BT-Drucksache 16/8722

Bewertung des Dublin-Systems und Möglichkeiten der zeitweisen Aussetzung des Dublin-Verfahrens

Vom 4. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8722
16. Wahlperiode 04. 04. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen und der Fraktion DIE LINKE.

Bewertung des Dublin-Systems und Möglichkeiten der zeitweisen Aussetzung
des Dublin-Verfahrens

Um zu verhindern, dass Schutzsuchende in der EU in mehreren Staaten Asyl-
anträge stellen, wurde mit dem Dubliner Übereinkommen von 1990 bzw. mit
der sogenannten Dublin-II-Verordnung von 2003 das „One-chance-only“-Prin-
zip eingeführt. Demnach dürfen Asylsuchende und Flüchtlinge nur in einem
Land der EU einen Antrag auf Asyl stellen. Dies ist in der Regel dasjenige
Land, über das sie in die EU eingereist sind bzw. das für ihre Einreise „verant-
wortlich“ ist. Dieses Verfahren basiert auf der Annahme, dass in allen EU-Län-
dern zumindest vergleichbare Bedingungen und Chancen im Asylverfahren be-
stünden und dass alle EU-Mitgliedstaaten sichere Aufnahmeländer seien, die
ein effektives und faires Asylverfahren garantierten.

Die Asylpraxis innerhalb der EU weicht allerdings ungeachtet der bisherigen
Harmonisierungsbestrebungen weit voneinander ab, wie beispielhaft die unter-
schiedlichen Anerkennungsquoten in Bezug auf russische (tschetschenische)
Flüchtlinge illustrieren, die im Jahr 2005 von 83,3 Prozent in Dänemark, über
14,5 Prozent in Deutschland bis hin zu Null Prozent in der Slowakei reichten
(Angaben der Kommission im Grünbuch über das künftige Europäische Asyl-
system vom 6. Juni 2007, S. 28).

Auch können nicht alle EU-Mitgliedstaaten als „sichere“ Länder betrachtet
werden, wie das aktuelle Beispiel Griechenlands zeigt. Bereits vor Monaten be-
richtete PRO ASYL über die Praxis der griechischen Küstenwacht, Boots-
flüchtlinge, die von türkischer Seite der Agäis übersetzen, in türkisches Gewäs-
ser zurückzudrängen und ihre Schlauchboote so zu zerstören, dass sie keinen
weiteren Versuch zur Überfahrt riskieren können („The truth may be bitter, but
it must be told“, Oktober 2007, Ausschussdrucksache 16(4)281). Griechenland
interniert Asylsuchende, unter ihnen besonders schutzbedürftige Personen,
offenbar regelmäßig – und damit völker- und menschenrechtswidrig. Auch das
Non-Refoulement-Gebot werde von Griechenland missachtet, so PRO ASYL.
Dieser Bericht wurde jüngst durch einen weiteren Vorfall bestätigt, den die tür-
kische Küstenwache dokumentiert hat (AFP vom 9. Januar 2008).

Der Bericht der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems vom 6. Juni
2007 stellt fest, dass zumindest ein Mitgliedstaat der EU den Grundsatz eines

effektiven Zugangs zum Asylverfahren „unter bestimmten Umständen“ ver-
letze (a. a. O., 2.3.1., S. 6). Dieser Bericht wurde in der 58. Sitzung des Innen-
ausschusses des Deutschen Bundestages am 17. Januar 2008 debattiert, jedoch
sind zahlreiche Fragen offen geblieben. Umstritten war zum Beispiel das so-
genannte Selbsteintrittsrecht nach Artikel 3 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-II-Ver-
ordnung, das es Mitgliedstaaten ermöglicht, sich abweichend von den üblichen
Regelungen für „zuständig“ zu erklären. DIE LINKE. kritisierte zudem das

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Grundprinzip der Dublin-Zuständigkeitsregelung, das insbesondere die Länder
im Süden und Osten der EU einseitig belaste und im Ergebnis verschärfte Ab-
schottungsmaßnahmen und auch völkerrechtswidrige Grenzabweisungen be-
günstige. Auch das Europäische Parlament fordert in seiner Entschließung vom
6. April 2006 (EuB-EP 1335) eine Änderung des Grundprinzips der Dublin-
Verordnung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sind der Bundesrepublik Fälle bekannt, in denen Staaten, für die das Dubli-
ner Übereinkommen bzw. die Verordnung (EG) 343/2003 gilt, keine Über-
stellungen in andere Mitgliedstaaten vorgenommen haben, weil den Betrof-
fenen dort eine effektive Prüfung der Flüchtlingseigenschaft oder z. B. die
erforderliche medizinische/therapeutische Behandlung verweigert werden
könnte, und wenn ja, welche in Bezug auf welche Länder, und zu welchem
Zeitpunkt?

