitimation dient ebenfalls, dass der Ver-
trag von Lissabon den nationalen Parlamenten ausdrücklich die Aufgabe
zuschreibt, aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beizutragen. In dieser
Mitverantwortung für die europäische Integration schafft der Deutsche Bun-
destag mit dem Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des
Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen
Union und mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45
und 93) die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Wahrnehmung seiner
neuen Mitwirkungsrechte in der Europäischen Union.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass mit dem Vertrag von Lissabon die
Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
klarer abgegrenzt werden. Dazu tragen namentlich die Klarstellung, dass die
Ziele der Union keine Kompetenzen begründen, sowie die Bestätigung des
bereits jetzt gültigen Prinzips bei, dass die Europäische Union nur innerhalb
der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf, die die Mitgliedstaaten
ihr in den Verträgen übertragen haben, und alle ihr nicht übertragenen Zustän-
digkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Ebenso ist hervorzuheben, dass
Änderungen der Kompetenzordnung eine förmliche Vertragsänderung erfor-
dern.

Mit den Instrumenten der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage wird
den nationalen Parlamenten die Rolle übertragen, die Wahrung des Subsidia-
ritätsprinzips zu kontrollieren. Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem
Zusammenhang die Präzisierungen des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von
Lissabon durch die Einbeziehung der regionalen und lokalen Ebene und

durch die Bestätigung, dass seine Voraussetzungen kumulativ vorliegen müs-
sen. Danach darf die Europäische Union nur tätig werden, sofern und soweit

Drucksache 16/8917 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten
„weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene“ ausreichend
verwirklicht werden können, „sondern vielmehr“ wegen ihres Umfangs oder
ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass die Geltendmachung eines
Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der Subsidiaritätsrüge
und der Subsidiaritätsklage auch die Rüge eines Verstoßes gegen die Kompe-
tenzordnung einschließt. Da das Subsidiaritätsprinzip nur in den Bereichen
Anwendung findet, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Euro-
päischen Union fallen, ist das Vorliegen einer ausreichenden EU-Kompetenz
eine notwendige Vorfrage für die Frage, ob die Ausübung dieser Zuständig-
keit dem Subsidiaritätsprinzip entspricht. Zudem wird auch ein Verstoß
gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit vielfach zugleich einen Verstoß
gegen das Subsidiaritätsprinzip darstellen, weil beide Prinzipien die Aus-
übung bestehender EU-Kompetenzen regeln.

Im Hinblick auf die Möglichkeit, wegen eines Verstoßes gegen das Subsi-
diaritätsprinzip den Europäischen Gerichtshof anzurufen, fordert der Deut-
sche Bundestag die Kommission auf, bei künftigen Rechtsetzungsvorhaben
detailliert zu begründen, weshalb ein Vorschlag nach ihrer Auffassung mit
dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist und worin der „Mehrwert“ einer
Rechtsetzung auf europäischer Ebene besteht. Zur Prüfung der Frage, ob die
Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips erfüllt sind, erinnert der Deut-
sche Bundestag an die Leitlinien gemäß Ziffer 5 des Protokolls über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zum
Vertrag von Amsterdam, die hierfür weiterhin von Belang sind. Soweit der
Europäische Gerichtshof damit befasst werden wird, das Subsidiaritätsprin-
zip zu konkretisieren, wird es in seiner Verantwortung liegen, auch den Hand-
lungsspielraum der nationalen Parlamente zu wahren. Insoweit bedingt ihre
Aufgabe als Hüter des Subsidiaritätsprinzips eine eigenständige Rolle der
nationalen Parlamente neben den Organen der Europäischen Union und
neben den Vertretern ihrer Mitgliedstaaten. Diese eigenständige Rolle ist
zugleich Ausdruck der Mitverantwortung der nationalen Parlamente für die
europäische Integration, wie sie im Vertrag von Lissabon verankert ist.

Der Deutsche Bundestag wird die neu geschaffenen Rechte zur Mitwirkung
auf EU-Ebene verantwortungsvoll und sorgfältig anwenden. Die Hauptauf-
gabe für den Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union bleibt
die innerstaatliche Mitwirkung gegenüber der Bundesregierung. Über sie
kann er Einfluss auf die Rechtsetzungstätigkeit der Union nehmen und sorgt
damit – neben dem Europäischen Parlament – für demokratische Legitima-
tion. Der Deutsche Bundestag erinnert an die Fortschritte rechtlicher und
praktischer Natur bei der Stärkung seiner Europatauglichkeit, um seine Mit-
wirkungsrechte effektiv wahrnehmen zu können, und ist sich bewusst, dass
die neuen Rechte weitere Anstrengungen erforderlich machen.

Die fortschreitende Vollendung des Binnenmarkts macht eine wirksamere
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU im Bereich des Zivil- und Straf-
rechts notwendig. Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die grundsätzliche
Einführung des ordentlichen EU-Gesetzgebungsverfahrens im Bereich der
Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen. Die Abstimmung mit qualifizier-
ter Mehrheit im Rat stärkt die Handlungsfähigkeit, und die vollwertige Ein-
beziehung des Europäischen Parlaments als Mitgesetzgeber verbessert die
Legitimation. Ebenso dienen die im Vertrag von Lissabon enthaltenen Ent-
wicklungsklauseln im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Straf-
sachen einer intensivierten Zusammenarbeit, sofern hierzu Einvernehmen
unter den Regierungen besteht.
Nach diesen Entwicklungsklauseln können durch einstimmigen Beschluss
des Rates bzw. des Europäischen Rates Rechtsetzungsvorhaben in bestimm-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/8917

ten Bereichen ermöglicht werden, die eine Weiterentwicklung des Vertrags
ohne förmliche Vertragsänderung bedeuten. Im Einzelnen können nach
Artikel 82 Abs. 2 Satz 3 Buchstabe d des Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV) Mindestvorschriften über „sonstige spezifi-
sche Aspekte des Strafverfahrens“ erlassen werden, die vom Rat zuvor durch
einstimmigen Beschluss bestimmt worden sind. Nach Art. 83 Absatz 1
Unterabsatz 3 AEUV kann der Rat durch einstimmigen Beschluss „andere
Kriminalitätsbereiche“ bestimmen, in denen Mindestvorschriften zur Festle-
gung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Krimina-
lität, die eine grenzüberschreitende Dimension haben, festgelegt werden
können. Nach Art. 87 Absatz 4 AEUV kann der Europäische Rat durch ein-
stimmigen Beschluss die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft
auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität mit grenzüberschreitender
Dimension ausdehnen und ihre Zuständigkeit für die strafrechtliche Untersu-
chung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung auf Personen erweitern,
die als Täter oder Teilnehmer schwere, mehr als einen Mitgliedstaat betref-
fende Straftaten begangen haben.

