BT-Drucksache 16/8720

Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien und Praxisprobleme beim Umgang mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz

Vom 4. April 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8720
16. Wahlperiode 04. 04. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien und Praxisprobleme
beim Umgang mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz

Die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien erfolgte durch Deutschland
sehr schleppend. Von der EU-Kommission wurde ein Vertragsverletzungsver-
fahren gegen die Bundesrepublik durchgeführt, da die Frist für die Umsetzung
der Richtlinien (2003) nicht eingehalten wurde. Nun hat die EU-Kommission
Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik wegen unzureichender
Umsetzung der Richtlinie 2000/43/EG (Gleichbehandlung aufgrund von Rasse
und ethnischer Herkunft) und wegen Umsetzungsdefiziten bei der Richtlinie
2000/78/EG (Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf) eingeleitet (ver-
gleiche Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der FDP, Bundestags-
drucksache 16/7878). Die mangelhafte Umsetzung der Antidiskriminierungs-
richtlinien wird nicht nur von der EU-Kommission, sondern auch von Personen
und Verbänden gerügt, die im täglichen Umgang mit dem deutschen Recht auf
Schwierigkeiten stoßen.

Zwischenzeitlich hat das Arbeitsgericht Osnabrück festgestellt, dass die Vor-
schriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im konkreten
Fall auf die Kündigung trotz der in § 2 Abs. 4 AGG geregelten Ausnahme
Anwendung finden (vergleiche ArbG Osnabrück vom 5. Februar 2007, Az. 3
Ca 724/06). Zudem hat sich das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Az. 12 Sa
1311/07) mit einem Vorlagebeschluss wegen möglichen Verstoßes gegen § 622
Abs. 2 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) (Mindestalter für eine
Kündigungsfristverlängerung) gegen das Verbot der Altersdiskriminierung an
den Europäischen Gerichtshof gewendet.

Anlässlich des einjährigen Bestehens des AGG, das als Kernstück des geltenden
Antidiskriminierungsrechts in Deutschland bezeichnet werden kann, äußerte der
Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) trotz der grundsätzlichen An-
erkennung der Existenz eines Antidiskriminierungsgesetzes in der Bundesrepu-
blik viel Kritik. Es wurden zahlreiche Mängel benannt, die deutlich machen,
dass die aus der Sicht der EU-Kommission mangelhaft erfolgte Umsetzung ne-
gative Auswirkungen in der Praxis hat (vgl. http://www.antidiskriminierung.org/
?q=Stellungnahme+1). Gesehen werden Barrieren bei der Meldung von Diskri-
minierungsfällen u. a. in den kurzen Fristen zur Geltendmachung der Ansprüche

nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, in den finanziellen Hürden
für die Einzelnen, die ihre Fälle mangels Verbandsklagerecht nicht an andere
Stellen weiterleiten könnten, und in dem mangelnden Zugang zur Rechtsbera-
tung. Des Weiteren wurden die fehlende Beratungsinfrastruktur in der Bundes-
republik Deutschland, die Hierarchisierung im Diskriminierungsschutz, fehlen-
der Diskriminierungsschutz im Bildungsbereich, die unzureichende Beweislast-

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regelung zugunsten der Betroffenen und weitere strukturelle Barrieren
kritisiert.

Auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache
16/8237) antwortete die Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/8461),
dass nach derzeitigem Beratungsstand eine Nachbesserung des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes wohl nicht erforderlich sei. Ähnlich äußerte sich
die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, gegenüber dem Rechtsaus-
schuss. Gegen die Kritik der EU-Kommission wird zum Teil eingewandt, diese
verstünde die deutsche Regelungssystematik nicht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird die Bundesregierung Verbesserungsvorschläge zu den gesetzlichen
Regelungen im AGG vorlegen, wenn ja, welche, wenn nein, warum nicht?

2. Hat die Bundesregierung eine Überprüfung sämtlichen Bundesrechts auf die
Übereinstimmung mit den in der Vorbemerkung der Fragesteller/Fragestel-
lerinnen genannten Richtlinien vorgenommen (bitte detailliert darstellen,
welche konkreten Normen mit welchem Ergebnis geprüft wurden)?

3. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Ausnahme der Beamten/
Beamtinnen und Soldaten/Soldatinnen in eingetragenen Lebenspartner-
schaften von bestimmten Leistungsansprüchen auf Beihilfe, Familienzu-
schlag und Witwen- oder Witwergeld wie von der EU-Kommission unter
Punkt 1 Buchstabe a) des Aufforderungsschreibens K(2008)0103 im Ver-
tragsverletzungsverfahren Nr. 2007/2362 begründet, gegen Artikel 3 Abs. 1
der Richtlinie 200/78/EG verstößt?

