BT-Drucksache 16/8140

Rechtlich fragwürdige Anwendung des Schengen-Rechts

Vom 12. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8140
16. Wahlperiode 12. 02. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Ulla Jelpke und der Fraktion
DIE LINKE.

Rechtlich fragwürdige Anwendung des Schengen-Rechts

Am 21. Dezember 2007 traten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die
Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn dem so genannten Schengen-
Raum bei. Die Staatsangehörigen dieser Länder haben damit die Möglichkeit,
ohne Grenzkontrollen im gesamten Schengen-Gebiet zu reisen.

Auch Staatsangehörige von Drittländern, die der Visumspflicht unterliegen,
können mit einem einzigen Schengen-Visum im gesamten Schengen-Raum frei
reisen und müssen kein nationales Visum mehr für die jeweiligen Mitglied-
staaten beantragen. Das gilt auch für Staatsangehörige von Drittländern, die im
Besitz eines gültigen, von einem Schengen-Land ausgestellten Aufenthalts-
titels sind (http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/
07/618&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en).

Ein Artikel der „Süddeutsche Zeitung“ vom 1. Februar 2008 berichtet unter der
Überschrift „Deutsche Gründlichkeit“ (www.sueddeutsche.de) von dem Fall
dreier türkischer Staatsbürgerinnen, die in Polen im Rahmen des von der EU
finanzierten Erasmus-Programm studierten und die von der Bundespolizei wie
Kriminelle behandelt wurden, als sie in gutem Glauben besuchsweise von
Wroclaw (Breslau) nach Hamburg reisen wollten, ohne zuvor ein Visum be-
antragt zu haben: Die jungen Frauen wurden einer Leibesvisitation unterzogen
und als Grenzverletzer erkennungsdienstlich behandelt, sie mussten die Nacht
in einer Gefängniszelle verbringen und ihnen wurde alles Bargeld abgenom-
men, sie wurden in Handschellen „zurückgeschoben“ und mit einer fünfjäh-
rigen Einreisesperre für die Europäische Union belegt. Es handele sich bei
diesem Vorgehen, so der Zeitungsbericht, um keinen Einzelfall, und in der
polnischen Presse war von „herzlosen deutschen Gendarmen“ die Rede. Warum
die Betroffenen „wie Kriminelle“ behandelt worden seien, „wusste die Bundes-
polizei auf Anfrage nicht zu beantworten. Dies seien nun mal die Vorschriften
des Innenministeriums“, heißt es zum Abschluss des Artikels.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit berechtigen vor dem 21. Dezember 2007 ausgestellte Visa oder
Aufenthaltstitel von (noch) nicht Schengen-Mitgliedern wie beispielsweise
Polen nicht zu einem Aufenthalt in den „alten“ Schengen-Staaten, da diese
als nationale Visa erteilt wurden und womöglich nicht als Schengen-Visa
fortgelten?

Drucksache 16/8140 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. Inwieweit können Angehörige dritter Staaten, die sich mit einer gültigen
Aufenthaltsgenehmigung legal in einem Schengen-Vollanwenderstaat auf-
halten, mit einem gültigen Reisepass visumsfrei bis zu drei Monate pro
Halbjahr in die anderen bzw. „alten“ Schengen-Vollanwenderstaaten reisen,
und welche Beschränkungen gibt es?

3. Ist der Bundesregierung der in der Vorbemerkung dargelegte Fall der drei
türkischen Studentinnen bekannt, und wenn ja, sind die berichteten Einzel-
heiten zutreffend, und ist der Bundesregierung bekannt, ob die Betroffenen
über ein Visum oder über einen Aufenthaltstitel verfügten?

4. Welche allgemeinen rechtlichen Bestimmungen galten im konkreten Fall,
wonach die Überquerung der Grenze zwischen zwei Schengen-Staaten als
„illegaler Grenzübertritt“ hätte bewertet werden können?

5. Inwieweit bestehen im Schengen-System Übergangsregelungen bzw. Er-
messensspielräume, um Fälle, in denen offenkundig kein Rechtsmiss-
brauch und keine versuchte Grenzverletzung vorliegt, so handhaben zu
können, dass keine drastischen und offenkundig unverhältnismäßigen
Maßnahmen und Sanktionen ergriffen werden müssen, wie im konkreten
Fall geschehen?

6. Welche Möglichkeiten und Ermessenspielräume in der Rechtsanwendung
hätten aus Sicht der Bundesregierung bestanden, um im konkreten Fall an-
gemessen reagieren zu können?

7. Wie hätten die Bundesbeamten aus Sicht der Bundesregierung reagieren
sollen, oder verlief alles entsprechend der Vorschriften des Innenministe-
riums, wie gegenüber dem Journalisten der „Süddeutsche Zeitung“ be-
hauptet?

8. Auf welcher konkreten Rechtsgrundlage geschah

a) die Über-Nacht-Inhaftierung,

b) die Leibesvisitation,

c) die erkennungsdienstliche Behandlung,

d) die Beschlagnahme sämtlichen Bargeldes der drei Studentinnen,

e) ihre Zurückschiebung in Handschellen,

f) die Speicherung im EURODAC-Register,

g) die fünfjährige Einreisesperre und Ausweisung?

9. Welche der in Frage 8a bis 8g hinterfragten Maßnahmen der Bundespolizei
hält die Bundesregierung im konkreten bzw. in vergleichbaren Fällen
jeweils für richtig und verhältnismäßig, und welche Änderungen im euro-
päischen oder deutschen Recht plant die Bundesregierung, falls sie einzel-
ne Maßnahmen als unverhältnismäßig ansieht, aber keine andere Vorge-
hensweise im Rahmen des geltenden Rechts für möglich hält (bitte einzeln
beantworten)?

10. Hat sich die Bundesergierung, die Bundespolizei oder eine andere deutsche
Stelle bei den betroffenen türkischen Studentinnen entschuldigt, und wenn
nein, warum nicht?

11. Was hat die Bundesregierung, die Bundespolizei oder eine andere deutsche
Stelle unternommen, um die schwerwiegenden Folgen im geschilderten Fall
zu mildern oder zu beseitigen, oder was plant sie diesbezüglich?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8140

12. Wie hat die Bundesregierung, die Bundespolizei oder eine andere deutsche
Stelle auf etwaige Bemühungen der Universität von Wroclaw (Breslau)
reagiert, die laut Artikel der „Süddeutsche Zeitung“ „gekämpft“ habe, um
das „unangemessen grausame Vorgehen“ der deutschen Behörden zu kon-
terkarieren?

13. Inwieweit sind der Bundesregierung andere Fälle von Drittstaatsangehöri-
gen bekannt, die in ähnlicher Weise wie in dem geschilderten Fall von der
Bundespolizei „behandelt“ wurden, und wie hoch schätzt sie die Zahl der
aufgrund der unklaren Rechtslage potentiell Betroffenen?

Berlin, den 6. Februar 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.