Unter dem Gesichtspunkt der Erkennbarkeit des europäischen Integrations-
programms erfordert das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung bei
diesen einstimmigen Beschlüssen des Rates bzw. des Europäischen Rates
eine besondere Rückanbindung an den Deutschen Bundestag. Dies war auch
die übereinstimmende Auffassung und Empfehlung der Sachverständigen im
Rahmen des Expertengesprächs des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union vom 5. März 2008 zur Vorbereitung der Ratifizie-
rung des Vertrags von Lissabon zu dem Themenbereich „Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts“. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert,
sich vor der abschließenden Entscheidung im Rat bzw. im Europäischen Rat
aktiv um Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag zu bemühen. Zudem
sollte die Bundesregierung den Deutschen Bundestag informieren und über
ihre Willensbildung unterrichten, sobald der Rat bzw. der Europäische Rat
beabsichtigt, einen Beschluss nach den genannten Entwicklungsklauseln zu
fassen. Ziffer VI der Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und
der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Euro-
päischen Union bietet hierfür ein geeignetes Verfahren.

Das Kapitel 4 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen enthält weitere besondere
Verfahrensregeln, die der Sensibilität der nationalen Strafrechtsordnungen
Rechnung tragen. EU-Gesetzgebungsverfahren in diesem Bereich werden
gemäß Art. 82 Absatz 3 AEUV bzw. Art. 83 Absatz 3 AEUV ausgesetzt, falls
ein Mitglied des Rates durch den Entwurf des Gesetzgebungsaktes grund-
legende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berührt sieht und daher die Be-
fassung des Europäischen Rates beantragt. Diese sog. Notbremsmechanis-
men unterliegen der Mitwirkung des Deutschen Bundestages nach Art. 23
Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Sollte der Bundestag in einer Stellung-
nahme gegenüber der Bundesregierung durch einen Entwurf eines auf Art. 82
bzw. Art. 83 AEUV gestützten EU-Gesetzgebungsaktes grundlegende
Aspekte der deutschen Strafrechtsordnung berührt sehen und das Aussetzen
des EU-Gesetzgebungsverfahrens verlangen, so ist die Bundesregierung
aufgefordert, in einem solchen Fall die Anrufung des Europäischen Rates zu
beantragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Kompetenzabgrenzung und das Subsidiaritätsprinzip entsprechend

den im Vertrag von Lissabon vorgenommenen Präzisierungen im Rahmen
ihrer Tätigkeit in der Europäischen Union strikt zu beachten.

Drucksache 16/8917 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

– den Deutschen Bundestag in der ihm durch den Vertrag von Lissabon
übertragenen Rolle als Wahrer des Subsidiaritätsprinzips zu unterstützen
und zu diesem Zweck ihren Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit dem
Bundestag in vollem Umfang nachzukommen.

– den Deutschen Bundestag zu informieren und über ihre Willensbildung zu
unterrichten, sobald der Rat bzw. der Europäische Rat beabsichtigt, einen
Beschluss gemäß einer der Entwicklungsklauseln im Bereich der justi-
ziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu fassen, und sich zu bemühen,
vor der abschließenden Entscheidung im Rat bzw. im Europäischen Rat
Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag herzustellen.

– im Rat die Befassung des Europäischen Rates mit einem EU-Gesetzge-
bungsakt im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zu
beantragen, falls der Deutsche Bundestag in einer Stellungnahme nach
Art. 23 GG durch den Entwurf des EU-Gesetzgebungsaktes grundlegende
Aspekte der deutschen Strafrechtsordnung berührt sieht.

Berlin, den 23. April 2008

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Gunther Krichbaum
Vorsitzender

Michael Stübgen
Berichterstatter

Michael Roth (Heringen)
Berichterstatter

Markus Löning
Berichterstatter

Dr. Diether Dehm
Berichterstatter

Rainder Steenblock
Berichterstatter

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht die Zustim-
Die Höchstzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments
wird auf 751 festgelegt. Eine Überschreitung ist nur vorüber-
mung zu dem am 13. Dezember 2007 von den Staats- und
Regierungschefs in Lissabon unterzeichneten Vertrag ein-
schließlich der zwei Protokolle zum Vertrag von Lissabon
und der elf Protokolle, die durch den Vertrag von Lissabon

gehend infolge eines Beitritts innerhalb einer laufenden Le-
gislaturperiode zulässig. Die Verteilung der Sitze auf die
Mitgliedstaaten wird durch einen Beschluss des Europäi-
schen Rates auf Initiative und mit Zustimmung des Euro-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/8917

Bericht der Abgeordneten Michael Stübgen, Michael Roth (Heringen), Markus
Löning, Dr. Dieter Dehm und Rainder Steenblock

1. Beratungsverfahren

Der Deutsche Bundestag hat den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember
2007 auf Drucksache 16/8300 in seiner 151. Sitzung am
13. März 2008 beraten und federführend an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union sowie mit-
beratend an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung, den Auswärtigen Ausschuss, den Innen-
ausschuss, den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den
Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe, den Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie den
Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen.

Der Bundesrat hatte in seiner 841. Sitzung am 15. Februar
2008 gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes Stellung
genommen. Der Bundesrat begrüßt die Einigung der Staats-
und Regierungschefs auf einen Vertrag zur Änderung der be-
stehenden Verträge als großen Erfolg für Europa. Er würdigt
zahlreiche Neuerungen des Vertragswerkes im Hinblick auf
die Stärkung der nationalen Parlamente, die Kompetenzab-
grenzung zwischen der Europäischen Union und den Mit-
gliedstaaten sowie die Stärkung von Handlungsfähigkeit,
Demokratie, Bürgernähe und Transparenz der Europäischen
Union. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass Anliegen
wie die Aufnahme eines Gottesbezuges in die vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union und seine Kritik gegen-
über der Erweiterung einiger Kompetenzen der Europäi-
schen Union nicht berücksichtigt wurden. Er weist darauf
hin, dass im Zuge der Ratifizierung des Vertrags von Lissa-
bon in Deutschland die innerstaatliche Umsetzung des den
nationalen Parlamenten neu eingeräumten Rechts zu regeln
ist.

In ihrer Gegenäußerung begrüßt die Bundesregierung die
breite Zustimmung, die der Vertrag von Lissabon im Bun-
desrat gefunden habe, und stellt in Aussicht, gemeinsam mit
Bundestag und Bundesrat auf eine zügige Verabschiedung
der innerstaatlichen Regelungen zur Umsetzung der dem
Bundestag und dem Bundesrat durch den Vertrag neu einge-
räumten Rechte hinzuwirken.

2. Inhalt der Vorlage

Kenntnis genommen und in die Schlussakte aufgenommen
wurden, vor.

Der Vertrag von Lissabon enthält Änderungen des Vertrags
über die Europäische Union (EU-Vertrag) und des Vertrags
zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Ver-
trag). Er übernimmt die wesentlichen Inhalte des Vertrags
über eine Verfassung für Europa, der am 29. Oktober 2004 in
Rom unterzeichnet worden war, baut aber auf der Struktur
der bestehenden Verträge auf. Der Name des EG-Vertrags
wird in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union“ (AEU-Vertrag) geändert.

Mit dem Vertrag von Lissabon erhält die Europäische Union
eine einheitliche Rechtspersönlichkeit. Sie tritt als Rechts-
nachfolgerin an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft.
Sie bleibt auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon
eine supranationale Integrationsgemeinschaft eigener Art.