4. Sind aus Sicht der Bundesregierung die Vorgaben in Artikel 5 der Richtlinie
200/78/EG umgesetzt, angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behin-
derung zu treffen, obwohl Vorkehrungen im deutschen Recht nur in Bezug
auf schwerbehinderte oder diesen aufgrund behördlicher Entscheidung
gleichgestellten Personen bestehen (bitte begründen)?

5. Wie begründet die Bundesregierung, dass im AGG die Einschränkung aus
Artikel 6 Abs. 2 der Richtlinie 200/78/EG, wonach Altersgrenzen in betrieb-
lichen Systemen sozialer Sicherheit nicht zu Diskriminierungen wegen des
Geschlechts führen dürfen, nicht umgesetzt wurde?

6. Sind nach Auffassung der Bundesregierung die Vorschriften des AGG trotz
der in § 2 Abs. 4 AGG geregelten Ausnahme auf Kündigungen anwendbar
(bitte begründen, warum, oder warum nicht)?

7. Hält die Bundesregierung eine europarechtskonforme Auslegung bundesdeut-
schen Rechts als Umsetzungsmaßnahme vor dem Hintergrund der Ausfüh-
rungen der EU-Kommission unter Punkt 1 Buchstabe b) des Aufforderungs-
schreibens K(2008)0103 im Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2007/2362,
wonach Umsetzungsmaßnahmen des Mitgliedstaates eindeutig sein müssen,
um den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Schutzes des Einzelnen zu
genügen, für ausreichend (bitte begründen)?

8. Ist es nach Auffassung der Bundesregierung mit dem Prinzip der Rechts-
sicherheit und des Schutzes des Einzelnen zu vereinbaren, wenn Gerichte in
der bisherigen Praxis der Rechtsanwendung zu einer richtlinienkonformen
Auslegung bundesdeutschen Rechts veranlasst sind, weil die Normen des
AGG auf bestimmte Fälle keine Anwendung finden sollen (bitte begründen)?

9. Verstößt § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB nach Ansicht der Bundesregierung gegen
das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung (bitte begrün-

den)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8720

10. Wie begegnet die Bundesregierung dem Vorwurf, dass eine gerechtfertigte
berufliche Anforderung von den in § 9 Abs. 1 AGG genannten Personen
allein aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts selbst geschaffen werden
könnte, ohne dass diese Anforderung in Bezug auf die konkrete Tätigkeit
auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen wäre (vergleiche
Punkt 2 des Aufforderungsschreibens der EU-Kommission K(2008)0103
im Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2007/2362) (bitte begründen)?

11. Wie begründet die Bundesregierung die Diskrepanz zwischen dem Wort-
laut der Richtlinie 2000/78/EG „wesentliche und entscheidende berufliche
Anforderung“ und § 9 Abs. 1 AGG „gerechtfertigte berufliche Anforde-
rung“ im Hinblick auf eine richtlinienkonforme Umsetzung (bitte begrün-
den)?

12. Hält die Bundesregierung den Fall für ausgeschlossen, dass Betroffene
durch die Zweimonatsfrist bei arbeitsrechtlichen Diskriminierungen (ver-
gleiche § 15 Abs. 4 AGG) von der Geltendmachung ihrer Rechte abgehal-
ten werden, wenn sie erst nach zwei Monaten nach Zugang der Ablehnung
im Bewerbungsverfahren von den die Diskriminierung tragenden Umstän-
den erfahren (bitte begründen)?

13. Ist die Bundesregierung für den Fall der Verneinung der Frage 12 der An-
sicht, dass eine Anknüpfung der Frist für die Geltendmachung an die
Kenntnis des Betroffenen gebunden werden muss, um den europarecht-
lichen Vorgaben zu genügen, und falls ja, wird sie eine entsprechende
Gesetzesinitiative auf den Weg bringen (bitte begründen)?

14. Hält die Bundesregierung die Zweimonatsfrist hinsichtlich der Anforde-
rung, dass Ansprüche nicht unter schwierigeren Voraussetzungen durch-
setzbar sein dürfen, als vergleichbare rein national begründete Ansprüche
(vergleiche Artikel 8 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG) für angemessen,
obwohl die arbeitsvertraglich begründeten Ausschlussfristen nach der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts drei Monate betragen müssen
(bitte begründen)?

