BT-Drucksache 16/8415

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung -16/6865 Nr. 1.19, 16/8360- Grünbuch Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt (inkl. 13278/07 ADD 1) KOM (2007) 551 endg.; Ratsdock 13278/07

Vom 5. März 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8415
16. Wahlperiode 05. 03. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius,
Dr. Anton Hofreiter, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn,
Sylvia Kotting-Uhl, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksachen 16/6865 Nr. 1.19, 16/8360 –

Grünbuch
Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt
(inkl. 13278/07 ADD 1)
KOM (2007) 551 endg.; Ratsdok. 13278/07

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die EU-Kommission hat am 25. September 2007 das Grünbuch „Hin zu einer
neuen Kultur der Mobilität in der Stadt“ vorgelegt. Darin wird ausgeführt, dass
60 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger in Städten leben, in denen 85 Pro-
zent des EU-Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet werden. 40 Prozent der stra-
ßenverkehrsbedingten CO2-Emissionen und 70 Prozent der Luftschadstoffe ent-
stünden in Städten, die zudem in hohem Maße von Verkehrslärm betroffen
seien. Ein Drittel der tödlichen Verkehrsunfälle ereigne sich in Stadtgebieten.
Zumeist seien Fußgänger und Radfahrer betroffen. Dies zeigt, dass es einen
Handlungsbedarf gibt, um eine nachhaltigere Mobilität in den Städten zu er-
reichen.

Die klassische europäische Innenstadt, die in ihren Grundstrukturen meist
schon im 19. Jahrhundert angelegt worden ist, kann den immer noch zunehmen-
den motorisierten Verkehr kaum noch bewältigen. Zahlreiche Gesundheits- und
Umweltprobleme sind die Folge. Die europäische Ebene kann und muss einen
Beitrag zur Senkung dieser Probleme leisten, mit denen die Städte allein über-
fordert sind. Dabei geht es vor allem um die europäische Harmonisierung von

Standards und Normen und ihre Weiterentwicklung. Ihre Anwendung ist dabei
allein Sache der Kommunen. Das kommunale Selbstbestimmungsrecht und das
Subsidiaritätsprinzip müssen bei den europäischen Vorschlägen beachtet wer-
den. Angesichts der Heterogenität der Städte und ihrer jeweiligen Probleme
wäre es auch nicht zielführend, gleiche Maßnahmen und Instrumente für alle
Städte anzuwenden. Es geht vielmehr darum, die Handlungsoptionen der Städte
für eine nachhaltige Mobilität zu erweitern. Es sind Maßnahmen und Instru-

Drucksache 16/8415 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

mente bekannt zu machen, zu entwickeln und zu fördern, mit denen die Ver-
kehrsprobleme wirksam angegangen werden können.

Dies ist gerade vor dem Hintergrund der umweltpolitischen Herausforderungen,
z. B. beim Klimaschutz, eine dringende Notwendigkeit. Will die Europäische
Union ihr Klimaschutzziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um
20 Prozent gegenüber 1990 erreichen, muss sie bei allen Emissionsquellen an-
setzen, auch und gerade beim Verkehr. Zahlreiche europäische Städte haben
durch eine verstärkte Förderung des Umweltverbunds aus öffentlichem Perso-
nennahverkehr (ÖPNV), Fahrrad- und Fußverkehr und Restriktionen für den
motorisierten Individualverkehr (z. B. durch Parkraumbewirtschaftung) den
Anteil der umweltfreundlich zurückgelegten Wege in den letzten Jahren deut-
lich steigern können. Wertvolle Anregungen für die Planung von städtischen
Verkehrsräumen geben die Kommunen, die nach dem Konzept „shared space“
planen. Auf diesen Erfahrungen gilt es aufzubauen.

Die Vorschläge des Grünbuchs werden bis zum 15. März 2008 in einem Kon-
sultationsverfahren den unterschiedlichen Stakeholdern zur Kommentierung
vorgelegt. Im Herbst 2008 will die Europäische Kommission dann einen
Aktionsplan vorlegen. Ein solcher Aktionsplan sollte die 2007 unter deutscher
Ratspräsidentschaft verabschiedete Leipzig-Charta unterstützen, in der es heißt:
„Unsere Städte müssen sich auch den Anforderungen anpassen, die sich aus
dem drohenden Klimawandel ergeben.“