Institutionelle Reformen

Der Europäische Rat erhält den Status eines Organs der Eu-
ropäischen Union. Der künftige Präsident des Europäischen
Rates wird von diesem für zweieinhalb Jahre gewählt; ein-
malige Wiederwahl ist zulässig; er darf kein einzelstaatliches
Amt ausüben. Seine Befugnisse sind an die des bisherigen
rotierenden Vorsitzes des Europäischen Rates angelehnt.

Der Rat wird künftig stets öffentlich tagen, wenn er über Ent-
würfe zu Gesetzgebungsakten berät oder abstimmt. Den Vor-
sitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ erhält der Hohe
Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Bei
allen anderen Ratsformationen bleibt es bei dem Grundsatz
der gleichberechtigten Rotation des Vorsitzes.

Ab dem 1. November 2014 wird die qualifizierte Mehrheit
als sog. doppelte Mehrheit berechnet werden. Danach kom-
men Entscheidungen im Rat zustande, wenn 55 Prozent der
Staaten, die gleichzeitig 65 Prozent der Bevölkerung der Eu-
ropäischen Union vertreten, zustimmen. Die Zahl der zu-
stimmenden Mitgliedstaaten muss mindestens 15 betragen.
Eine Sperrminorität ist nur gegeben, wenn sie mindestens
vier Mitgliedstaaten umfasst. Vom 1. November 2014 bis
zum 31. März 2017 gilt zusätzlich eine Übergangsregel,
nach der ein Mitgliedstaat verlangen kann, dass eine Abstim-
mung weiterhin nach den Regeln des bisherigen Vertrags
stattfindet. Zudem kann eine Minderheit, welche die Sperr-
minorität beinahe erreicht, eine befristete Weiterberatung
des zur Abstimmung stehenden Themas verlangen (sog.
Ioannina-Mechanismus). Die Zahl der Anwendungsfälle der
qualifizierten Mehrheit wird deutlich erhöht.
den Verträgen beigefügt werden, sowie der 65 Erklärungen,
die von der Regierungskonferenz angenommen oder zur

päischen Parlaments geregelt. Die Höchstzahl pro Mitglied-
staat wird auf 96 begrenzt, die Mindestzahl beträgt sechs.

Drucksache 16/8917 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Nach dem Vertrag von Lissabon wird der Präsident der
Europäischen Kommission durch das Europäische Parla-
ment auf Vorschlag des Europäischen Rates gewählt werden.
Die Kommission wird ab 2014 auf zwei Drittel der Mitglied-
staaten verkleinert, sofern der Europäische Rat nicht ein-
stimmig eine andere Regelung beschließt. Ihre Mitglieder
sollen auf der Grundlage einer gleichberechtigten Rotation
aller Mitgliedstaaten bestimmt werden, durch die das demo-
grafische und geografische Spektrum der Gesamtheit der
Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt.

Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheits-
politik vereint in sich die Funktionen des bisherigen Vertre-
ters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, des
bisherigen Mitglieds der Kommission für Außenbeziehun-
gen und des Vorsitzenden des Rates „Auswärtige Angele-
genheiten“. Er wird Vizepräsident der Kommission. Der
Hohe Vertreter wird vom Europäischen Rat mit qualifizierter
Mehrheit und mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten
ernannt. Er wird durch einen neu einzurichtenden Europäi-
schen Auswärtigen Dienst unterstützt werden.

Die Befugnisse des Gerichtshofs der Europäischen Union
werden ausgeweitet. Klagen von Einzelpersonen, die durch
Rechtsakte mit Verordnungscharakter unmittelbar betroffen
sind, werden erleichtert. Der Individualrechtsschutz im Rah-
men der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird
ausgebaut. Die Einschränkungen der Zuständigkeit des
Gerichtshofs für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts werden weitgehend wegfallen; für bestehende
Rechtsakte wird eine Übergangfrist von fünf Jahren gelten.

Die Europäische Zentralbank erhält den Status eines Organs
der Europäischen Union; ihre Unabhängigkeit wird davon
nicht berührt. Sie bleibt dem Ziel der Preisstabilität ver-
pflichtet.

Demokratische Legitimation und Grundrechtsschutz

Die demokratische Legitimation der Europäischen Union
wird durch die Wahl des Kommissionspräsidenten durch
das Europäische Parlament gestärkt. Durch die Verankerung
des bisherigen Mitentscheidungsverfahrens als ordentliches
Gesetzgebungsverfahren wird das Europäische Parlament
zum weitgehend gleichberechtigten Mitgesetzgeber. Mit der
neuen europäischen Bürgerinitiative können eine Million
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger die Kommission auf-
fordern, einen Rechtsetzungsvorschlag vorzulegen.

Die Grundrechtecharta, die nicht Teil des Vertragstextes ist,
wird durch einen Verweis rechtsverbindlich. Sie erhält da-
durch den gleichen Rang wie die Verträge selbst und bindet
die Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union
sowie die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unions-
rechts. Der Vertrag enthält außerdem einen Auftrag an die
Europäische Union, der Europäischen Menschenrechtskon-
vention beizutreten.

Weiterentwicklung der Sachpolitiken

Die bisher zu dem intergouvernementalen sog. zweiten Pfei-
ler der Europäischen Union gehörende Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Europäi-
schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sowie

Beibehaltung bestimmter Sonderregeln in das supranatio-
nale Unionsrecht einbezogen.

Die Beschlussfassung in der GASP wird auch weiterhin im
Wesentlichen einstimmig erfolgen, eine spezielle Flexibili-
tätsklausel ermöglicht jedoch die Ausdehnung des Anwen-
dungsbereichs der qualifizierten Mehrheit mittels einstimmi-
ger Entscheidung im Europäischen Rat.

Die ESVP wird zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik (GSVP) weiterentwickelt. Die Ständige Struk-
turierte Zusammenarbeit erlaubt Mitgliedstaaten, die bei der
Entwicklung militärischer Fähigkeiten vorangehen wollen,
dies unter dem Dach der Europäischen Union zu tun. Die
Verstärkte Zusammenarbeit wird auch auf die GSVP an-
wendbar. Die bereits im Jahr 2004 eingerichtete Agentur für
Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten wird ver-
traglich verankert. Der Vertrag von Lissabon enthält eine
Beistandsverpflichtung, die dem Vertrag über die West-
europäische Union entspricht, sowie eine Solidaritätsklausel
zur Verhütung und Bekämpfung der Folgen von Terror-
anschlägen und Katastrophen.

Durch die Auflösung der bisherigen Pfeilerstruktur erhält die
Europäische Union eine geteilte Kompetenz zur Entwick-
lung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Statt der bisherigen besonderen Rechtsinstrumente „Rah-
menbeschluss“ und „Beschluss“ und der besonderen Verfah-
ren werden die allgemeinen Instrumente und das ordentliche
Gesetzgebungsverfahren zur Anwendung kommen. Als Be-
sonderheit erhält neben der Europäischen Kommission auch
eine Gruppe von Mitgliedstaaten das Initiativrecht. Die
Verstärkte Zusammenarbeit wird erleichtert. Für Groß-
britannien, Irland und Dänemark gelten besondere Regeln.

