BT-Drucksache 16/8137

Erste Bilanz der gesetzlichen Altfallregelung

Vom 15. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8137
16. Wahlperiode 15. 02. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen und der
Fraktion DIE LINKE.

Erste Bilanz der gesetzlichen Altfallregelung

Die Zahl der nach der Bleiberechtsregelung der Konferenz der Innenminister
und -senatoren der Länder (IMK) erteilten Aufenthaltserlaubnisse blieb mit
knapp 20 000 weit unterhalb der von den verantwortlichen Politikern geweck-
ten Erwartungen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7089). Die Kritik, wonach die
geforderten langen Aufenthaltszeiten, die strengen Anforderungen beim selb-
ständigen Lebensunterhalt und die zahlreichen Ausschlusstatbestände keine
umfassend wirksame Bleiberechtsregelung ermöglichten, war offenkundig be-
rechtigt.

Die Ende August 2007 mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz in Kraft ge-
tretene gesetzliche Altfallregelung nach § 104a und b des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) stellt ähnlich hohe Anforderungen an ein dauerhaftes Bleiberecht
wie die IMK-Regelung. Lediglich die Arbeitsuche und -aufnahme wurde im
Vergleich zur Länderregelung erleichtert. Die von dem Bundesminister des
Innern Dr. Wolfgang Schäuble geäußerte Einschätzung, „ungefähr 100 000“
Menschen könnten von der gesetzlichen Regelung profitieren (vgl. Plenarpro-
tokoll 16/94, S. 9546), ist nach Auffassung der Fragesteller nicht realistisch.
Auch die von Abgeordneten der SPD als Rechtfertigung für ihre Zustimmung
zum Richtlinienumsetzungsgesetz genannte Zahl von bis zu 60 000 möglichen
Bleiberechtsfällen (vgl. Erklärung der Abgeordneten Rüdiger Veit und anderer,
Plenarprotokoll 16/103, S. 10639 f.) dürfte sich als zu hoch gegriffen erweisen.

Während eine abschließende Bilanzierung der gesetzlichen Altfallregelung erst
nach Ablauf aller Fristen im Jahr 2010 möglich sein wird, lassen sich nähere
Angaben zum ungefähren Umfang der möglicherweise Bleibeberechtigten be-
reits aufgrund der Zahlen für die erste Zeit nach dem Inkrafttreten der Regelung
machen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen haben im Jahr 2007 eine Aufenthaltserlaubnis nach
§ 104a oder b AufenthG beantragt (bitte nach Bundesländern differenzie-
ren)?

a) Wie viele Anträge hiervon betrafen oder waren Anträge, die bereits nach
der IMK-Regelung vom November 2006 gestellt wurden, aber bis zum
Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung noch nicht entschieden waren
und deshalb nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen beurteilt
werden (bitte nach Bundesländern differenzieren)?

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b) Wie viele Anträge wurden nach § 104b für „integrierte Kinder von ge-
duldeten Ausländern“ gestellt (bitte nach Bundesländern differenzieren)?

c) Welches waren die zehn am häufigsten vertretenen Herkunftsländer der
Antragsteller und Antragstellerinnen (bitte nach Bundesländern differen-
zieren)?

d) Wie viele Einzelpersonen und wie viele Familienangehörige beantragten
eine Aufenthaltserlaubnis nach der gesetzlichen Altfallregelung?

2. Wie viele Aufenthaltserlaubnisse nach § 104a oder b AufenthG wurden im
Jahr 2007 erteilt (bitte nach Geschlecht, Alter [zumindest: Voll- bzw. Min-
derjährigkeit], Bundesländern und den zehn häufigsten Herkunftsländern
differenzieren)?

a) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1
Satz 1 i. V. m. § 104a Abs. 1 Satz 2 AufenthG erhalten, weil der Lebens-
unterhalt durch Erwerbstätigkeit bereits gesichert war (bitte nach Bun-
desländern differenzieren)?

b) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 1
Satz 1 AufenthG (auf Probe) erhalten, weil der Lebensunterhalt durch
Erwerbstätigkeit noch nicht gesichert war (bitte nach Bundesländern
differenzieren)?

c) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2
Satz 1 AufenthG als bei der Einreise noch minderjährige, inzwischen aber
volljährige Kinder erhalten (bitte nach Bundesländern differenzieren)?

d) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a
Abs. 2 Satz 2 AufenthG als unbegleitete Minderjährige erhalten (bitte
nach Geschlecht, Bundesländern und den fünf stärksten Herkunftsländern
differenzieren)?

e) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104b i. V. m.
§ 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Minderjährige für den Fall einer Aus-
reise der Eltern erhalten (bitte nach Geschlecht und Bundesländern diffe-
renzieren) – und in wie vielen dieser Fälle sind wie viele Eltern bereits
ausgereist oder haben ihre Ausreisebereitschaft erklärt?

f) In wie vielen Fällen ist vom Nachweis mündlicher Deutschkenntnisse
abgesehen worden?

g) In wie vielen Fällen wurde die Erteilung vom Abschluss einer Integra-
tionsvereinbarung abhängig gemacht (bitte nach Bundesländern differen-
zieren und angeben, in welchen Bundesländern Integrationsvereinbarun-
gen als Erteilungsvoraussetzung vorgesehen sind)?

h) In wie vielen Fällen wurden Aufenthaltserlaubnisse aufgrund § 104a
Abs. 3 Satz 2 AufenthG aus Härtefallgründen erteilt, obwohl nach Satz 1
eigentlich eine Ablehnung wegen der Straffälligkeit eines Familien-
mitgliedes hätte erfolgen müssen (bitte nach Bundesländern differenzie-
ren)?

3. Wie viele der in Frage 1 benannten Anträge wurden im Jahr 2007 abgelehnt,
wie viele Personen/Familien waren betroffen (bitte nach Bundesländern
differenzieren)?

a) Welche genaueren Angaben zu den Gründen der Ablehnung liegen der
Bundesregierung vor, etwa zu den Nummern 1. bis 6. des § 104a Abs. 1
Satz 1 AufenthG (Wohnraum, Sprachkenntnisse, Schulbesuch der Kin-
der, Täuschungen bzw. Behinderungen, Extremismus- bzw. Terrorismus-
verdacht, Straftaten; bitte nach Bundesländern differenzieren)?

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b) Wie viele Anträge wurden insbesondere deshalb abgelehnt, weil davon
ausgegangen wurde, dass der Nachweis einer eigenständigen Lebens-
unterhaltssicherung auch nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis „auf
Probe“ nicht erreicht werden kann (alters-, krankheitsbedingt usw.; bitte
nach Bundesländern differenzieren)?

c) Wie viele Anträge wurden insbesondere deshalb abgelehnt, weil ein in
der häuslichen Gemeinschaft lebendes Familienmitglied Straftaten be-
gangen hat, und wie viele Personen waren betroffen (vgl. § 104a Abs. 3
Satz 1 AufenthG; bitte nach Bundesländern differenzieren)?

d) Wie viele Anträge wurden insbesondere deshalb abgelehnt, weil die ge-
forderten Aufenthaltszeiten nicht erfüllt waren (bitte nach Bundesländern
differenzieren)?

e) Falls nur einzelne Bundesländer Angaben zu den oben genauer erfragten
Ablehnungsgründen gemacht haben sollten, was für Angaben waren dies
und welches Bild ergibt sich hieraus zumindest in Bezug auf die Aus-
kunft gebenden Bundesländer?

f) Welche genaueren Angaben zu den Gründen der Ablehnung von Aufent-
haltserlaubnissen nach der IMK-Bleiberechtsregelung waren es, die zu-
mindest einzelne Bundesländer der Bundesregierung übermittelt haben
(vgl. Frage und Antwort zu 6. in Bundestagsdrucksache 16/7089 sowie
Frage und Antwort zu 14. in Bundestagsdrucksache 16/7374)?

