BT-Drucksache 16/7832

Ethnisierung der Debatte um Jugendkriminalität und Änderungen im Jugendstrafrecht

Vom 22. Januar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7832
16. Wahlperiode 22. 01. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Jan Korte, Kersten Naumann, Jörn
Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ethnisierung der Debatte um Jugendkriminalität und Änderungen
im Jugendstrafrecht

Nach einem brutalen Angriff zweier Jugendlicher auf einen Rentner in der
Münchner U-Bahn Ende Dezember 2007 griffen Politiker von CDU und CSU
diesen und ähnliche Fälle mit der Forderung nach Verschärfung des Jugendstraf-
rechts auf. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) erklärte, es ge-
be „zu viele junge kriminelle Ausländer“ und forderte schnellere Abschiebung
ausländischer Straftäter und schärfere Gesetze gegen Jugendgewalt.

Unterstützung bekam Roland Koch von der Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel, die sich ebenfalls für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts aussprach
und die Einführung von „Warnschussarrest“ sowie Erziehungscamps forderte
(Bild am Sonntag, 6. Januar 2008).

Die Innen- und Justizminister der unionsregierten Bundesländer haben Mitte
Januar ihre Forderungen nach Gesetzesverschärfungen teilweise präzisiert und
einen Zehn-Punkte-Plan verabschiedet, der eine Reihe von Verschärfungen vor-
sieht.

Kriminologen kritisieren diese Vorschläge scharf. „Wegsperren ist kontrapro-
duktiv, Wegsperren ist keine Lösung“, warnt der Hamburger Kriminologe Pro-
fessor Fritz Sack. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Nieder-
sachsen, Christian Pfeiffer, lehnt härtere Strafen und Erziehungslager als „teure
Illusionen mit hohen Rückfallquoten“ ab und fordert mehr Investitionen in
Schulen statt in Gefängnisse (Berliner Kurier, 3. Januar 2008). Vertreter des
Deutschen Richterbundes und des Deutschen Anwaltsvereins bezeichneten die
bestehenden Gesetze als ausreichend (Berliner Zeitung, 8. Januar 2008).

In der öffentlichen Debatte wird konsequent an einer Ethnisierung des Problems
gearbeitet und der Eindruck erweckt, Jugendgewalt sei vor allem ein Problem
von Immigranten. Das vorhandene empirische Material vermag das allerdings
nicht zu bestätigen. Dies wird zum Teil auch von Angehörigen der Union ver-
merkt (die „Ethnisierung des Problems hilft uns nicht weiter“, sagt die CDU-
Politikerin Emine Demirbüken-Wegner im taz Interview am 11. Januar 2008).

Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik verzeichnet seit Jahren einen Rückgang

des Anteils nichtdeutscher Tatverdächtiger bei den Gewaltdelikten. Selbst wo
die Gesamtzahl der Delikte zunimmt, sinkt der Anteil der nichtdeutschen Tatver-
dächtigen; diese Beobachtungen lassen sich sowohl bei Jugendlichen, Heran-
wachsenden als auch Jungerwachsenen machen.

Eine Ethnisierung des Problems ist aber schon deswegen hochproblematisch,
weil Kategorien wie „Volk“ oder „Ethnie“ nicht wissenschaftlich fassbar sind.
Eine Unterscheidung zwischen Tatverdächtigen mit und ohne deutschen Pass ist

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außerdem unsachlich, weil sie die soziodemographische Differenzierung nicht
berücksichtigt. Nichtdeutsche Jugendliche haben andere Startbedingungen als
deutsche Jugendliche – und zwar ganz überwiegend schlechtere: Sie sind mehr
von Arbeitslosigkeit und Verarmung betroffen, sie haben schlechtere Bildungs-
abschlüsse, sie leiden unter einem sozial selektiven Bildungssystem und Diskri-
minierungen bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche. Sie leben häufiger in
Großstädten mit allgemein höherer Kriminalitätsrate. Hinzu kommen weitere
Faktoren: Der höhere Anteil junger Männer bei den Nichtdeutschen und die oft-
mals unsichere Aufenthaltsperspektive. Im Zweiten Periodischen Sicherheitsbe-
richt der Bundesregierung von 2006 wird das „Erlebnis fehlender Akzeptanz
und Gleichbehandlung“ genannt. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik weist
keine Differenzierung hinsichtlich der genannten strukturellen Bevölkerungsun-
terschiede auf und kommt daher zu dem Fazit: „Die Kriminalitätsbelastung der
Deutschen und Nichtdeutschen ist zudem aufgrund der unterschiedlichen struk-
turellen Zusammensetzung […] nicht vergleichbar.“ Das wirft dann allerdings
die Frage auf, warum die Statistik dennoch einen solchen Vergleich vornimmt
und Tatverdächtige nicht nach sozialen Gesichtspunkten, sondern nach Staats-
angehörigkeit aufgliedert.

Bezeichnend für die gegenwärtige Debatte ist, dass sich die rechtsextreme NPD
bei Roland Koch bedankt. NPD-Chef Udo Voigt sieht sich durch die Kampagne
der Unionspolitiker in seinen Positionen ermutigt und erwartet wachsenden
Wählerzuspruch (Presseerklärung der NPD vom 8. Januar 2008).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sieht die Bundesregierung Gesetzes- und Regelungslücken beim Jugend-
strafrecht, und wenn ja, welche grundsätzlichen Schwerpunkte will sie setzen?

2. Erwägt die Bundesregierung konkrete Maßnahmen im strafrechtlichen Be-
reich, und wenn ja, welche, mit welcher Begründung, und auf welche wissen-
schaftlich erhobenen Daten stützt sie sich dabei (bitte genau angeben)?