Der Vertrag von Lissabon sieht erstmals eine ausdrückliche
Kompetenz zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des
Strafverfahrensrechts vor und erweitert die Kompetenz zur
Rechtsangleichung im materiellen Strafrecht. Er schafft eine
Rechtsgrundlage für die Strafbewehrung des Unionsrechts in
anderen Politikbereichen und zur Errichtung einer europäi-
schen Staatsanwaltschaft, die auch im Wege einer Verstärk-
ten Zusammenarbeit eingerichtet werden kann.

Die Rechtsangleichung im Strafrecht erfolgt mit qualifizier-
ter Mehrheit, allerdings ergänzt durch einen „Notbremse-
Mechanismus“: Sieht ein Mitgliedstaat wichtige Grundsätze
seines Rechtssystems in Gefahr, so kann er das Gesetzge-
bungsvorhaben an den Europäischen Rat verweisen, der in-
nerhalb von vier Monaten einstimmig entscheiden muss.
Kommt keine Einigung zustande, so gilt eine entsprechende
Verstärkte Zusammenarbeit als genehmigt.

Trotz der Zuständigkeiten der Europäischen Union für den
schrittweisen Aufbau eines Grenzsystems und einer gemein-
samen Einwanderungspolitik verbleibt den Mitgliedstaaten
das Recht selbst festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige
in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitneh-
mer oder Selbständige Arbeit zu suchen.

Bei der Finanzverfassung der Europäischen Union verbleibt
es bei Entscheidungen über das System der Eigenmittel und
den mehrjährigen Finanzrahmen bei der Einstimmigkeit;
eine spezifische Brückenklausel erlaubt aber den Übergang
in die qualifizierte Mehrheit. Bei der Aufstellung des Jahres-
die polizeiliche Zusammenarbeit und die justizielle Zusam-
menarbeit des dritten Pfeilers im Strafrecht werden unter

haushaltsplans erhält das Europäische Parlament eine weit-
gehend gleichberechtigte Stellung mit dem Rat.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/8917

Die Mitgliedstaaten koordinieren ihre Wirtschafts- und Be-
schäftigungspolitik im Rahmen der Union. Die Preisstabi-
lität gehört zu den im Vertrag von Lissabon verankerten
Zielen der Union. Die „Eurogruppe“ wird erstmals primär-
rechtlich geregelt und dadurch aufgewertet.

Nach dem Vertrag von Lissabon können Regelungen zur
sozialen Sicherheit für Wanderarbeitnehmer künftig mit
qualifizierter Mehrheit getroffen werden, wobei ein „Not-
bremse-Mechanismus“ zur Anwendung kommen kann.

In der Handelspolitik, die insgesamt in der Zuständigkeit der
Union liegt, wird die Mehrheitsentscheidung ausgeweitet.
Bei internationalen Abkommen über den Dienstleistungs-
verkehr, den Schutz des geistigen Eigentums oder über aus-
ländische Direktinvestitionen verbleibt es bei der Einstim-
migkeit.

Der Vertrag von Lissabon erweitert die Zuständigkeit der
Europäischen Union im Bereich Klimaschutz und sieht
Kompetenzen für eine Energiepolitik vor. Diese zielt im
Geiste der gegenseitigen Solidarität unter den Mitgliedstaa-
ten auf das Funktionieren des Energiebinnenmarktes, die
Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit und die
Förderung der Energieeffizienz ab.

Flexibilitätsinstrumente

Der Vertrag sieht vereinfachte Vertragsänderungsverfahren
vor, mit denen die Handlungsmöglichkeiten der Europäi-
schen Union innerhalb des Rahmens der Verträge weiterent-
wickelt werden können.

Auf der Grundlage der sog. Brückenklausel kann der Euro-
päische Rat mit Einstimmigkeit und nach Zustimmung des
Europäischen Parlaments den Übergang vom Einstimmig-
keitsverfahren zur Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit
beschließen, wenn innerhalb von einer Frist von sechs
Monaten kein nationales Parlament widerspricht. Dies gilt
für die im EU-Vertrag geregelte GASP und alle Bereiche des
AEU-Vertrags, nicht jedoch für Beschlüsse mit militärischen
oder verteidigungspolitischen Bezügen.

Eine vergleichbare Brückenklausel ist für den Übergang in
das ordentliche Gesetzgebungsverfahren für die Fälle vor-
gesehen, in denen der AEU-Vertrag ein besonderes Gesetz-
gebungsverfahren festlegt. Auch hier besteht neben der Ein-
stimmigkeit im Europäischen Rat die Voraussetzung, dass
das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglie-
der zustimmt und kein nationales Parlament einen Wider-
spruch erhebt.

Der Anwendungsbereich der allgemeinen Flexibilitäts-
klausel wird auf alle im Rahmen der Verträge festgelegten
Politikbereiche erweitert; die Beschränkung auf das Binnen-
marktziel entfällt. Als neue Sicherheitsmechanismen wird
zusätzlich zum Einstimmigkeitserfordernis die Zustimmung
des Europäischen Parlaments verpflichtend, außerdem
werden die nationalen Parlamente in besonderer Weise auf
Vorhaben zur Anwendung der Bestimmung aufmerksam ge-
macht.

Die Voraussetzungen für die Verstärkte Zusammenarbeit
werden erleichtert; sie ist künftig auf alle Bereiche nicht aus-
schließlicher Unionskompetenz anwendbar. In der GSVP
tritt die Strukturierte Zusammenarbeit als spezielles Flexibi-

gang zur qualifizierten Mehrheit und zum ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren. Erforderlich ist ein einstimmiger
Beschluss der teilnehmenden Mitgliedstaaten. Das Europäi-
sche Parlament wird angehört; eine besondere Beteiligung
der nationalen Parlamente ist nicht vorgesehen.

Ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren erlaubt An-
passungen der internen Politikbereiche der Europäischen
Union durch einstimmigen Beschluss des Europäischen
Rates nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der
Kommission, sofern es nicht zu einer Ausdehnung der Zu-
ständigkeiten der Union kommt. Der Beschluss ist ratifika-
tionsbedürftig. Für das reguläre Vertragsänderungsverfahren
ist die Einberufung eines Konvents von Vertretern der natio-
nalen Parlamente, der Staats- und Regierungschefs der Mit-
gliedstaaten, des Europäischen Parlaments und der Kommis-
sion vorgesehen.

Vereinfachung und Transparenz

Zur Transparenz und Verständlichkeit der Union trägt die be-
reits erwähnte Verpflichtung des Rates bei, im Gesetz-
gebungsverfahren öffentlich zu tagen.

Der Vertrag von Lissabon führt erstmals eine Normenhierar-
chie in das Unionsrecht ein. Der Kommission kann die
Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzes-
charakter zu erlassen. Der Gesetzgeber behält jedoch die
Möglichkeit, diese Ermächtigung jederzeit zu widerrufen
oder das Inkrafttreten dieser nachrangigen Bestimmungen
von seinem Einverständnis abhängig zu machen.