4. Wie viele der in Frage 1 benannten Anträge wurden noch nicht beschieden,
und welche Gründe hierfür sind der Bundesregierung bekannt (bitte nach
Bundesländern differenzieren)?

5. Wie viele geduldete oder gestattete Personen, die sich zum 1. Juli 2007 seit
sechs bzw. acht Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten und
damit prinzipiell antrags- bzw. bleibeberechtigt sind, hatten bis zum
1. Januar 2008 noch keinen Antrag nach der gesetzlichen Altfallregelung ge-
stellt?

6. Hält es die Bundesregierung mit dem Sinn und Zweck der Altfallregelung
für vereinbar, wenn die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Alt-
fallregelung davon abhängig gemacht wird, ob die Betroffenen prognostisch
bis zum Rentenalter in der Lage sein werden, die Voraussetzungen für eine
auskömmliche Rente in Deutschland zu schaffen (bitte begründen)?

Wie schätzt sie allgemein die Aussichten von älteren Arbeitnehmern der
unteren Einkommensschichten ein, sich eine auskömmliche Rente zu er-
arbeiten?

7. Ist der Bundesregierung das Urteil des Amtsgerichts Bernau – 5 Ls 212
Js 18621/06 (21/07) vom 3. August 2007 – bekannt, in dem ausgeführt wird,
dass die sog. Sippenhaftregelung des § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach
Überzeugung des Gerichts verfassungswidrig ist (nämlich ein Verstoß gegen
die Würde des Menschen, gegen das Diskriminierungsverbot und gegen den
Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, vgl. a. a. O., S. 18 ff.)?

a) Welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

b) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung insbesondere aus
dem Umstand, dass das Amtsgericht in dem benannten Urteil feststellt,
dass es sich mit Ausnahme schwerster Verbrechen aufgrund der sog. Sip-
penhaftregelung des § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG daran gehindert
sieht, bei geduldeten Straftätern überhaupt noch Jugendstrafen zu verhän-
gen, sofern diese nämlich dazu führen würden, dass der gesamten Familie
des jugendlichen Straftäters eine Aufenthaltserlaubnis nach der gesetz-
lichen Altfallregelung versagt werden könnte und dies eine verfassungs-

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widrig harte Sanktion wäre, die auch nicht mehr als erzieherisch positiv
wirksam angesehen werden könne (vgl. ebd., S. 16)?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung die Wahrscheinlichkeit, dass auch bei
erwachsenen Straftätern im Hinblick auf die mögliche Folgewirkung
eines Ausschlusses sämtlicher Familienangehöriger von der gesetzlichen
Altfallregelung von den Gerichten geringere Strafen als eigentlich ange-
messen ausgesprochen werden (z. B. in Hinblick auf § 46 Abs. 1 StGB)?

d) Wird die Bundesregierung angesichts der Feststellung des Amtsgerichts
Bernau im o. g. Urteil, wonach der Gesetzgeber mit der nach Ansicht des
Gerichts verfassungswidrigen sog. Sippenhaftregelung des § 104a Abs. 3
Satz 1 AufenthG eine im Hinblick auf den „frühzeitigen Schutz der
Bevölkerung“ „kontraproduktive Regelung herbeigeführt“ habe (ebd.,
S. 17), eine Initiative zur Rückgängigmachung der auch im Gesetzge-
bungsverfahren hoch umstrittenen sog. Sippenhaftregelung starten, und
wenn nein, warum nicht?

e) Kennt die Bundesregierung andere Strafurteile, in denen die sog. Sippen-
haftregelung des § 104a Abs. 3 Satz 1 AufenthG von Gerichten als ver-
fassungswidrig beurteilt und/oder zum Anlass für mildere Strafen
genommen wurde, wenn ja, welche sind dies, und welche Schlussfolge-
rungen zieht die Bundesregierung hieraus?

Berlin, den 12. Februar 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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