3. Erwägt die Bundesregierung zur Kriminalitätsprävention Maßnahmen zur
Armutsbekämpfung, zur verbesserten Integration und weitere konkrete Maß-
nahmen im sozial- und bildungspolitischen Bereich, und wenn ja, welche?

4. Wie begründet die Bundesregierung möglicherweise geplante Gesetzesver-
schärfungen angesichts von Expertenstimmen (wie etwa Vertretern der Bun-
desrechtsanwaltskammer und des Deutschen Anwaltsvereins), dass schärfere
Strafen nicht geeignet seien, Gewalttätigkeiten zu verhindern?

5. Welche Position nimmt die Bundesregierung im Konflikt zwischen dem Bun-
desminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, ein, der Agenturmeldungen
zufolge die Forderungen der Unions-Innenminister der Länder nach Strafver-
schärfungen und „Warnschussarrest“ begrüßt, und der Bundesministerin der
Justiz, Brigitte Zypries, die darauf hinweist, dass Jugendliche nach Haft- und
Arrestverbüßung höhere Rückfallquoten aufweisen (Stern, 31. Dezember
2007) (bitte begründen)?

6. Welche konkreten Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Rückfall-
quote bei Jugendlichen mit und ohne Haft-/Arrestaufenthalten?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Ethnisierung des Problems Jugendkri-
minalität?

a) Wie positioniert sie sich zu Forderungen, zwecks Bekämpfung der Ju-
gendkriminalität ausländerrechtliche Vorschriften zu verschärfen, und
welche Berücksichtigung erfährt dabei der Umstand, dass laut Polizei-
licher Kriminalstatistik (PKS) der Anteil deutscher Tatverdächtiger bei
Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen im Bereich der

Körperverletzungsdelikte steigt und der Anteil nichtdeutscher Tatverdäch-
tiger sinkt?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7832

b) Teilt die Bundesregierung die auf die PKS und den Periodischen Sicher-
heitsbericht (PS2) gestützte Ansicht der Fragesteller, dass die Kriminali-
tätsbelastung deutscher und nichtdeutscher Jugendlicher aufgrund unter-
schiedlicher soziodemographischer Faktoren nicht sinnvoll vergleichbar
ist, und wenn nein, warum nicht?

c) Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass im Krimina-
litätsbereich soziale, nicht aber ethnische Faktoren zu berücksichtigen
sind, und wenn nein, warum nicht?

8. Treffen Medienberichte zu, denen zufolge beabsichtigt ist, in der PKS künf-
tig auch die nationale bzw. „ethnische Herkunft“ von Tatverdächtigen zu er-
fassen, und wenn ja, welche zusätzlichen Erkenntnisse verspricht sich die
Bundesregierung hiervon?

a) Wie soll gegebenenfalls die Erfassung der „ethnischen Herkunft“ bzw.
„Volks“-Zugehörigkeit operationalisiert werden, bzw. welche „objekti-
ven“ Kriterien sollen der Erfassung von „ethnischer“ Herkunft/Zugehö-
rigkeit dienen?

b) Ist geplant, Eingebürgerte unbefristet im Ausländerzentralregister oder
anderen Dateien zu speichern?

c) Bis in welche Generation hinein sollen gegebenenfalls derartige „Her-
kunftsnachweise“ geführt werden?

d) Welche Dateien existieren im Bereich des Innen- und des Justizministe-
riums, die neben der Staatsangehörigkeit auch „Volkszugehörigkeit“
bzw. die „ethnische Herkunft“ von Personen erfassen?

e) Ist ebenfalls geplant, auch den Bildungsabschluss von Tatverdächtigen
zu erfassen, und wenn nein, warum nicht?

f) Ist ebenfalls geplant, die Einkommensverhältnisse von Tatverdächtigen
zu erfassen, und wenn nein, warum nicht?

g) Ist geplant, andere soziale Lebensumstände der Tatverdächtigen zu erfas-
sen, um zu sinnvoll vergleichbaren Erkenntnissen zu kommen, und wenn
ja, welche, wenn nein, warum nicht?

9. Welche Aussagekraft hat nach Meinung der Bundesregierung die Polizei-
liche Kriminalitätsstatistik über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung
in der Bundesrepublik Deutschland?

a) Inwieweit berücksichtigt die Bundesregierung dabei Expertenmeinun-
gen, die höhere Zahlen vorrangig auf verändertes Anzeigeverhalten und
weniger auf tatsächlich gestiegene Deliktzahlen zurückführen?

b) Auf welche Werte, Zahlen und Erkenntnisse stützt sich die Bundesregie-
rung bei ihrer Ansicht (bitte genau benennen)?

10. Beabsichtigt die Bundesregierung, vor möglichen Gesetzesänderungen im
Bereich des Jugendstrafrechts eine wissenschaftliche Studie in Auftrag zu
geben, die sozialstrukturelle Bedingungen berücksichtigt und ebenfalls
Auskunft über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung gibt (bitte etwa
vorhandene Planungen benennen)?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Ethnisierung der Jugendkriminali-
tätsdebatte vor dem Hintergrund, dass sich hierdurch die rechtsextreme
NPD bestätigt sieht, und welche Maßnahmen will sie ergreifen, um den ras-
sistischen Untertönen in der Debatte entgegenzuwirken?

12. Inwieweit hält die Bundesregierung Erziehungslager nach dem Vorbild

US-amerikanischer Bootcamps für ein geeignetes Mittel gegen Jugendkrimi-
nalität?

Drucksache 16/7832 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
13. Welche Erfahrungen mit US-amerikanischen Bootcamps sind der Bundes-
regierung bekannt, und wie bewertet sie diese?

Berlin, den 22. Januar 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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