BT-Drucksache 16/7930

Übertragbarkeit der Ergebnisse der aktuellen Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken auf kerntechnischen Anlagen in Karlsruhe, insbesondere die Wiederaufarbeitungsanlage

Vom 25. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7930
16. Wahlperiode 25. 01. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Bettina
Herlitzius, Winfried Hermann, Peter Hettlich, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn,
Dr. Anton Hofreiter, Undine Kurth (Quedlinburg), Nicole Maisch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Übertragbarkeit der Ergebnisse der aktuellen Studie zu Kinderkrebs in der
Umgebung von Kernkraftwerken auf kerntechnischen Anlagen in Karlsruhe,
insbesondere die Wiederaufarbeitungsanlage

Das Forschungszentrum Karlsruhe wurde ursprünglich 1956 als Reaktorbau-
und Betriebsgesellschaft mbH gegründet. Seitdem wurden an diesem Standort
über Jahrzehnte hinweg verschiedene kerntechnische Anlagen betrieben, u. a.
ein schneller Brüter, ein „Mehrzweck-Reaktor“, eine „Versuchs“-Wiederaufar-
beitungsanlage (WAK), eine Sammelstelle für mittelaktiven Atommüll und eine
Atommüllverbrennungsanlage.

Die KNK II (Kompakte Natriumgekühlte Kernreaktoranlage) mit 20 MW elek-
trischer Leistung wurde zunächst von 1971 bis 1974 mit einem thermischen Re-
aktorkern als KNK I und dann von 1977 bis 1991 mit einem schnellen Reaktor-
kern als Schnellbrüterkraftwerk KNK II betrieben. Sie diente als Versuchsanlage
für den Bau des Schnellen Brüters SNR 300 in Kalkar. Mit der politischen Ent-
scheidung der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen Anfang der 1990er
Jahre, den Brutreaktor in Kalkar nicht in Betrieb zu nehmen, wurden auch die
Forschungsprojekte zum Schnellen Brüter abgebrochen. Der KNK II wurde am
23. August 1991 abgeschaltet.

Der Mehrzweckforschungsreaktor (MZFR) des Forschungszentrums Karlsruhe,
ein schwerwassergekühlter und -moderierter Druckwasserreaktor, wurde nach
über 19 Jahre Betrieb am 3. Mai 1984 abgeschaltet. Der Reaktor verfügte über
eine thermische Leistung von 200 MW und eine elektrische Leistung von
57 MW. Zweck der Anlage war das Sammeln von Erfahrungen für die Planung,
Errichtung und Betrieb von Schwerwasser-Reaktorsystemen und das Testen von
Brennelementen und Werkstoffen.

Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) wurde vom Forschungszent-
rum Karlsruhe in den Jahren 1967 bis 1970 als Pilotanlage für eine kommer-
zielle Wiederaufarbeitungsanlage errichtet. Seit 1971 führte die WAK Betriebs-
gesellschaft mbH den Betrieb der Anlage durch und hat bis zum Jahresende

1990 ca. 200 Tonnen Kernbrennstoffe aus Versuchs- und Leistungsreaktoren
aufgearbeitet. Am 30. Juni 1991 wurde der Betrieb der Anlage in Karlsruhe end-
gültig eingestellt und im gleichen Jahr noch beschlossen der Bund, das Land
Baden-Württemberg und die Energieversorgungs-Unternehmen, die WAK still-
zulegen und vollständig bis 2010 rückzubauen. Die während der 19-jährigen
Betriebszeit angefallenen hochradioaktiven Flüssigabfälle (ca. 60 m³ HAWC)

Drucksache 16/7930 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sollen an Ort und Stelle in Glas eingebunden werden. Hierfür befindet sich am
Standort Karlsruhe eine Anlage, die Verglasungseinrichtung Karlsruhe (VEK).
Das Stilllegungskonzept für die komplette Beseitigung der Anlage bis zur „Grü-
nen Wiese“ sieht acht Rückbauschritte vor. Zurzeit befindet sich der MZFR im
siebten Rückbauschritt. Die Genehmigung des 8. Stilllegungsschrittes wurde am
31. Januar 2007 erteilt. Nach dem geltenden Zeitplan ist das Ziel „ Grüne Wiese“
2010 erreicht.

Zahlreiche Unregelmäßigkeiten und Störfälle des Kernforschungszentrums
sind bislang dokumentiert. Von den Aktivitäten der Vergangenheit geblieben
sind Atommüll und Schadstoffe, die u. a. beim „Probebetrieb“ der WAK frei-
gesetzt wurden. So sind beispielsweise die im Hirschkanal beim Forschungs-
zentrum Karlsruhe festzustellenden deutlich erhöhten Cs-137-Gehälte über-
wiegend auf Ableitungen der früheren Jahre über den Luftpfad aus den dortigen
kerntechnischen Anlagen zurückzuführen. Nachgewiesen wurde dort auch
Americium-241, das aus dem Vorgängernuklid Plutonium-241 entsteht und vor
allem aus der früheren Aufarbeitung abgebrannter Brennelemente und aus der
Abfallbehandlung stammt. Die Anreicherung von Grundwasservorkommen in
der Umgebung des Forschungszentrums Karlsruhe mit Tritium ist auf früher
stattgefundene Austauscheffekte des in der Nähe befindlichen Rheinniede-
rungskanals zurückzuführen, der über mehrere Jahrzehnte als Vorfluter für
tritiumhaltige Abwässer des Forschungszentrums Karlsruhe gedient hat.

Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe verfügte über viele Jahre über kei-
nerlei Filter für radioaktives Jod. Bis heute werden im Forschungszentrum plu-
toniumhaltige Abfälle aus Atomanlagen in der HDB (Hauptabteilung Dekonta-
minationsbetriebe) verbrannt. Auch heute spielen die „nukleare Sicherheitsfor-
schung“ und die Kernfusionsforschung im Forschungszentrum Karlsruhe eine
wichtige Rolle. Die geplante Verglasung der hochradioaktiven Abfälle aus der
WAK (geschätzte Kosten inzwischen über 2,2 Mrd. Euro) ist mit erheblichen
radioaktiven Emissionen verbunden.

Eine vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Auftrag gegebene so genannte
Fall-Kontroll-Studie (KiKK-Studie – Kinderkrebs in der Umgebung von Kern-
kraftwerken) weist erstmals unter Anwendung eines fundierten wissenschaftlich
Studiendesigns nach, dass das Risiko für unter 5-jährige Kinder an Leukämie zu
erkranken, mit zunehmender Nähe des Wohnorts zu einem Kernkraftwerksstand-
ort zunimmt. Die vom Kinderkrebsregister durchgeführte epidemiologische Stu-
die zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie) hat
die baden-württembergische Kernkraftstandorte Philippsburg, Neckarwestheim
und Obrigheim betrachtet. Nicht mit einbezogen wurden die kerntechnischen
Anlagen des Forschungszentrums Karlsruhe. Deshalb stellt sich gerade für die
Umgebung des Forschungszentrums Karlsruhe die Frage, inwieweit hier Hin-
weise auf ein erhöhtes Erkrankungsrisiko vorliegen und welche weitere Unter-
suchungen auf der Grundlage der KiKK-Studie als sinnvoll und notwendig er-
scheinen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Gibt es nach Erkenntnis der Bundesregierung Hinweise auf ein erhöhtes
Krebserkrankungsrisiko bei Kindern und/oder Erwachsenen in der Um-
gebung des Forschungszentrums Karlsruhe, und falls ja, bzgl. welcher
Krebserkrankungen (z. B. Leukämie, Lungenkrebs, Schilddrüsenerkran-
kungen)?

2. Wie viele Erkrankungsfälle von Kindern unter 5 bzw. unter 15 Jahre an Leu-
kämie sind in Entfernung von 5 bzw. 15 km vom Forschungszentrum Karls-
ruhe seit 1980 bekannt geworden, und wie viele Erkrankungsfälle wären in

der Umgebung des Forschungszentrums Karlsruhe bei Annahme eines nicht
erhöhten Erkrankungsrisikos in diesem Zeitraum zu erwarten gewesen?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7930

3. Welcher Untersuchungsbedarf ergibt sich nach Ansicht der Bundesregierung
aus den Ergebnissen der KiKK-Studie in Bezug auf das Forschungszentrum
Karlsruhe?

4. Wie hoch war nach Erkenntnis der Bundesregierung die von den kerntech-
nischen Anlagen im Forschungszentrum Karlsruhe im Zeitraum 1980 bis
2007 ausgehende Strahlenbelastung, und wie hoch war dazu im Vergleich die
vom Kernkraftwerk Philippsburg ausgehende Strahlenbelastung im gleichen
Zeitraum?

5. Wie ist die von den kerntechnischen Anlagen im Forschungszentrum Karls-
ruhe im genannten Zeitraum ausgegangene Strahlenbelastung und Belastung
mit radioaktiven Stoffen insgesamt im Vergleich zu den von den in der
KiKK-Studie betrachteten Kernkraftwerken ausgehenden Belastungen zu be-
werten?

6. Wie wird sich die vom Forschungszentrum ausgehende Strahlenbelastung
nach Erkenntnis der Bundesregierung verändern, wenn mit der Verglasung
der aus der ehemaligen Wiederaufarbeitungsanlage (WAK) stammenden
hochradioaktiven Abfälle (HAWC) begonnen wird?

7. Wie hoch waren die mittleren Tritium-Aktivitätskonzentrationen von Grund-
und Trinkwasser und des Oberflächenwassers im Rheinniederungskanal
1990 und 2007, und inwieweit bestehen gegen eine Trinkwassergewinnung
im Bereich des Forschungszentrums gesundheitliche Bedenken?

8. Liegt für die am 26. April 2005 von den EWN beim Bundesamt für Strahlen-
schutz beantragte Einlagerung von hochradioaktivem Atommüll für das Zwi-
schenlager Nord (ZLN) der Energiewerke Nord GmbH (EWN) inzwischen
eine Genehmigung vor?

9. Gibt es nach Erkenntnis der Bundesregierung Gründe, die im Hinblick auf
das Genehmigungsverfahren für die Zwischenlagerung einem Rückbau bis
2010 entgegenstehen?

Berlin, den 25. Januar 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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