BT-Drucksache 16/7633

Integrationsverhindernder Umgang mit Kindersoldaten im deutschen Asylsystem

Vom 19. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7633
16. Wahlperiode 19. 12. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Heike Hänsel, Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra
Pau und der Fraktion DIE LINKE.

Integrationsverhindernder Umgang mit Kindersoldaten im deutschen Asylsystem

Obwohl internationale Abkommen den Einsatz von minderjährigen Soldaten
verbieten, werden weltweit über 250 000 Kinder und Jugendliche als Soldaten
und Soldatinnen eingesetzt, bis zu 40 Prozent sind Mädchen. Die meisten Kin-
dersoldaten gibt es auf dem afrikanischen Kontinent, aber auch in Asien, im
Nahen Osten und in Bürgerkriegen in Lateinamerika werden Kinder als Solda-
ten und Soldatinnen missbraucht. Viele dienen bereits mit acht oder neun Jahren
in Milizen, aber auch in regulären Truppen, und werden häufig zu entsetzlichen
Grausamkeiten gezwungen (http://www.unicef.de/index.php?id=4827). Nach
einer aktuellen Studie von Kinderpsychiaterinnen und -psychiatern der Ambu-
lanz für Flüchtlingskinder, ein Projekt der Stiftung Children for Tomorrow
und der Universitätsklinik Hamburg Eppendorf mit Unterstützung u. a. von
UNICEF in Uganda und der Demokratischen Republik Kongo, litten über ein
Drittel der untersuchten ehemaligen Kindersoldaten unter schweren posttrauma-
tischen Belastungsstörungen.

Trotzdem haben ehemalige Kindersoldaten im deutschen Asylverfahren kaum
eine Chance. Die Gruppe der 16- und 17-jährigen unbegleiteten Minderjährigen
steht vor ganz besonderen Problemen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die
UN-Kinderrechtskonvention nur mit einem Vorbehalt ratifiziert, so dass bei
jungen Flüchtlingen das Asyl- und Ausländerrecht Vorrang hat vor dem Kinder-
und Jugendhilfegesetz (KJHG) und anderen Gesetzen zum Schutz von Kindern
und Jugendlichen. Konkret bedeutet dies, dass diese Jugendlichen asylverfah-
rensfähig sind. Aufgrund dieser Regelung werden sie wie Erwachsene behan-
delt. Von der Bestellung eines Vormundes wird oft abgesehen. Viele Jugendäm-
ter fühlen sich nicht zuständig. Der Aufenthaltsstatus ist in den meisten Fällen
eine Duldung. Dieser Status ist durch große Unsicherheit gekennzeichnet und
mit sehr vielen Restriktionen versehen. Die Integration der Kinder und Jugend-
lichen wird damit verhindert. Schulbildung ist lediglich eingeschränkt möglich,
Berufsausbildung und Erwerbsarbeit sind häufig unmöglich. Die Kinder und
Jugendlichen fühlen sich von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen
und speziell die Residenzpflicht empfinden sie als Freiheitsentzug. Die Un-
sicherheit des Aufenthaltsstatus und die damit verbundene ständige Abschiebe-
drohung behindern die soziale und psychische Stabilisierung der Kinder und

Jugendlichen und wirken einem erfolgreichen Therapieverlauf häufig entgegen.

Drucksache 16/7633 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass ehemalige Kindersoldaten trotz
häufig vorliegender Traumatisierungen und Sprachschwierigkeiten (allein) in
der Lage sind, ein Asylverfahren zu bestreiten?

a) Wie verträgt sich der bundesdeutsche Grundsatz einer angeblichen „Asyl-
mündigkeit“ bereits ab 16 Jahren mit der besonderen Lage und psychi-
schen Konstitution ehemaliger Kindersoldaten?

b) Müssten angesichts der bei ehemaligen Kindersoldaten typischen Ent-
wicklungsverzögerung bzw. besonderen Schutzbedürftigkeit die Grund-
sätze und Bestimmungen für den Umgang mit Minderjährigen in diesen
Fällen nicht z. B. bis zu einem Alter von 21 Jahren gelten (bitte begrün-
den)?

c) Wie wird dem Umstand Rechnung getragen, dass nur wenige ehemalige
Kindersoldaten in der Lage sein dürften, bei einer Erstanhörung oder auch
überhaupt über die von ihnen erlebten Gräueltaten umfassend und wider-
spruchsfrei zu berichten, wie es im Asylverfahren normalerweise verlangt
wird?

2. Inwieweit wird der besonderen Situation und psychischen Konstitution von
ehemaligen Kindersoldaten im Asylverfahren, in der Betreuung, Unterbrin-
gung und (medizinischen) Versorgung der Kinder Rechnung getragen?

3. Erhalten die Kinder in jedem Fall die erforderliche psychologische Betreuung/
Behandlung bzw. wie ist diese angesichts der Einschränkung der medizini-
schen Versorgung von Asylsuchenden nach § 4 des Asylbewerberleistungs-
gesetzes – AsylbLG – (Behandlung nur bei akuten Erkrankungen und
Schmerzzuständen) bzw. § 6 AsylbLG (sonstige erforderliche Behandlung
lediglich als Kann-Leistung)?