2. Ist der Bundesregierung bekannt, dass der norwegische „Immigration
Appeal Board“ am 7. Februar 2008 entschieden hat, keine Überstellungen
von Flüchtlingen nach Griechenland mehr vorzunehmen?

a) Aus welchen anderen Staaten im Geltungsbereich des Dubliner Überein-
kommens bzw. der Verordnung (EG) 343/2003 sind der Bundesregierung
gleichlautende Beschlüsse oder Planungen hierfür bekannt?

b) Wird sich die Bundesregierung dieser Entscheidung anschließen (bitte
begründen)?

3. Unter welchen Umständen wäre die Bundesregierung bereit, auf Überstel-
lungen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-Verfahrens zu verzichten?

War der von PRO ASYL vorgelegte Bericht Anlass für eine entsprechende
Prüfung der gängigen Überstellungspraxis, wenn ja, mit welchem Ergebnis,
wenn nein, warum nicht?

4. Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung ansonsten aus dem Bericht von
PRO ASYL im Hinblick auf

a) den Reformbedarf hinsichtlich der Lastenverteilung in der EU-Flücht-
lingspolitik in Richtung auf eine Entlastung der Staaten mit einer Schen-
gen-Außengrenze,

b) das EU-Grenzregime und seine Prioritätensetzung auf die Verhinderung
der Einreise auch von möglichen Flüchtlingen (sogenannter Bekämpfung
illegaler Einwanderung)?

5. Für wie viele neu eingereiste Asylsuchende war die Bundesrepublik
Deutschland in den Jahren 1995 bis heute jährlich jeweils zuständig (d. h.
unter Berücksichtigung der Zu- und Abgänge innerhalb des Dublin-Sys-
tems)?

a) Wie viele Asylsuchende waren dies jährlich pro 100 000 Einwohner?

b) Wie hoch war der jeweilige Durchschnittsvergleichswert aller EU-Mit-
gliedstaaten?

6. Wie viele Asylsuchende sind gemäß der Dublin-II-Verordnung seit 2004
jährlich von der Bundesrepublik nach Griechenland zurückgeschoben/über-
stellt worden (bitte auch nach den 5 Hauptherkunftsstaaten der Asylsuchen-
den differenziert angeben)?

7. Auf welches Land bezieht sich die Aussage in dem Dublin-Evaluierungsbe-
richt der Kommission (Punkt 2.3.1.), „nach Kenntnis der Kommission
nimmt einer der Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen bei der Wie-

deraufnahme von Asylbewerbern aus anderen Mitgliedstaaten jedoch keine
solche Prüfung [des Schutzbedarfs] vor“?

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a) Bedeutet dies nicht – in anderen Worten –, dass zumindest ein Mitglied-
staat der EU nach Auffassung der Kommission nicht als „sicherer Dritt-
staat“ erachtet werden kann?

b) Welches sind die „bestimmten Umstände“, in denen der besagte Mit-
gliedstaat gegen das Flüchtlingsvölkerrecht und gegen die Dublin-II-
Verordnung verstößt?

c) Wurden die Mitgliedstaaten darüber informiert, dass Überstellungen an
den besagten Mitgliedstaat zumindest bis auf weiteres oder „unter be-
stimmten Umständen“ zu unterlassen sind?

Wenn ja, wann und in welcher Form und hat sich die Bundesregierung
an eine solche etwaige Empfehlung gehalten?

