BT-Drucksache 16/868

Datenschutz im Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts - Schengener Informationssystem

Vom 8. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/868
16. Wahlperiode 08. 03. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Kersten Naumann
und der Fraktion DIE LINKE.

Datenschutz im Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts –
Schengener Informationssystem

Derzeit liegen nach Kenntnisstand der Fragesteller dem Europäischen Rat
Vorlagen zu einem Beschluss und zu einer Verordnung über die „Einrichtung,
den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten
Generation“ (KOM (2005) 230, KOM (2005) 236) zur Entscheidnug vor. Bei
Verabschiedung dieser Vorlagen würde der Rahmen des bisher bestehenden
„Schengener Informationssystems“ (SIS) nicht nur in Richtung der neuen EU-
Mitgliedstaaten ausgeweitet; auch die Möglichkeiten, personenbezogene Daten
zu speichern, miteinander zu verknüpfen und von einer großen Anzahl nationa-
ler Behörden abzurufen, würden massiv ausgedehnt. Insbesondere wird es mög-
lich sein, biometrische Merkmale und Fotos zu speichern. Bürgerrechtsorgani-
sationen wie die britische „statewatch“ zeigen in ihren Analysen, dass sich das
SIS in der vorgeschlagenen Art und Weise wesentlich wandelt: von einem
Instrument, dass dazu dienen sollte zu überprüfen, ob gegen eine festgenomme-
ne Person bereits in einem anderen Mitgliedstaat ermittelt wird, zu einem In-
strument polizeilicher, u. U. geheimdienstlicher Ermittlungen. Auch in der
„Empfehlung des Europäischen Parlaments an den Rat zu dem Schengener In-
formationssystem (SIS II) der zweiten Generation“ (2003/2180 (INI)) wird fest-
gestellt, „dass das SIS im Laufe der Jahre nicht mehr als Ausgleichsmaßnahme
[für den Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen] gesehen wurde, sondern
eher als nützliches und effizientes Instrument für die polizeiliche Zusammenar-
beit, dessen Daten zu anderen Zwecken als ursprünglich vorgesehen genutzt
werden können.“ Die vom EP geforderte öffentliche Debatte über die Neuaus-
richtung des Schengener Informationssystems hat erkennbar nicht stattgefun-
den. Stattdessen wird die ursprünglich formulierte Zielsetzung des SIS, Aus-
gleichsmaßnahme für den Wegfall der Binnengrenzen in einem Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu sein, in offensichtlichem Widerspruch
zum Inhalt der entsprechenden Beschluss- und Verordnungsvorschläge beibe-
halten. So wird auf dem Wege der EU-Gesetzgebung eine weitere mächtige In-
stitution im Rahmen des „Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“ ge-
schaffen. Es wird eine europäische Datensammlung geschaffen bzw. vergrößert,
ohne dass zuvor wenigstens die datenschutzrechtlichen Grundlagen der Mit-

gliedstaaten harmonisiert worden wären, von der Schaffung eines europäischen
Datenschutzgesetzes und einer unabhängigen Kontrollinstanz noch zu schwei-
gen. Daten können so zwischen beteiligten Mitgliedstaaten mit unterschiedli-
chem Niveau beim Datenschutz hin- und herfließen, ohne dass im Gegensatz
zum derzeit noch bestehenden SIS I+ über die nationalen Kontaktstellen (SIRE-
NE-Büros) wenigstens die Möglichkeit bestünde, bestimmte Daten nicht weiter-
zugeben. Mit EUROPOL und EUROJUST sollen noch zwei weitere Institutio-

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nen Zugriff auf das SIS II erhalten, die bereits mehrfach Gegenstand kritischer
Würdigung durch Datenschützerinnen und Datenschützer und Bürgerrechtlerin-
nen und Bürgerrechtler waren bzw. sind. Durch die von verschiedener Seite
gewünschte Verknüpfung von SIS II und EURODAC bzw. VIS (Visum Infor-
mation System) würden des Weiteren massenhaft Daten von Drittstaaten-Aus-
ländern in den Datenbestand einfließen, ohne dass hier entsprechende Interven-
tionsmöglichkeiten der Herkunftsländer dieser EU-Ausländer bestehen, um
etwa deren national gültige Standards des Datenschutzes durchzusetzen. In um-
gekehrter Richtung hat die Erfassung und Sammlung biometrischer Daten von
EU-Bürgern und Bürgerinnen durch US-Behörde bekanntlich zu außenpoliti-
schen Auseinandersetzungen geführt.