4. Wie verhält sich die Bundesregierung zu der in dem Bericht der Europäischen
Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 26. November
2007 zum Ausdruck kommenden Kritik, Deutschland habe die so genannte
Aufnahmerichtlinie (2003/9/EG vom 26. November 2007) insbesondere in
Bezug auf besonders schutzbedürftige Asylsuchende (wie z. B. Kindersolda-
ten) ungenügend umgesetzt?

a) Wie wird angesichts des Umstandes, dass in Deutschland kein Identifizie-
rungsverfahren für besonders schutzbedürftige Asylsuchende besteht (vgl.
Bericht der Europäischen Kommission, 3.5.1), die besondere Schutzbe-
dürftigkeit ehemaliger Kindersoldaten ermittelt, und welche unmittelbaren
Konsequenzen ergeben sich aus der etwaigen Feststellung einer solchen
besonderen Schutzbedürftigkeit?

b) Wie rechtfertigt die Bundesregierung die Möglichkeit einer Unterbrin-
gung von ehemaligen Kindersoldaten ab 16 Jahren in Asylunterkünften
für Erwachsene, und inwieweit ist dies mit der Aufnahmerichtlinie verein-
bar (vgl. Bericht der Europäischen Kommission, 3.5.2)?

c) Ist die Ingewahrsamnahme von ehemaligen Kindersoldaten in Deutsch-
land möglich (unter 16 Jahre, 16 bis 18 Jahre, über 18 Jahre), und wie ist
dies mit den Schutzbestimmungen der Aufnahmerichtlinie vereinbar (vgl.
Bericht der Europäischen Kommission, 3.5.2)?

5. Unter welchen Umständen werden Kindersoldaten nach dem deutschen
Asylrecht, in der Rechtsprechung bzw. in der Prüfpraxis des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge (bitte jeweils getrennt beantworten) als politisch
Verfolgte, als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder

als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt (bitte ebenfalls nach Anerken-
nungsgrundlage differenzieren)?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7633

a) Wie viele ehemalige Kindersoldaten wurden vom Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge in den letzten Jahren jeweils auf welcher Rechts-
grundlage anerkannt?

b) Werden ehemalige Kindersoldaten in der Verfahrenspraxis des Bundes-
amtes für Migration und Flüchtlinge als eine bestimmte soziale Gruppe im
Sinne des Artikels 10 Abs. 1d der so genannten EU-Qualifikationsrichtli-
nie (2004/83/EG) angesehen und behandelt, weil alle Kindersoldaten den
nicht veränderbaren Hintergrund teilen, dass sie wegen ihres Alters beson-
ders leicht einzuschüchtern sind und zu besonders „gefügigen“/skrupel-
losen Soldatinnen und Soldaten „ausgebildet“ werden können und gerade
deshalb entführt und zum Militärdienst gezwungen werden (wenn nein,
bitte begründen)?

c) Inwieweit werden ehemalige Kindersoldaten lediglich als „Fahnenflücht-
linge/Deserteure“ betrachtet, und unter welchen Umständen werden De-
serteure im deutschen Asylrecht, in der Rechtsprechung bzw. in der Prüf-
praxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (bitte jeweils
getrennt beantworten) als politisch Verfolgte, als Flüchtlinge im Sinne der
Genfer Flüchtlingskonvention oder als subsidiär Schutzberechtigte aner-
kannt (bitte ebenfalls nach Anerkennungsgrundlage differenzieren)?

d) Inwieweit muss bei der Desertion von Kindersoldaten grundsätzlich von
politischen Verfolgungsgründen ausgegangen werden, weil die Vorausset-
zungen des Artikels 9 Abs. 2e der EU-Qualifikationsrichtlinie erfüllt sind,
da der Einsatz von Kindersoldaten regelmäßig in völkerrechtswidrig ge-
führten Kriegen erfolgt (bitte ausführlich begründen)?

e) Unter welchen Umständen erhalten ehemalige Kindersoldaten einen asyl-
rechtsunabhängigen Schutz, z. B. aufgrund humanitärer Gründe?

6. Sieht die Bundesrepublik Deutschland einen Widerspruch zum Fakultativ-
protokoll zur UN-Kinderrechtskonvention über die Beteiligung von Kindern
an bewaffneten Konflikten, das 2004 vom Deutschen Bundestag ratifiziert
wurde, wenn einerseits der Einsatz von Minderjährigen als Soldaten und
Soldatinnen in afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern
kritisiert wird, andererseits aber bereits 17-Jährige für die Bundeswehr rekru-
tiert werden können?

7. Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung zum Schutz von Kindern,
die als Flüchtlinge vor der Rekrutierung und dem Einsatz als Soldaten nach
Deutschland fliehen, im Rahmen der von ihr auf der Ministerkonferenz „Be-
freit Kinder vom Krieg“ in Paris am 5. und 6. Februar 2007 eingegangenen
Verpflichtungen – die so genannten Pariser Prinzipien – unternommen?

Berlin, den 17. Dezember 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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