Dem Ziel der besseren Verständlichkeit dient auch die Ver-
einfachung der Verfahren, insbesondere die Konzentration
auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren im Legislativ-
bereich. Selten genutzte Verfahren, wie das der Zusammen-
arbeit, werden abgeschafft.

Kompetenzabgrenzung und Subsidiaritätsprinzip

Der Vertrag von Lissabon erlaubt eine bessere Abgrenzung
der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitglied-
staaten. Grundlage ist die Einteilung der Zuständigkeiten in
Kompetenzkategorien. Die Verträge sehen künftig drei
Hauptbereiche vor: ausschließliche und geteilte Zuständig-
keit sowie Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergän-
zungsmaßnahmen der Union. Koordinierungs- und Er-
gänzungsmaßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass die
Zuständigkeit der Union für diese Bereiche an die Stelle der
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten tritt. Außerdem ist eine
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
ausgeschlossen. Für die Koordinierung der Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten innerhalb der
Union sowie für die Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik wurden zwei zusätzliche Kategorien eingeführt.

Nach dem Grundsatz der Subsidiarität wird die Union in den
Bereichen ihrer nichtausschließlichen Zuständigkeit nur
tätig, sofern und soweit die Ziele der jeweiligen Maßnahme
von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regio-
naler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden
können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer
Wirkungen auf Unionsebene besser verwirklicht werden
können. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip dürfen die
Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das
litätsinstrument hinzu. Eine Sonder-Brückenklausel ermög-
licht innerhalb einer Verstärkten Zusammenarbeit den Über-

zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß
hinausgehen.

Drucksache 16/8917 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Diese Grundsätze werden im Protokoll über die Anwendung
der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig-
keit näher ausgeführt. Durch den dort verankerten Subsidia-
ritäts-Kontrollmechanismus werden die nationalen Parla-
mente unter dem Subsidiaritätsaspekt erstmals unmittelbar
in das europäische Gesetzgebungsverfahren einbezogen.

Das Protokoll sieht vor, dass jeder Kammer eines nationalen
Parlaments jeder Entwurf eines Gesetzgebungsaktes unmit-
telbar zugeleitet wird. Jede dieser Kammern verfügt über ei-
nen Zeitraum von acht Wochen, um den Gesetzentwurf zu
prüfen und gegebenenfalls eine Stellungnahme abzugeben,
weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsi-
diaritätsprinzip vereinbar ist. Erreicht die Anzahl der be-
gründeten Stellungnahmen ein Drittel der Gesamtzahl der
den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen bzw.
ein Viertel bei Maßnahmen im Bereich des Raums der Frei-
heit, der Sicherheit und des Rechts, so muss der Entwurf
überprüft werden. Hat mehr als die Hälfte der nationalen
Parlamente eine begründete Stellungnahme abgegeben, so
wird im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens
ein besonderes Verfahren ausgelöst, das zur endgültigen Ab-
lehnung des Vorhabens führen kann.

Außerdem erhalten die nationalen Parlamente das Recht,
beim Europäischen Gerichtshof über die jeweiligen Regie-
rungen Klage wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips
zu erheben. Auch der Ausschuss der Regionen erhält ein
eigenes Klagerecht bei behaupteten Verletzungen des Subsi-
diaritätsprinzips, falls dieser anzuhören war.

3. Stellungnahme der mitberatenden Ausschüsse

Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung hat in seiner 31. Sitzung am 10. April 2008
mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzuneh-
men.

Der Auswärtige Ausschuss hat in seiner 62. Sitzung am
23. April 2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die
Stimmen der Fraktion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetz-
entwurf anzunehmen.

Der Innenausschuss hat in seiner 66. Sitzung am 23. April
2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzu-
nehmen.

Der Rechtsausschuss hat in seiner 96. Sitzung am 23. April
2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktion DIE LINKE. bei Stimmenthaltung eines Mitglieds
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfohlen, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Außerdem wurde der Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom 22. April 2008
(siehe Nummer 2 der Beschlussempfehlung) angenommen.

Der Finanzausschuss hat in seiner 90. Sitzung am 23. April
2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der

CDU/CSU und SPD vom 22. April 2008 (siehe Nummer 2
der Beschlussempfehlung) angenommen.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hat in sei-
ner 62. Sitzung am 23. April 2008 mit den Stimmen der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE.
empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen. Außerdem
wurde der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
vom 22. April 2008 (siehe Nummer 2 der Beschlussempfeh-
lung) angenommen.

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz hat in seiner 76. Sitzung am 23. April 2008
mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimen der Fraktion
DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen.

Der Verteidigungsausschuss hat in seiner 78. Sitzung am
23. April 2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die
Stimmen der Fraktion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetz-
entwurf anzunehmen.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
hat in seiner 54. Sitzung am 23. April 2008 mit den Stimmen
der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE.
empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen.

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat
in seiner 61. Sitzung am 23. April 2008 mit den Stimmen der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. und
eines Mitglieds der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen. Außerdem
wurde der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
vom 22. April 2008 (siehe Nummer 2 der Beschlussempfeh-
lung) angenommen.

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit hat in seiner 62. Sitzung am 23. April 2008 mit
den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
tion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzuneh-
men.

Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
hat in seiner 57. Sitzung am 9. April 2008 mit den Stimmen
der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE.
empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung hat in seiner 58. Sitzung am 23. April
2008 mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
Fraktion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzu-
nehmen. Außerdem wurde der Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD vom 22. April 2008 (siehe Nummer 2
der Beschlussempfehlung) angenommen.

Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung hat in seiner 61. Sitzung am 23. April 2008 mit
den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der Frak-
Fraktion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzu-
nehmen. Außerdem wurde der Antrag der Fraktionen der

tion DIE LINKE. empfohlen, den Gesetzentwurf anzuneh-
men. Außerdem wurde der Antrag der Fraktionen der CDU/

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/8917

CSU und SPD vom 22. April 2008 (siehe Nummer 2 der Be-
schlussempfehlung) angenommen.

Der Ausschuss für Kultur und Medien hat in seiner 55. Sit-
zung am 23. April 2008 mit den Stimmen der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. empfohlen,
den Gesetzentwurf anzunehmen.

4. Beratungsverfahren – federführender Ausschuss

Zur Vorbereitung der Beratung des Gesetzentwurfes der
Bundesregierung in seiner 58. Sitzung am 9. April 2008 hatte
der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union in öffentlicher Sitzung drei Fachgespräche mit Sach-
verständigen aus der Wissenschaft und verschiedenen Ver-
bänden durchgeführt.

