BT-Drucksache 16/8813

Auswirkungen des § 4 Satz 2 des Asylverfahrensgesetzes auf die Wahrnehmung des Rechts auf Asyl

Vom 11. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8813
16. Wahlperiode 11. 04. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen des § 4 Satz 2 des Asylverfahrensgesetzes auf die Wahrnehmung
des Rechts auf Asyl

Nach § 4 Satz 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) sind die Oberlandesge-
richte bei der Entscheidung über die Auslieferung ausländischer Staatsangehö-
riger nicht an die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) über die Anerkennung von Asyl, Flüchtlings- oder Abschiebungs-
schutz gebunden. Dies kann dazu führen, dass anerkannte Asylbewerberinnen
und Asylbewerber bzw. Flüchtlinge in den Staat abgeschoben werden, vor des-
sen Verfolgung sie gerade geschützt werden sollen.

Im Auftrag der deutschen Sektion von pro asyl hat der Salzburger Rechtspro-
fessor Dr. Otto Lagodny ein Gutachten erstellt, das die damit verbundenen ver-
fassungs-, europa- und völkerrechtlichen Probleme behandelt. Das Ergebnis
lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Recht auf Asyl bzw. eine Flücht-
lingsanerkennung führen zwingend zu einem Aufenthaltsstatus für die Betrof-
fenen. Da die Auslieferungsentscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) in die-
sen Aufenthaltsstatus eingreift, ist damit die Schutzgewährung in ihrem Kern
betroffen. Das Gutachten stellt klar, dass „die Zulässigkeitserklärung der Aus-
lieferung nicht mehr und nicht weniger als die faktische Ablehnung des Asyl-
antrages durch das OLG“ bedeutet (a. a. O., S. 56). Will das OLG nicht rechts-
widrig handeln, muss es daher die Asylberechtigung selbst noch einmal prüfen,
um über das Auslieferungsersuchen entscheiden zu können.

In der Praxis verzichten die Oberlandesgerichte aber auf diese aufwändige Prü-
fung, da im Fall von anerkannten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und
Flüchtlingen meist schon andere Gründe gegen eine Auslieferung ins Her-
kunftsland sprechen; oder sie schließen sich verwaltungsgerichtlichen Ent-
scheidungen über die Gewährung von Asyl bzw. Flüchtlingsschutz an. Davon
unberührt bleibt aber der massive Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen,
denn oft befinden sie sich zunächst monatelang in Auslieferungshaft, bevor das
zuständige OLG entscheidet.

Unbeachtet blieb in dem Gutachten der zweite Teilsatz der genannten Regelung
aus dem AsylVfG. Dieser bestimmt, dass die Asylentscheidung auch bei einer
Entscheidung über eine Ausweisung wegen Terrorismusverdachts (§58a des
Aufenthaltsgesetzes) nicht verbindlich sein soll. Letztlich gelten diesbezüglich

aber ganz ähnliche Bedenken; hinzu kommt, dass anerkannten Asylbewerberin-
nen und Asylbewerbern genau aus den Gründen im Heimatland Folter und
unmenschliche Behandlung drohen, aus denen sie in der Bundesrepublik
Deutschland als „Gefährder“ gelten (beispielsweise angebliche Betätigung für
PKK/KONGRA-GEL etc.).

Drucksache 16/8813 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Auslieferungsersuchen wurden im Jahr 2007 von Nicht-EU-Staa-
ten an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet (bitte nach Staaten auflis-
ten)?

2. Von welchen Nicht-EU-Staaten lässt sich die Bundesrepublik Deutschland
vor Auslieferung Zusagen geben, dass

a) die Beschuldigten dort nicht der Folter oder unmenschlicher Behandlung
ausgesetzt werden,

b) das angestrebte Gerichtsverfahren den Anforderungen an Fairness und
Rechtsstaatlichkeit entsprechen wird,

c) nicht die Todesstrafe verhängt oder vollstreckt wird,

und welche Mechanismen bestehen, um die Umsetzung solcher Zusagen zu
kontrollieren und durchzusetzen?

3. In wie vielen Fällen waren in den Jahren 2002 bis 2007 nach Kenntnis der
Bundesregierung von Auslieferungsverfahren Personen mit Asyl- oder
Flüchtlingsstatus oder Abschiebungsschutz betroffen (bitte nach den ersu-
chenden Staaten und nach Jahren getrennt auflisten)?

4. In wie vielen Fällen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung 2002 bis
2007 Personen in Auslieferungshaft genommen, die anerkannte Flüchtlinge,
Asylberechtigte oder Menschen waren, bei denen Abschiebungshindernisse
nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) festge-
stellt wurden (bitte nach Jahren und Staatsangehörigkeit auflisten)?

5. Ist der Bundesregierung das in der Vorbemerkung in Bezug genommene
Gutachten von Prof. Dr. Otto Lagodny bekannt, und welche Einschätzung
vertritt sie zu den hier vertretenen Positionen, insbesondere

a) zur Unvereinbarkeit der Unerheblichkeit der Entscheidung im Asylver-
fahren für Auslieferungsverfahren mit dem Grundgesetz,

b) zur Unvereinbarkeit der Unerheblichkeit der Entscheidung im Asylver-
fahren für Auslieferungsverfahren mit dem Europarecht, insbesondere
der Qualifikationsrichtlinie und der Aufnahmerichtlinie,

c) zur Unvereinbarkeit der Unerheblichkeit der Entscheidung im Asylver-
fahren für Auslieferungsverfahren mit der Genfer Flüchtlingskonven-
tion?

6. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine Liste mit 60 Perso-
nen, deren Auslieferung die Türkei anstrebe, und auf der sich auch in der
Bundesrepublik Deutschland anerkannte Flüchtlinge befinden sollen (Mel-
dung des epd vom 13. März 2008)?

Welchen Organisationen gehören diese Personen gegebenenfalls an?

7. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass es sich bei jenen den
Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Tatvorwürfen in den meisten
Fällen genau um solche Tatbestände handelt, die einst zur Asyl- bzw. Flücht-
lingsanerkennung bzw. zur Feststellung sonstiger Abschiebungshindernisse
(Gefahr der Folter, unfairer Gerichtsverfahren usw.) geführt haben?

8. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von Versuchen der türkischen
Regierung, gemeinsam mit der US-amerikanischen Regierung bei den EU-
Staaten die Auslieferung von Asylberechtigten bzw. anerkannten Flüchtlin-
gen zu erwirken (vgl. Pressemitteilung der Informationsstelle Kurdistan
vom 20. Februar 2008), und war sie selbst an solchen Gesprächen beteiligt?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8813

9. In wie vielen Fällen ist seit seiner Einführung vom § 58a AufenthG
Gebrauch gemacht worden, und in wie vielen dieser Fälle waren davon
Asylberechtigte oder Flüchtlinge oder Personen mit menschenrechtlichem
Abschiebungsschutz betroffen (bitte nach Jahren und Herkunftsstaaten auf-
listen)?

Berlin, den 10. April 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.