Auch innerhalb der EU ist der Datenschutz lediglich im privatrechtlichen Be-
reich (Datenschutzrichtlinie in der Ersten Säule) harmonisiert. Für den Bereich
des Datenschutzes als Schutzrecht des Einzelnen gegenüber staatlichen Eingrif-
fen fehlt eine solche Harmonisierung, begonnen bei einheitlichen Rechtsgrund-
sätzen bis zur Einbeziehung von unabhängigen Datenschutzbehörden in die Vor-
bereitung von Rechtsakten auf nationaler und europäischer Ebene und der
Schaffung einer gesamtzuständigen Datenschutzbehörde.

In diesem Zusammenhang ist die personelle und materielle Ausstattung der Ge-
meinsamen Kontrollinstanz nach dem Schengener Durchführungsübereinkom-
men (Artikel 115) ein Problem, da sie wenn überhaupt lediglich im Nachhinein
kontrollieren kann. Dies liegt in der Natur der Sache. Fehler und Verstöße wer-
den so erst aufgedeckt, wenn den Betroffenen schon ein Schaden entstanden ist.
So stellt der hessische Datenschutzbeauftragte als Mitglied der Gemeinsamen
Kontrollinstanz in seinem Bericht 2004 fest: „In über 10 Prozent der von mir ge-
prüften hessischen Ausschreibungen im Schengener Informationssystem lagen
die Ausschreibungsvoraussetzungen nicht vor. Ausschreibungen die älter als
drei Jahre waren, waren überwiegend unrechtmäßig, weil die nach dreijähriger
Datenspeicherung vorgeschriebene Prüfung der weiteren Erforderlichkeit unter-
blieb. Dort wo sie nicht unterblieb, erging sie weitgehend nicht ordnungsgemäß
oder falsch.“ Aus der detaillierten Darstellung der Prüfung lässt sich die
Schlussfolgerung ziehen, dass die zuständigen Behörden – in diesem Falle (Aus-
schreibung nach Artikel 96 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ),
Einreiseverweigerung) die Ausländerbehörden – mit dem korrekten daten-
schutzrechtlichen Umgang mit personenbezogenen Daten überfordert sind und
intern ohne äußere Veranlassung (in diesem Fall: die Prüfung durch den Daten-
schutzbeauftragten) keine diesbezügliche Evaluation stattfindet, die entspre-
chende Mängel aufdecken könnte. Dies ist sicherlich auch wiederum auf die
Vielzahl verschiedener datenschutzrechtlicher Bestimmungen und Standards
zurückzuführen. Eine deutlich bessere Ausstattung von Einrichtungen, die mit
dem Datenschutz befasst sind, erscheint vor diesem Hintergrund angebracht.
Nur so könnte eine regelmäßige und umfassende Prüfung stattfinden, und nicht
nur eine solche wie die oben dargestellte, die sich nur auf einen Teil der Daten-
kategorien bezieht und hier nur Stichproben (jeder 500. Datensatz) prüft.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Datensätze waren per 1. Januar 2006 im Schengener Informa-
tionssystem (SIS I+) gespeichert, und wie verteilen sie sich auf die einzelnen
Datenkategorien der Artikel 95 bis 100 des Schengener Übereinkommens?

2. Wie verteilen sich zum Stichtag die Dateneingaben nach den einzelnen
Mitgliedstaaten des Schengener Übereinkommens (bitte nach Staaten und
Datensätzen auflisten; ersatzweise nur die Eingaben von deutscher Seite,
falls keine Gesamtübersicht vorhanden ist)?

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3. Wie viele Abfrageterminals befinden sich derzeit bei deutschen Dienststel-
len?

4. Welche Maßnahmen sind von der Bundesregierung geplant, um die Kon-
trollmöglichkeiten des Bundesdatenschutzbeauftragten in Bezug auf die
Speicherung von Daten in europäischen Datensammlungen wie dem SIS,
soweit sie von deutschen Behörden ausgeht, materiell (Personalausstattung
etc.) zu verbessern, und wird es im Rahmen der anstehenden Haushaltsbe-
ratungen bereits Vorschläge in diese Richtung geben?

5. Wie hat sich in den letzten fünf Jahren (zum Stichtag 1. Januar 2006) die
Anzahl der Treffer („hits“) in Relation zu den Abfragen entwickelt (bitte
nach den Datenkategorien einzeln nach Jahren aufschlüsseln)?