Schwerpunkt des ersten Expertengesprächs am 20. Februar
2008 war das Thema „Gemeinsame Außen- und Sicherheits-
politik/Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“.
Die Sachverständigen betonten, dass die Außen- und Sicher-
heitspolitik der Europäischen Union auch nach dem Vertrag
von Lissabon einen eindeutig intergouvernementalen Cha-
rakter haben werde. In vielen Bereichen könne weiterhin nur
einstimmig entschieden werden und die Rolle der Kommis-
sion sowie des Europäischen Parlaments bliebe begrenzt.
Mit der Schaffung eines Präsidenten des Europäischen
Rates, dem auch die Außenvertretung der Europäischen
Union obliege, und des Amtes eines Hohen Vertreters der
Außen- und Sicherheitspolitik würden die Kontinuität, Effi-
zienz und Sichtbarkeit der Europäischen Union in ihren
Außenbeziehungen verbessert. Die materielle und personelle
Ausstattung des Präsidenten sowie des Europäischen Aus-
wärtigen Dienstes seien allerdings noch nicht geklärt. Die
Auswirkungen des künftigen Konkurrenzverhältnisses zwi-
schen Ratspräsident und Hohem Vertreter hingen stark von
der personellen Besetzung dieser Ämter ab.

Der Verzicht auf die Bezeichnung Außenminister wurde
unterschiedlich bewertet; während einige Sachverständige
damit eine Verringerung seines politischen Gewichts einher-
gehen sahen, verwiesen andere auf die bislang wenig beach-
teten Gestaltungsmöglichkeiten, die mit dem Vorsitz im Rat
Auswärtige Angelegenheiten verbunden seien. Die Bezeich-
nung des Amtes sei demgegenüber nachrangig.

Mehrere Sachverständige betonten die Möglichkeiten, die
sich aus den Bestimmungen über die Ständige Strukturierte
Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungspolitik für
eine Weiterentwicklung der militärischen Fähigkeiten der
Europäischen Union ergäben. Die Verstärkte Zusammenar-
beit im Bereich der Außenpolitik wurde wegen der Gefahr
einer außenpolitischen Spaltung der Europäischen Union
hingegen kritisch gesehen.

Ein Sachverständiger bewertete die Kompetenzen des Euro-
päischen Parlaments im Bereich der Außen- und Sicherheits-
politik als unzureichend. Das Parlament könne weder über
das Haushaltsrecht noch bei der Entscheidung über Missio-
nen der Europäischen Union eine ausreichende Kontrolle
ausüben.

Sachverständigen betonten die wachsende Bedeutung dieses
Politikbereichs in der jüngsten Entwicklung der europäi-
schen Integration. Dem werde der Vertrag von Lissabon
gerecht: Mit der Überwindung der unpraktikablen, intrans-
parenten und wenig demokratischen Säulenstruktur des bis-
herigen Unionsvertrags, dem Zuwachs an Kompetenzen und
dem weit reichenden Übergang zu Entscheidungen mit qua-
lifizierter Mehrheit und Mitentscheidung des Europäischen
Parlaments enthalte der Vertrag entscheidende Fortschritte.
Die Schaffung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit wer-
de sich positiv auf die Außenbeziehungen der Europäischen
Union in diesem Bereich auswirken. Besonders hervorgeho-
ben wurden außerdem der verbesserte Individualrechts-
schutz, insbesondere durch die Charta der Grundrechte und
die grundsätzliche Zuständigkeit des Europäischen Gerichts-
hofs für die Innen- und Justizpolitik.

Mit dem Kompetenzzuwachs insbesondere für Regelungen
des materiellen Strafrechts und dem Prinzip der gegenseiti-
gen Anerkennung seien aber Risiken für die Menschen- und
Bürgerrechte verbunden. Es bestehe die Gefahr einer Abkehr
vom Grundsatz des Strafens als letztes Mittel des Staates.
Eine Mindestharmonisierung verfahrensrechtlicher Garan-
tien sei unabdingbar. Der parlamentarischen Kontrolle so-
wohl durch das Europäische Parlament als auch durch die
nationalen Parlamente komme eine erhebliche Bedeutung
zu. Mit den Sonderregelungen, die Dänemark, Irland und das
Vereinigte Königreich ausgehandelt hätten, entstehe ein be-
dauerliches Differenzierungspotenzial.

Einer der Sachverständigen sah einen Mangel an demokrati-
scher Legitimation strafrechtlicher Normsetzung durch die
Europäische Union: Die Wahlrechtsgleichheit im Sinne der
Zählgleichheit sei bei den Wahlen zum Europäischen Parla-
ment angesichts des nach dem Vertrag von Lissabon noch
steigenden Disproportionalitätsfaktors zwischen Bevölke-
rungszahl und Sitzzahl im Europäischen Parlament erheblich
eingeschränkt. Zudem fehle es an einer europäischen Öffent-
lichkeit. Zusätzlich zu der parlamentarischen und gericht-
lichen Kontrolle müsse auch die Nutzung der im Vertrag von
Lissabon vorgesehenen „Notbremse“ in der Hand des Deut-
schen Bundestages liegen.

Die Grundlagen des Vertrags von Lissabon und die institu-
tionellen Reformen der Europäischen Union waren Gegen-
stand des dritten Expertengesprächs am 10. März 2008. Die
Sachverständigen betonten, dass der Vertrag zahlreiche Ver-
besserungen im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit, Trans-
parenz, Bürgernähe und demokratische Legitimation der
Europäischen Union vorsehe, dieser aber keine grundsätz-
lich neue Qualität verleihe. Zahlreiche Mechanismen zum
Schutz der Interessen der Mitgliedstaaten, insbesondere das
Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der begrenzten Ein-
zelermächtigung, aber auch die künftig ausdrücklich ver-
ankerte Möglichkeit eines Austritts aus der Europäischen
Union, machten deutlich, dass mit dem Vertrag kein neuer
Bundesstaat geschaffen werde. Der Verzicht auf Symbole
wie die Flagge und die Hymne der Europäischen Union und
Begriffe wie der des Außenministers wurden von mehreren
Sachverständigen bedauert.

Die Überwindung der Säulenstruktur des Vertrags von

Das zweite Expertengespräch am 5. März 2008 betraf den
„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Die

Nizza, die einheitliche Rechtspersönlichkeit der Union und
der verbesserte Rechtsschutz für die Bürger insbesondere

Drucksache 16/8917 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

durch die rechtsverbindliche Charta der Grundrechte wurden
als positive Neuerungen gewürdigt. Unter dem Aspekt der
Transparenz wurde allerdings bemängelt, dass der Vertrag
gegenüber dem Verfassungsvertrag deutlich schwerer lesbar
und weniger leicht verständlich sei.

Hinsichtlich der Werte und Ziele der Europäischen Union
wurde teilweise vertreten, es sei zu einer gewissen Verschie-
bung gekommen: Soziale Ziele seien gegenüber dem Ziel
eines unverfälschten Wettbewerbs stärker in den Vorder-
grund gerückt worden.

Die Kompetenzen der Europäischen Union würden insge-
samt maßvoll weiterentwickelt, insbesondere durch die im
Verfassungsvertrag noch nicht enthaltene Zuständigkeit für
Energie- und Klimaschutzpolitik. Zugleich werde die
Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten verbessert. Ein Sachverständiger
zweifelte allerdings daran, dass der Vertrag angesichts der
verschiedenen Flexibilitäts- und Brückenklauseln einen aus-
reichenden Schutz gegen eine „schleichende Zentralisie-
rung“ biete, rügte einen hohen Anteil rein deklaratorischer
Aussagen in der Grundrechtecharta und bedauerte, dass kei-
ne Volksbefragung über den Vertrag stattfinden werde.