London, Stockholm und einige norwegische Städte haben eine Nutzerfinanzie-
rung für die innerstädtischen Verkehrswege in Form einer Citymaut für den
motorisierten Individualverkehr eingeführt und gleichzeitig die Alternativen
ausgebaut. Der Erfolg ist, dass die Innenstädte um 20 bis 30 Prozent vom Auto-
verkehr entlastet worden sind. Staus, Lärm, Luftverschmutzung und Verkehrs-
unfälle sind deutlich zurückgegangen. Auch der Wirtschaftsverkehr profitiert
von einem flüssigeren Verkehr, indem z. B. Umläufe von Lieferfahrzeugen be-
schleunigt werden. Allerdings droht ein Flickenteppich an unterschiedlichen
Citymaut-Systemen. Die fehlende europäische Harmonisierung für Plaketten,
die zur Einfahrt in Umweltzonen berechtigen, führt heute dazu, dass jeder
Mitgliedstaat und teilweise sogar jede Stadt eigene Lösungen verfolgt. Das darf
sich nicht wiederholen. Es ist daher dringend notwendig, dass die Europäische
Union in dieser Frage und bei der Citymaut auf eine Harmonisierung der Stan-
dards drängt. Möglich wäre sogar, einen auf dem europäischen Satellitensystem
Galileo basierenden technisch offenen Standard zu schaffen, der die Erhe-
bungskosten für eine Citymaut extrem senken würde. Für welche Städte eine
Citymaut geeignet ist und für welche nicht, bleibt der kommunalen Entschei-
dungshoheit überlassen.

Eine solche technische Harmonisierung ist mittelfristig auch für intermodale
intelligente Verkehrssysteme anzustreben. Schon heute leiten Navigations-
dienste den Straßenverkehr in ganz Europa. Noch stärker standardisiert ist die
Nutzung des Luftverkehrs weltweit. Wer sich hingegen über den öffentlichen
Nahverkehr, Fahrradverleihsysteme oder Car Sharing in einer fremden Stadt in-
formieren möchte, muss dies fast immer neu lernen. Eine Senkung der Trans-
aktionskosten der Nutzung umweltfreundlicher Verkehrsmittel, z. B. durch ein
europaweites Handy-Ticketing für den öffentlichen Verkehr als „Euro-Ticket“,
und vergleichbare Standards bei der Barrierefreiheit und der Ausschilderung
würden helfen, das Potenzial des ÖPNV stärker auszuschöpfen.

Neben der Verkehrsverlagerung sind verkehrsvermeidende Siedlungsstrukturen
ein erfolgversprechender Weg für einen nachhaltigeren Verkehr. Bauvorhaben,
die viel Verkehr erzeugen, sind daher bevorzugt an Knotenpunkten des öffent-
lichen Verkehrs auszuweisen. Städtebauplanungen müssen unter Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger erfolgen und bedürfen immer einer Verkehrs-

folgenabschätzung. Polyzentrale und dichte Strukturen sowie die Mischung der
Funktionen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitangebote in allen Stadt-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8415

quartieren schaffen die Voraussetzungen für die „Stadt der kurzen Wege“. Für
die soziale Teilhabe von Menschen, insbesondere denen, die sich kein Auto
leisten können, ist die gute Erreichbarkeit von Orten mit öffentlichen Verkehrs-
mitteln zu allen Tages- und Nachtzeiten erforderlich. Grundsätzlich gilt es, vor
Ort ein Leitbild der fußgänger- und fahrradfreundlichen Stadt zu entwickeln.
Der klassische liniengebundene ÖPNV ist durch flexiblere bedarfsorientierte
Angebote und durch Car Sharing zu ergänzen nach dem Leitbild, den öffent-
lichen Verkehr privater und den privaten Verkehr öffentlicher zu machen.

Für die verträglichere Gestaltung des motorisierten Verkehrs gilt es insbeson-
dere, die technischen Anforderungen an schadstoffarme, klimaverträglichere,
leisere und sicherere Fahrzeuge zu verbessern. Die Implementierung ambitio-
nierter Grenzwerte für Neufahrzeuge und immissionsbegrenzende EU-Rege-
lungen, z. B. für Lärm und Luftschadstoffe sind hierbei als erfolgreiche Instru-
mente der Luftreinhaltung und Lärmsanierung voranzutreiben. Es sollte dabei
geprüft werden, inwieweit Fahrzeuge, die speziell in Städten eingesetzt werden,
wie Taxis, Busse, Entsorgungs- und Lieferfahrzeuge vorgezogene Abgas- und
Lärmstandards erfüllen müssen.

Die Fortschritte in der Telematikentwicklung von Kraftfahrzeugen sind auch für
das Geschwindigkeitsmanagement in Städten durch europaweite Standards zu
setzen. Die Ermöglichung der Einführung intelligenter Geschwindigkeitsbe-
grenzungen (Intelligent Speed Adaption) in Städten hat solche Fahrzeugstan-
dards zur Voraussetzung. Diese Möglichkeiten sollten in die eSafety-Initiative
der Europäischen Union aufgenommen werden. Die Harmonisierung von tech-
nischen Anforderungen bietet auch Kostensenkungspotenziale, z. B. bei der
öffentlichen Beschaffung von Einsatzfahrzeugen, Bussen, Straßenbahnen und
Eisenbahnen.