15. Ist der Bundesregierung die Kritik von Antidiskriminierungsstellen und
-büros (beispielsweise in der Stellungnahme des Antidiskriminierungsver-
bandes Deutschland zum einjährigen Bestehen des AGG, vergleiche http://
www.antidiskriminierung.org/?q=Stellungnahme+1) an der Zweimonats-
frist zur Geltendmachung von Ansprüchen bekannt, und wie bewertet sie
diese (bitte begründen)?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Beratungsinfrastruktur für von Dis-
kriminierung Betroffene in Deutschland (bitte begründet im Vergleich zu
den anderen umsetzungsverpflichteten europäischen Staaten darstellen)?

17. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung erforderlich, die Beratungsange-
bote für Diskriminierte zu erweitern, wenn ja, welche konkreten Maßnah-
men plant sie, und wenn nein, warum nicht?

18. Inwieweit sind im Rahmen der bisherigen Arbeit der Antidiskriminie-
rungsstelle des Bundes Schwierigkeiten bei der Durchführung des AGG
sichtbar geworden (bitte detailliert ausführen)?

19. Hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bisher auf Mängel an den
Umsetzungsmaßnahmen Deutschlands bezüglich der in der Vorbemerkung
der Fragestellerinnen und Fragesteller genannten EU-Richtlinien hinge-
wiesen oder anderweitig darauf aufmerksam gemacht, dass die effektive
Bekämpfung von Diskriminierungen in Deutschland weiterer als der bisher
eingeleiteten Maßnahmen bedürfte (falls ja, bitte detailliert ausführen)?

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20. Mit welchen personellen und sachlichen Mitteln ist die Antidiskriminie-
rungsstelle des Bundes ausgestattet?

21. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Antidiskriminierungs-
stelle des Bundes personell und finanziell angemessen ausgestattet ist, um
die nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz zugeschriebenen
Aufgaben zu erfüllen (bitte begründen)?

22. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Antidiskriminierungs-
verbänden Beteiligungsrechte mit der Begründung verweigert wurden,
dass die Zahl von 75 Mitgliedern nicht erreicht sei oder diese gewerbs-
mäßig handelten, falls ja, wie beurteilt sie dies (bitte begründen)?

23. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass die Verbände entge-
gen der Anforderung der Richtlinie 2000/43/EG kein generelles Beteili-
gungsrecht haben, sondern nur dort als Beistände auftreten können, wo das
Gesetz keinen Anwaltszwang fordert?

Strebt sie – wie in der Stellungnahme vom 7. März 2007 gegenüber der
EU-Kommission vertreten – eine Änderung der Regelung an, und falls ja,
wann, und wie erfolgt dies, falls nein, warum nicht?

24. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Antidiskriminierungsver-
bandes Deutschland, der in der Vorbemerkung der Fragestellerinnen und
Fragesteller genannten Stellungnahme bemängelt, dass weder die Antidis-
kriminierungsstelle des Bundes, noch Beratungsstellen, noch die Betroffe-
nen selbst ein Auskunftsrecht gegenüber Landesbehörden, Kommunalver-
waltungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen hätten, und falls ja, wie
könnten solche Auskunftsrechte ihrer Ansicht nach ausgestaltet werden
(bitte begründen)?

25. Wie beurteilt die Bundesregierung die Ausnahmen für den Bereich des
Mietrechts in § 19 Abs. 3 AGG, wo eine unterschiedliche Behandlung im
Hinblick auf die „Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstruk-
turen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirt-
schaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ für zulässig erklärt wird,
vor dem Hintergrund eines effektiven Schutzes vor Diskriminierung (bitte
begründen)?

26. Was hat die in der Bundestagsdrucksache 16/8461 benannte Ressort-
abstimmung (Antwort zu Frage 3) ergeben, was genau sind die Inhalte der
Stellungnahme der Bundesregierung an die EU-Kommission, und mit wel-
cher Begründung sieht die Bundesregierung gegebenenfalls im Gegensatz
zur EU-Kommission keine Umsetzungsdefizite bei der Umsetzung der
Antidiskriminierungsrichtlinien (bitte getrennt antworten, thematisch diffe-
renziert nach den Spiegelstrichen/Themenbereichen in Bundestagsdruck-
sache 16/8461, Antwort zu Frage 1)?

Berlin, den 31. März 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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