6. Wie viele Ermittlungsverfahren oder deren erfolgreicher Abschluss gehen
auf Treffer („hits“) im SIS zurück?

7. Falls Frage 6 nicht beantwortet werden kann: Nach welchen Kriterien ent-
scheidet die Bundesregierung dann, dass das bisherige System der Daten-
sammlung und die Ausweitung dieses Systems der Datensammlung den
rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei staatlichen Eingrif-
fen in Grundrechte (hier: Recht auf informationelle Selbstbestimmung)
nicht verletzt?

8. Hat die Bundesregierung sich zu den Beratungen über die Einführung des
SIS II eine Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten eingeholt
oder zur Kenntnis genommen, was waren die wesentlichen Kritikpunkte,
und inwieweit hat sie diese bei den Beratungen im Rat berücksichtigt?

9. Hat die Bundesregierung sich zu den Beratungen über die Einführung des
SIS II eine Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten ein-
geholt oder zur Kenntnis genommen und diese bei den Beratungen im Rat
berücksichtigt?

10. Wie bewertet die Bundesregierung Kritik von Datenschützern und Bürger-
rechtsorganisationen, durch die Flexibilität des geplanten SIS II in Hinsicht
auf Speicheranlässe und Zugriffsrechte sei der datenschutzrechtliche
Grundsatz der Zweckbindung bei der Speicherung und bei den Abfrage-
möglichkeit verletzt oder jedenfalls gefährdet?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die u. a. in der Stellungnahme von „state
watch“ und der Empfehlung des EP geäußerte Kritik, die Entwicklung des
SIS II bedeute die Transformation des SIS von einem Informations- zu
einem Ermittlungsmittel und damit eine Zweckentfremdung der darin ent-
haltenen Daten?

12. Falls die Bundesregierung diese Entwicklung des SIS zu einer Datenbank
für die polizeiliche und unter Umständen geheimdienstliche Ermittlungsar-
beit als sinnvoll erachtet: wird sie sich im Rat konsequenterweise dafür ein-
setzen, auch in den entsprechen Beschlüssen und Verordnungen deutlich zu
machen, dass es sich bei SIS II eben nicht mehr nur noch um ein Instrument
handelt, dass den Wegfall der Binnengrenzen ausgleichen soll?

13. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von Planungen, mittels des SIS II
zur Einrichtung einer EU-weiten DNA-Datenbank zu kommen, und wie
steht sie inhaltlich zur Einrichtung einer solchen Datenbank?

14. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zu einer Aufnahme von nach-
richtendienstlich arbeitenden Behörden in die Liste der Abfrageberechtigten
ein, und wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die
Zugriffsmöglichkeit von Europol, in dessen Analysegruppen sogar Nach-

richtendienste von Nicht-EU-Mitgliedstaaten über entsprechende Verträge
eingebunden sein können?

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15. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum unterschiedlichen
Niveau des Datenschutzes in den Staaten, die zu den Abfrageberechtigten
gehören, welche Auswirkungen sieht sie aufgrund dieser Unterschiede hin-
sichtlich der realen Zugriffsmöglichkeiten von nicht in der Liste enthaltenen
Behörden, Institutionen oder Organisationen in Staaten mit niedrigen daten-
schutzrechtlichen Standards, und welche konkreten Schlussfolgerungen
zieht die Bundesregierung daraus für die Schaffung von einheitlichen euro-
päischen Regelungen mit hohem Datenschutzstandard?

16. Hat die Bundesregierung Kenntnis davon, ob der Bundesdatenschutzbeauf-
tragte in die Entwicklung des SIS „sehr eng“ einbezogen wurde, wie dies in
der genannten Empfehlung des EP vorgeschlagen wurde?

17. Welche Initiativen hat die Bundesregierung im Rat ergriffen oder geplant,
um die Implementierung eines effektiven, kohärenten Datenschutzes im Be-
reich des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ und einer ent-
sprechend ausgestatteten Institution voranzutreiben?

18. Von welchen Initiativen zur Steigerung der Effektivität des Datenschutzes
im Bereich des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ seitens
anderer Mitgliedstaaten bzw. der Kommission hat die Bundesregierung
Kenntnis, und wie bewertet sie diese Initiativen?

19. Plant die Bundesregierung entsprechende Initiativen im Rahmen ihrer Rats-
präsidentschaft in 2007, wenn ja, was wird ihr Inhalt sein, wenn nein, war-
um hält die Bundesregierung dies nicht für notwendig?

Berlin, den 6. März 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Kersten Naumann
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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