Die erheblichen Finanzmittel, die im Rahmen von Strukturfonds und For-
schungsvorhaben schon heute von der EU ausgereicht werden, müssen stärker
gebündelt werden. Zu häufig sind in der Vergangenheit EU-Fördermittel für
nachhaltige Mobilität nach Auslaufen der Förderung wirkungslos verpufft, weil
die Verkehrspolitik der Städte die Ziele der EU-Projekte konterkarierte. Ihre
Bewilligung muss an eine nachgewiesene integrierte kommunale Verkehrs-
politik, die die Stärkung des Umweltverbunds zum Ziel hat, geknüpft sein. Ein
fester Anteil der Summe von mindestens 10 Prozent muss dem Rad- und dem
Fußverkehr zu Gute kommen. Das Europäische Parlament hatte zudem be-
schlossen, dass mindestens 40 Prozent Finanzmittel für die Verbesserung der
Verkehrsinfrastruktur aus dem Kohäsions- und dem Strukturfonds für die
Förderung des öffentlichen Verkehrs mit Bus und Bahn zweckgebunden ver-
wendet werden sollen.

Für eine langfristig klimafreundliche Mobilität in den Städten, die zudem die
Ölabhängigkeit des Verkehrs reduziert, sollte zudem ein technologisches
Leuchtturmprojekt für Nullemissionsmobilität in Städten mit Elektrofahrzeu-
gen, z. B. für Taxis und Lieferfahrzeuge, und eine Initiative „500 europäische
Städte mit einem klimaneutralen ÖPNV“ gestartet werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich im Europäischen Rat für einen ambitionierten Aktionsplan zur städti-
schen Mobilität einzusetzen, der die Handlungsoptionen der Städte für nach-
haltige Mobilität erweitert und dabei insbesondere auch die Harmonisie-
rungs- und Legislativvorschläge des Grünbuchs „Hin zu einer neuen Kultur
der Mobilität in der Stadt“ aktiv unterstützt,

2. im Einklang mit den europäischen Klimazielen die Reduktion der verkehrs-

bedingten CO2-Emissionen in Städten um 20 Prozent bis 2020 und um
80 Prozent bis 2050 zu beschließen,

Drucksache 16/8415 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. im Einklang mit der europäischen Charta für Verkehrssicherheit die Hal-
bierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2010 anzustreben,

4. sich für die Internalisierung externer Kosten auch im Stadtverkehr ein-
zusetzen,

5. sich für eine Stärkung des Rad- und des Fußverkehrs in Städten einzuset-
zen und bei von der EU geförderten Projekten mindestens 10 Prozent der
Förderung für diese Verkehrsarten festzuschreiben,

6. dem Beschluss des Europäischen Parlaments folgend, mindestens 40 Pro-
zent der für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung
stehenden Kohäsions- und Strukturfondsmittel für die Förderung des
öffentlichen Verkehrs zu verwenden,

7. harmonisierte technische Standards für die Erhebung einer Citymaut an-
zustreben und diesen Standard mit europäischen Forschungsmitteln als
Open-Source-Projekt zu entwickeln,

8. harmonisierte technische Standards für intermodale intelligente Verkehrs-
systeme unter Einschluss der Angebote des öffentlichen Verkehrs, Fahrrad-
verleihsystemen und Car Sharing („Euro-Ticket“) zu fördern,

9. harmonisierte Höchstgeschwindigkeiten auf Straßen in Europa, insbeson-
dere innerorts, zu beschließen und intelligente Geschwindigkeitsbegren-
zungssysteme in die europäische eSafety-Initiative aufzunehmen,

10. die Städte in ihren Bemühungen zu unterstützen, die verkehrsbedingten
Schadstoffemissionen zu senken, insbesondere durch Beschränkungen für
Kraftfahrzeuge mit hohen Emissionen,

11. die Städte in ihren Bemühungen zu unterstützen, mit Verkehrlenkungsmaß-
nahmen die verkehrsbedingten Belastungen zu senken, beispielsweise
durch Parkraumbewirtschaftung,

12. CO2-Grenzwerte von 120 g/km ab 2012 und 80 g/km ab 2020 für Pkw ohne
Anrechnung sonstiger Maßnahmen zu beschließen, um die Treibhausgas-
emissionen auch des städtischen Verkehrs zu senken,

13. sich schnell auf ambitionierte neue europäische Euro-Schadstoffnormen
(Euro 6) zu einigen, um die Luftschadstoffemissionen auch des städtischen
Verkehrs zu senken,

14. zu prüfen, ob für Stadtverkehrsfahrzeuge (Taxis, Busse, Entsorgungs- und
Lieferfahrzeuge) vorgezogene Abgas- und Lärmstandards eingeführt wer-
den können,

15. den Austausch guter Beispiele zwischen europäischen Städten zu unter-
stützen und dafür ein Netzwerk zu bilden,

16. die Bedingungen für eine umweltbewusste Beschaffung sauberer und
energieeffizienter Fahrzeuge zu verbessern und damit Kostensenkungs-
potenziale für die Kommunen zu heben,

17. ein europäisches technologisches Leuchtturmprojekt mit Modellversuchen
mit elektrisch betriebenen Nullemissionsfahrzeugen in Städten und einer
Initiative „500 europäische Städte mit einem klimaneutralen ÖPNV“ zu
starten.

Berlin, den 5. März 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.