Die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen institutionellen
Reformen wurden von den Sachverständigen überwiegend
als großer Fortschritt bewertet. Die Handlungsfähigkeit
einer Europäischen Union der 27 Mitgliedstaaten werde ent-
scheidend verbessert. Hervorgehoben wurden insbesondere
die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen auf künftig
etwa 80 Bereiche, die Stärkung des Europäischen Parla-
ments durch das Mitentscheidungsverfahren und größere
Befugnisse im Haushaltsverfahren, die Stärkung der Euro-
päischen Kommission und ihres Präsidenten, die Schaffung
eines Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik
und die Stärkung des Europäischen Rates. Die Frage des
künftigen institutionellen Gleichgewichts zwischen den ver-
schiedenen Organen der Union lasse sich angesichts der
zahlreichen Neuerungen noch nicht abschließend beurteilen.
Viel hänge von den Persönlichkeiten ab, die für die neuen
Ämter ausgewählt würden. Ein Sachverständiger kritisierte,
die im Vertrag vorgesehene Bürgerinitiative sei kein direkt
demokratisches Instrument. Auch werde das Europäische
Parlament in Zukunft keineswegs zu einem richtigen Parla-
ment werden, das in eigener Verantwortung Gesetze erlassen
und abändern könne. Ihm fehle das Initiativrecht. Dem wur-
de mit dem Hinweis entgegengetreten, die Institutionen der
Europäischen Union dürften nicht am Maßstab nationaler
Verfassungen gemessen werden, weil der Vertrag von Lissa-
bon nicht zum Ziel habe, einen europäischen Staat zu schaf-
fen. Unterschiedlich wurde bewertet, ob die geplante Ver-
kleinerung der Kommission zu einer Stärkung oder
Schwächung führen werde. Einerseits könne sich die Hand-
lungsfähigkeit des Gremiums erhöhen, andererseits könne
ihre Legitimation leiden, wenn nicht jeder Mitgliedstaat mit
einem eigenen Staatsangehörigen vertreten sei. Auch Pro-
bleme der zunehmenden Größe anderer Institutionen wie Rat
und Europäischer Gerichtshof und die Frage der Sprachen-
vielfalt blieben ungelöst.

Mehrere Sachverständige betonten, dass das künftige Ver-
fahren der doppelten Mehrheit für Mehrheitsentscheidungen

Deutschland auswirken werde. Es sei bedauerlich, dass die
Geltung des neuen Verfahrens zeitlich aufgeschoben und
durch zahlreiche Sonderregelungen relativiert werde.

Unter dem Aspekt der demokratischen Legitimation der
Europäischen Union wurde auch die Einbindung der natio-
nalen Parlamente in die Entscheidungsverfahren der Euro-
päischen Union hervorgehoben. Diese sei gegenüber dem
Verfassungsvertrag nochmals erweitert worden. Zu den Fort-
schritten wurde neben dem Frühwarnmechanismus zur
Subsidiaritätsprüfung auch das Widerspruchsrecht bei der
Anwendung der Brückenklauseln gezählt. Eine effektive
Nutzung des Frühwarnmechanismus setze allerdings eine
enge Kooperation zwischen den nationalen Parlamenten der
Mitgliedstaaten voraus. Auch sei die Reichweite des Subsi-
diaritätsprinzips noch nicht ausreichend geklärt, um die Effi-
zienz des neuen Mechanismus abschließend beurteilen zu
können. Es wurde darauf hingewiesen, dass auf die nationa-
len Parlamente mit den neuen Rechten auch eine gesteigerte
politische Verantwortung für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union zukommen werde.

Im Rahmen der Beratungen in der 58. Sitzung des Ausschus-
ses am 9. April 2008 erinnerte der Abgeordnete Michael
Stübgen (CDU/CSU) daran, dass sich der Ausschuss seit ge-
raumer Zeit intensiv mit der Reform der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union befasse. Insbesondere
habe der Ausschuss die Beratungen im sog. Verfassungs-
konvent und die Regierungskonferenz, die den Entwurf des
Verfassungsvertrags erarbeitet habe, umfassend parlamen-
tarisch begleitet. Im Rahmen der Expertengespräche seien
viele Aspekte des Vertrags von Lissabon ausführlich be-
leuchtet worden. Für die herausragende Organisation und
Qualität bedanke er sich ausdrücklich. Die Fraktion der
CDU/CSU begrüße nachdrücklich auch die fast einstimmige
Empfehlung der Sachverständigen, den Vertrag von Lissa-
bon zu ratifizieren. Die Fraktion der CDU/CSU lege beson-
deren Wert darauf, dass die Anwendung des Subsidiaritäts-
prinzips durch die Organe der Europäischen Union künftig
vom Deutschen Bundestag kontrolliert werden könne. Da
die Prüffragen zur Subsidiarität im Vertrag von Lissabon
jedoch schwächer ausformuliert seien, als dies noch im
Amsterdamer Subsidiaritätsprotokoll der Fall gewesen sei,
sei eine aktive Wahrnehmung der Subsidiaritätsprüfung
durch die nationalen Parlamente noch wichtiger geworden.
Ihm liege daran deutlich zu machen, dass der Prüfauftrag der
nationalen Parlamente zur Subsidiarität notwendigerweise
auch die Prüfung der Rechtsgrundlage einschließe, auf der
der jeweilige Rechtsetzungsvorschlag beruhe. Der Ab-
geordnete Thomas Silberhorn (CDU/CSU) führte ergänzend
aus, dass auch aus seiner Sicht die Subsidiaritätsfrage von
der Kompetenzfrage nicht zu trennen sei. Vielmehr sei die
Klärung der Kompetenzfrage eine unverzichtbare Vorfrage
zur sachgerechten Entscheidung, ob das Subsidiaritätsprin-
zip eingehalten und die Verhältnismäßigkeit gewahrt seien.
Wer frage, wie eine Kompetenz der Europäischen Union
auszuüben sei, müsse zuerst die Frage beantworten, ob es
eine Kompetenz gebe. Sollte der Europäische Gerichtshof in
absehbarer Zukunft einmal über eine Subsidiaritätsklage zu
entscheiden haben, müsse man erwarten, dass er in dem Zu-
sammenhang die eigenständige Rolle und Mitverantwortung
im Rat die demokratische Legitimation der Europäischen
Union erhöhe und sich positiv für die Bundesrepublik

der nationalen Parlamente für die Europäische Integration
angemessen berücksichtige.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 13 – Drucksache 16/8917

Der Abgeordnete Michael Roth (Heringen) (SPD) bekräftigte
die Nützlichkeit der Expertengespräche zum Vertrag von Lis-
sabon, die trotz der ausführlichen Befassung des Ausschusses
mit dem Vertrag während seiner Erarbeitung neue Aspekte
aufgezeigt hätten. Er sprach sich dafür aus, die parlamenta-
rische Beratung über das Zustimmungsgesetz zu Klarstellun-
gen zu nutzen und einer verzerrenden öffentlichen Dar-
stellung des Vertrags entgegenzutreten. So werde die
Bundeswehr auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissa-
bon eine „Parlamentsarmee“ bleiben: Für jeden Einsatz der
Bundeswehr im Ausland sei nach Auffassung der SPD wei-
terhin die Zustimmung des Deutschen Bundestages erforder-
lich. Der Vertrag eröffne die Möglichkeit, dass die schrittwei-
se Entwicklung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik in
einer gemeinsamen Verteidigung münde, sobald der Euro-
päische Rat dies einstimmig beschließe. Der Vertrag empfeh-
le den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im
Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu er-
lassen. Für Deutschland bedeute dies eine Ratifikation mit
verfassungsändernden Mehrheiten durch Bundestag und
Bundesrat. Die Solidaritätsklausel des Vertrags von Lissabon
ändere nichts daran, dass Streitkräfte im Innern der Bundes-
republik Deutschland nur in den vom Grundgesetz vorgese-
henen Fällen eingesetzt werden können.

