BT-Drucksache 16/870

Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Aufenthaltsgesetz bzw. in den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/870
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, Dr. Kirsten Tackmann
und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte im Aufenthaltsgesetz sowie in den Verwaltungsvorschriften
zum Aufenthaltsgesetz

Am 16. Juni 2005 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
(EGMR) mit Urteil vom 16. Juni 2005 – 60654/00 – (Sisojeva gg. Lettland, in:
InfAuslR 9/2005, 349 f) entschieden, dass eine Aufenthaltsbeendigung einen
unerlaubten Eingriff in das Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention (EMRK) darstellt, wenn die Betroffenen über „starke
persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte“ zum Aufnahmestaat ver-
fügen, d. h. dort einen „Großteil ihres Lebens“ verbracht haben, „gesellschaft-
lich integriert“ sind und nicht wegen „schwerer Straftaten“ ausgewiesen wur-
den. Darüber hinaus beinhalte Artikel 8 EMRK aber nicht nur ein Abwehrrecht
gegenüber Ausweisungen und Abschiebungen, sondern auch, dass der Aufnah-
mestaat „im Wege positiver Maßnahmen für die ungehinderte Ausübung der
Rechte“ der Betroffenen „Sorge zu tragen“ habe, d. h. dass in solchen Fällen ein
Aufenthaltsrecht erteilt werden müsse.

Die Entscheidungen des EGMR haben bei der Auslegung und Anwendung der
EMRK ins nationale Recht auch in Anbetracht des Grundsatzes der Völker-
rechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine „besondere Bedeutung“, so das
Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, B. vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR
1481/04 –, Rn. 33 und 38). Auch nicht direkt beteiligte Vertragsparteien müssen
ein Urteil des EGMR zum Anlass nehmen, ihre nationale Rechtsordnung zu
überprüfen (a. a. O., Rn. 39). Deutsche Gerichte müssen im Zweifelsfall einer
konventionsgemäßen Auslegung der EMRK unter Berücksichtigung der Ent-
scheidungen des EGMR den Vorrang geben, es sei denn, Verfassungsrechte wür-
den eingeschränkt, so das BVerfG (a. a. O., Rn. 62).

Sowohl das Verwaltungsgericht Stuttgart (11 K 5363/03, U. vom 11. Oktober
2005, in: InfAuslR 1/2006, 14) als auch das VG Darmstadt (8 G 2120/05(2),
B. vom 21. Dezember 2005 und 4 E 2800/03 (1), U. vom 22. November 2005;
siehe Mitteilung des Gerichts: http://www.vg-darmstadt.justiz.hessen.de/C1256
CD000483C9C/vwContentFrame/N254QFY8837RLIGDE) haben aufgrund
der o. g. Entscheidung des EGMR in Einzelfällen die jeweiligen Ausländer-

behörden zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bzw. zur Absehung von einer
Abschiebung bis zur Hauptsachenentscheidung verpflichtet. Das VG Stuttgart
befand, dass Kinder und Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen, ver-
wurzelt und erfolgreich integriert seien und bei denen ein Bezug zum Herkunfts-
land nur über Eltern oder Großeltern vermittelt werde, einen Rechtsanspruch auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hätten, unter Einbezug der zur Betreuung
und Erziehung berechtigten Eltern. Das VG Darmstadt konkretisierte, dass bei
der Bestimmung, wann jemand zu einem so genannten faktischen Inländer ge-

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worden sei, neben Kriterien der Sprachkenntnis und Verwurzeltheit usw. zeitlich
zumindest fünf, maximal jedoch acht Jahre des Aufenthalts vorausgesetzt wer-
den sollten.

Vielen Verwaltungsgerichten und vor allem Ausländerbehörden in Deutschland
ist die Entscheidung des EGMR bzw. ihre Bedeutung jedoch nicht bekannt, so
dass es in der Praxis häufig zu Verstößen gegen die EMRK kommt, wenn fak-
tisch integrierte Menschen abgeschoben werden oder lediglich so genannte Ket-
tenduldungen erhalten.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche gesetzlichen Initiativen plant die Bundesregierung, um die Einhal-
tung der Menschenrechte, so wie sie in der EMRK kodifiziert und vom
EGMK konkretisiert wurden, in der Praxis deutscher Ausländerbehörden
sicherzustellen

a) in genereller Hinsicht,

b) in Bezug auf das o. g. Urteil des EGMR vom 16. Juni 2005

(falls sie keine diesbezüglichen Initiativen plant, bitte begründen)?

2. Welche Änderung bzw. Klarstellung des Aufenthaltsgesetzes (§ 60 Abs. 5
und § 25 Abs. 3 AufenthG) bzw. der (vorläufigen) Verwaltungsvorschriften
zum Aufenthaltsgesetz plant die Bundesregierung, um eine Berücksichtigung
der Entscheidungen des EGMR sowohl generell als auch in Bezug auf das
o. g. Urteil in der Praxis sicherzustellen (falls sie keine diesbezüglichen Pla-
nungen hat, bitte begründen)?

3. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass unmittelbarer Handlungsbedarf
besteht, um mögliche Menschenrechtsverletzungen durch deutsche Behör-
den aufgrund einer unzureichenden Rechtsanwendung im Zusammenhang
der EMRK allgemein, aber auch in Bezug auf das o. g. Urteil des EGMR vom
16. Juni 2005 zu verhindern?

Wenn ja, wann wird die Bundesregierung welche Schritte unternehmen?

Wenn nein, warum nicht?

4. Nimmt die Bundesregierung das o. g. Urteil des EGMR zum Anlass,

a) um die seit Jahren geforderte Bleiberechtsregelung für längerfristig in
Deutschland lebende Menschen im Aufenthaltsgesetz zu verankern,

b) und ist sie bereit, dabei sicherzustellen, dass Menschen ohne gefestigten
Aufenthaltsstatus (d. h. ohne Arbeitserlaubnis oder mit nur nachrangigem
Arbeitsmarktzugang) eine faktische Integration in wirtschaftlicher Hin-
sicht gesetzlich ermöglicht werden muss?

Wenn nein, warum nicht?

5. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass angesichts des o. g. Urteils
des EGMR eine einmalige Bleiberechtsregelung ungenügend wäre und dass
es vielmehr zur Sicherstellung des Rechts auf ein Privatleben nach Artikel 8
Abs. 1 EMRK im Sinne der Entscheidung des EGMR einer dauerhaften ge-
setzlichen Bleiberechtsregelung bedarf, und wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 7. März 2006

Sevim Dagdelen
Ulla Jelpke
Dr. Kirsten Tackmann

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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