Wenn nein, ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Kommis-
sion zu einer solchen Information verpflichtet gewesen wäre (bitte be-
gründen)?

d) Falls der Bundesregierung das besagte Land nicht bekannt sein sollte,
warum hat sie sich diese Kenntnis nicht verschafft, ist doch durch den
Dublin-Evaluationsbericht der Kommission offenbar geworden, dass
Überstellungen in dieses Land mit der Gefahr völkerrechtswidriger Ket-
tenabschiebungen verbunden sind?

e) Ist der Bundesregierung bekannt, ob die Kommission gegen den besag-
ten Mitgliedstaat oder auch gegen Griechenland ein Vertragsverlet-
zungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Non-Refoulement-Gebot
eingeleitet hat oder aus welchen Gründen die Kommission einen sol-
chen Schritt gegebenenfalls unterlässt?

f) Wird sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten für ein
solches Vertragsverletzungsverfahren stark machen, und wenn nein,
warum nicht?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, es sei ein „Gebot des gegenseiti-
gen Respekts“, die Menschenrechtslage in anderen EU-Mitgliedstaaten
nicht zu bewerten, wie sie vom Parlamentarischen Staatssekretär Altmaier
am 23. Januar 2008 im Innenausschuss des Deutschen Bundestages vertre-
ten wurde?

Wenn ja, gilt in der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung generell,
dass diplomatische Rücksichtnahmen wichtiger sind als die Durchsetzung
von Menschenrechten (bitte begründen)?

9. Welche Mechanismen und Verfahren sind im Allgemeinen vorgesehen, um
prüfen und feststellen zu können, ob die zentrale Annahme der Dublin-II-
Verordnung, alle EU-Mitgliedstaaten seien „sichere“ Staaten, in der Reali-
tät auch zutrifft, und welche Prüfungen wurden konkret unternommen, ins-
besondere in Bezug auf den im Evaluierungsbericht der Kommission be-
nannten Mitgliedstaat bzw. in Bezug auf Griechenland,

a) auf europäischer Ebene,

b) auf nationaler (deutscher) Ebene?

10. Wie steht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang zu der Forderung
des UNHCR („The Dublin II Regulation – A UNHCR Discussion Paper“,
April 2006), wonach die Unterzeichnerstaaten durch Änderung der Dublin-
II-Verordnung dazu verpflichtet werden sollen, die strikte Beachtung des
refoulement-Verbots in der Überstellungspraxis sicherzustellen?

11. Welchen Regelungsbedarf sieht die Bundesregierung für die Fälle, in denen

die Betroffenen nach einer Rücküberstellung im Dublin-Verfahren im Erst-
asylland keinen effektiven Zugang zu einem Prüfverfahren (mehr) haben,

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z. B. weil ein dort begonnenes Asylverfahren aus dem formalen Grund der
Abwesenheit der Betroffenen beendet wurde und ein Wiederaufgreifen
nicht möglich ist?

12. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass Regierungs-
mitglieder und Staatssekretäre auf Äußerungen wie „Asyltourismus macht
keinen Sinn“ verzichten sollten, um den Anschein zu vermeiden, bei der
von Angst, Not, Gefahr, Freiheitseinschränkungen usw. geprägten Flucht
und Asylsuche handele es sich um ein „touristisches Vergnügen“ (bitte be-
gründen)?

a) Erscheint angesichts der höchst unterschiedlichen Anerkennungsquoten
innerhalb der EU (z. B. bei Tschetschenen zwischen 0 Prozent und
86 Prozent) der Versuch eines Wechsels des Aufnahmestaates aus Sicht
der Betroffenen nicht vielmehr als sehr „sinnvoll“ (bitte begründen)?

b) Sollte das Dublin-System nachvollziehbare Gründe (etwa: familiäre,
sprachliche, kulturelle Bindungen) für die Auswahl eines speziellen
Aufnahmelandes grundsätzlich berücksichtigen, auch um ungewollte
Binnenwanderungen Asylsuchender zu vermeiden, und wenn ja, wie
sollte das geschehen, wenn nein, warum nicht?

13. Wie steht die Bundesregierung zu den von der Kommission im Evaluie-
rungsbericht vorgeschlagenen Änderungen der Dublin-Verordnung, insbe-
sondere hinsichtlich:

a) der Erleichterung von Familienzusammenführungen und der Auswei-
tung der Verordnung auf Anträge auf subsidiären Schutz,

b) der verstärkten Beachtung des Kindeswohls,

c) der Vermeidung von Inhaftierungen („letztes Mittel“),

d) der Ermöglichung von „Annulierungsregelungen“ (Verzicht auf Über-
stellungen bei vergleichbaren Zahlen)?

14. Gehört die Bundesrepublik zu denjenigen Staaten, die laut Evaluierungs-
bericht der Kommission im Falle unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
darauf verzichten, den Staat des ersten Asylantrags um Wiederaufnahme zu
ersuchen, wenn nein, warum nicht?

15. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zur Forderung nach einer
europäischen Regelung zur Teilung der Verantwortung ein, die den Schutz-
suchenden die Wahl ihres Zufluchtslandes überlässt und die für einen
gerechten Ausgleich vor allem auf der finanziellen Ebene sorgt, statt
Schutzsuchende gegen ihren Willen und mit Gewalt in Europa hin und her
zu schieben (bitte begründen)?

16. Gibt es bei den zuständigen Behörden Weisungen/Regelungen, die sich mit
der Anwendung des Selbsteintrittsrechts bzw. der humanitären Klausel der
Dublin-Verordnung befassen, wenn nein, warum nicht, wenn ja, was sind
die wesentlichen Eckpunkte dieser Weisungen?

a) Welche Regelungen gibt es insbesondere in Bezug auf den Vortrag
Traumatisierter, dass eine in Deutschland bereits begonnene psycho-
therapeutische Behandlung abgebrochen werden müsste und vergleich-
bare Angebote im Zielstaat der Überstellung nicht oder nicht in ver-
gleichbarem Umfang gegeben seien?

b) Welche Regelungen sind vorgesehen in Fällen, in denen Zweifel an der
Sicherheit eines EU-Mitgliedstaats entstanden sind?

c) Welches Verfahren ist vorgesehen, in denen humanitäre Gründe (vor al-

lem familiäre Bindungen) geltend gemacht werden, angesichts des Um-

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standes, dass seit dem Richtlinienumsetzungsgesetz kein effektiver
Rechtsschutz im Dublin-Verfahren mehr vorgesehen ist?

17. Wie viele Überstellungen durch Deutschland im Rahmen der Dublin-II-
Verordnung hat es seit 2004 jährlich gegeben (bitte jeweils auch die fünf
stärksten Herkunftsländer und den Anteil der minderjährigen Betroffenen
angeben)?

a) Welches waren jeweils die fünf stärksten „Empfängerländer“, und wie
hoch waren die Zahlen?

b) Prozentual wie viele dieser Überstellungen jährlich erfolgten unter An-
wendung unmittelbaren Zwangs?

c) In prozentual wie vielen dieser Überstellungen wurden die Betroffenen
zwischenzeitlich inhaftiert?

d) Wie lang war jährlich jeweils die durchschnittliche Zeit von der Asyl-
antragstellung in Deutschland bis zur Überstellung in den zuständigen
Dublin-Staat?

e) Wie viele geplante Überstellungen konnten jährlich aus welchen Grün-
den nicht durchgeführt werden?

f) Warum wird zwar die Zahl der Fälle erfasst, in denen die Bundesrepu-
blik von Überstellungen aus humanitären Gründen absieht (Artikel 15
der Dublin-Verordnung), nicht aber die Zahl der Selbsteintritte nach
Artikel 3 Abs. 2 der Dublin-Verordnung (vgl. Bundestagsdrucksache
16/7374, S. 8), und wie hoch schätzt die Bundesregierung bzw. das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Zahl der Selbsteintritte
ein (etwa: keine, wenige Einzelfälle, bis Hundert, über Hundert Fälle im
Jahr)?

18. Hat die Bundesregierung die Kommission über die nach Beendigung der
Evaluierung des Dublin-Systems erfolgten Änderungen durch das EU-
Richtlinienumsetzungsgesetz informiert, insbesondere über den Umstand,
dass

a) Asylsuchenden kein effektives Rechtsschutzmittel gegen eine Über-
stellungsentscheidung im Rahmen des Dublin-Verfahrens mehr zur
Verfügung steht (etwa, um den Regelanspruch auf Familienzusammen-
führung einklagen zu können)?

b) Inhaftierungsmöglichkeiten von Asylsuchenden im Dublin-Verfahren
zeitlich ausgeweitet und erleichtert wurden?

19. Wie ist die von der Kommission geplante Aufgabe der Zweckbindung der
EURODAC-Daten und ihre geplante Zurverfügungstellung unter anderem
für „Strafverfolgungszwecke“ (Dublin-Evaluierungsbericht der Kommis-
sion, S. 12) mit deutschen Verfassungs- und Datenschutzbestimmungen
vereinbar, und welche Position nimmt die Bundesregierung hierzu ein?

Berlin, den 25. März 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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