Der Abgeordnete Michael Link (Heilbronn) (FDP) betonte,
dass der Vertrag von Lissabon das Ergebnis eines langen
Prozesses, aber nicht das Ende der Reformbemühungen sei.
Die Fraktion der FDP bemängele, dass die Frage der Kom-
petenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten
nicht so klar geregelt worden sei wie im Verfassungsvertrag.
Bedauerlich sei außerdem, dass der Vertrag von Lissabon
keine Definition des Subsidiaritätsprinzips vorsehe, wie sie
in dem Protokoll zum Amsterdamer Vertrag über die An-
wendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhält-
nismäßigkeit enthalten sei. Eine klärende Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs sei daher notwendig. Außer-
dem hänge viel davon ab, wie die neuen Regelungen des Ver-
trags von Lissabon zur Subsidiaritätskontrolle durch die
nationalen Parlamente genutzt würden. Er hoffe, dass es
künftig denkbar sei, dass sich die jeweiligen Mehrheitsfrak-
tionen im Hinblick auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprin-
zips auch gegenüber der Bundesregierung kritisch äußerten.
Insgesamt sei der Vertrag von Lissabon gegenüber dem Ver-
fassungsvertrag nur die zweitbeste Lösung, aber besser als
der gegenwärtige Rechtszustand.

Der Abgeordnete Dr. Diether Dehm (DIE LINKE.) vertrat
die Ansicht, der Vertrag ziele mit dem an die Mitgliedstaaten
gerichteten Aufrüstungsgebot und der Schaffung einer Euro-
päischen Verteidigungsagentur auf eine Militarisierung nach
Außen und im Innern. Das gelte auch für die Ständige Struk-
turierte Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung. Auch
mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Be-
reich der Verteidigung werde der Militarisierung der EU
Vorschub geleistet. Staatlichen Konjunktur- und Struktur-
programmen werde durch die Stabilitätsorientierung der
Wirtschafts- und Währungsunion und durch das Wettbe-
werbsrecht der Europäischen Union ein Riegel vorgescho-
ben. Soziale Zielsetzungen würden den Grundfreiheiten des
Binnenmarktes untergeordnet. Der Vertrag von Lissabon

Demokratisierung der Europäischen Union bleibe unvoll-
ständig, denn das Europäische Parlament erhalte kein Initia-
tivrecht im Rahmen der Rechtsetzung der Europäischen
Union und kein wirkliches Wahlrecht bei der Bestellung des
Präsidenten der Europäischen Kommission. Die Schaffung
der Ämter des Hohen Vertreters und des Präsidenten des
Europäischen Rates führe zu Kompetenzvermischung, Bür-
gerferne und Zentralisierung. Der Abgeordnete Alexander
Ulrich (DIE LINKE.) rügte den „ignoranten“ Umgang der
anderen Fraktionen mit den Ergebnissen der Volksabstim-
mungen in Frankreich und den Niederlanden, zumal der
Vertrag von Lissabon einen Großteil des dort abgelehnten
Verfassungsvertrags übernehme. Der Vertrag solle an der
Bevölkerung vorbei in Kraft gesetzt werden. Im Vertrag von
Lissabon fehlten eine Sozialklausel oder ein Sozialprotokoll
und der Begriff der Sozialstaatlichkeit. Wer gegen den Ver-
trag von Lissabon Verfassungsklage erhebe, sei nicht not-
wendig gegen die Europäische Union, sondern für „ein ande-
res Europa“. Eine Entscheidung des Bundestages für den
Vertrag von Lissabon erfolge gegen die Mehrheit in der Be-
völkerung.

Der Abgeordnete Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) vertrat die Auffassung, dass der Prozess der Ver-
tragsreform noch nicht abgeschlossen sei. Die Sachverstän-
digen hätten mit ihrem Hinweis auf die mögliche Auswei-
tung der Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich
des materiellen Strafrechts die Frage einer angemessenen
parlamentarischen Absicherung der künftigen Justiz- und In-
nenpolitik der Europäischen Union aufgeworfen. Wenn es zu
einer Verschiebung von Zuständigkeiten zu Lasten der na-
tionalen Parlamente komme, müsse eine Mitentscheidungs-
möglichkeit des Bundestages gewährleistet werden. Die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GÜNEN werde dies sorgfältig
prüfen. Zudem wendete er sich gegen die von der Fraktion
DIE LINKE. vorgeschlagene Grundgesetzänderung, die nur
darauf abziele, den Vertrag von Lissabon zu verhindern. Er
betonte die Unterstützung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN für eine Stärkung direkter Demokratie, wenn das
Grundgesetz insgesamt geändert würde, und wies auf den
Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hierzu
hin. Die populistische Anti-EU-Kampagne der Fraktion DIE
LINKE. erfahre von den Grünen jedoch keine Unterstüt-
zung.

Zu der 59. Sitzung am 23. April 2008 legten die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD einen Antrag vor (Ausschussdruck-
sache 16(21) 545). Dieser Antrag wurde mit den Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN bei Stimmenthaltung der Fraktion der FDP ange-
nommen. Der Antrag wurde als Nummer 2 in die Beschluss-
empfehlung aufgenommen.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legte zu dieser
Sitzung ebenfalls einen Antrag vor (Ausschussdrucksache
16(21) 547), der mit den Stimmen der Fraktionen CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der
Fraktion DIE LINKE. abgelehnt wurde.

Im Anschluss an die Aussprache hat der Ausschuss für die

schaffe eine „Festung Europa“, indem er eine Abschottung
gegen Asylsuchende und Zuwanderung sanktioniere. Die

Angelegenheiten der Europäischen Union in der 59. Sit-
zung am 23. April 2008 mit den Stimmen der Fraktionen

Drucksache 16/8917 – 14 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. empfohlen,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/8300 anzunehmen.

Berlin, den 23. April 2008

Michael Stübgen
Berichterstatter

Michael Roth (Heringen)
Berichterstatter

Markus Löning
Berichterstatter

Dr. Diether Dehm
Berichterstatter

Rainder Steenblock
Berichterstatter

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