BT-Drucksache 16/7592

Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und Pressemitteilungen des Bundesministeriums des Inneren

Vom 13. Dezember 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/7592
16. Wahlperiode 13. 12. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Jan Korte und der
Fraktion DIE LINKE.

Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und
Pressemitteilungen des Bundesministeriums des Innern

Die offizielle Asylstatistik des Bundsamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) hat in zweierlei Hinsicht eine enorme Bedeutung für die Diskussion
über Flucht und Asyl: Zum einen wird die Zahl der Asylanträge häufig (fälsch-
lich) mit der Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge gleichgesetzt.
Zum anderen wird die Quote der Anerkennung bzw. Ablehnung häufig (fälsch-
lich) als Maß der berechtigten bzw. missbräuchlichen Asylgesuche angesehen.
Umso wichtiger ist in diesem Zusammenhang eine sachlich genaue Erfassung,
Analyse und Darstellung der Daten und Sachverhalte.

Die Zahl der Asylanträge ist nicht mit der Zahl der nach Deutschland geflohenen
Menschen identisch. Asylanträge werden zum Beispiel auch von Amts wegen
für in Deutschland geborene Kinder von Asylsuchenden gestellt. Von Januar
2005 bis Oktober 2006 betraf dies allein 27 Prozent aller Asylerstanträge (vgl.
Antwort der Bundesregierung vom 6. Dezember 2006 auf die schriftliche Frage 8
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Bundestagsdrucksache 16/3775, S. 5). Weitere
Asylsuchende werden aufgrund der so genannten Dublin-II-Verordnung in ein
anderes Mitgliedsland der Europäischen Union überstellt. Im Jahr 2006 war dies
bei 23,8 Prozent aller Asylerstanträge der Fall.

Die Quote der nicht anerkannten Asylanträge kann nicht mit einer angeblich
missbräuchlichen Asylsuche gleichgesetzt werden. So stellt z. B. die Flucht vor
Krieg und Bürgerkrieg keinen Asylgrund dar, sondern führt zur Ablehnung
eines Asylantrages als „offensichtlich unbegründet“. Auch Einstellungen der
von Amts wegen eingeleiteten Verfahren und formelle Entscheidungen nach der
Dublin-II-Verordnung sind kein Indiz für einen Missbrauch.

Eine verzerrte Wahrnehmung entsteht, wenn die Zahl der Anerkennungen auf
alle (auch formellen) Entscheidungen bezogen wird und nicht auf die tatsäch-
lich inhaltlich entschiedenen Asylanträge. Zudem werden als Anerkennungen
häufig lediglich Anerkennungen nach Artikel 16a des Grundgesetzes (GG) ge-
wertet. Die meisten Anerkennungen der Flüchtlingseigenschaft erfolgen jedoch
auf der Grundlage des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ent-

sprechend der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), hinzu kommt die Gewäh-
rung so genannten subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, etwa
wegen Gefahren für Leib und Leben, wegen der Gefahr von Folter oder einer
Todesstrafe oder unmenschlicher Behandlung.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verwendet den Begriff
„Gesamtschutzquote“, die all diese Formen der Anerkennung umfasst und
wesentlich höher liegt als die isolierte Quote der Asylanerkennungen nach

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Artikel 16a GG (vgl. Migration, Asyl und Integration in Zahlen, 14. Auflage,
S. 50). In den monatlichen Pressemitteilungen des Bundesministeriums des
Innern wird diese Gesamtschutzquote jedoch nicht ausdrücklich benannt, son-
dern lediglich die für Fachfremde nur schwer einzuschätzenden einzelnen Quo-
ten aufgrund unterschiedlicher Rechtsgrundlagen. Dies führte beispielsweise
dazu, dass die Anerkennungsquote vom Oktober 2007 von allen großen Presse-
agenturen durchgehend mit „nur 1,1 Prozent“ (z. B. epd vom 8. November
2007) wiedergegeben und zugleich nicht erwähnt wurde, dass die gewährte
Gesamtschutzquote in diesem Monat außergewöhnlich hohe 40,4 Prozent be-
trug.

Die regelmäßigen monatlichen Pressemitteilungen des Bundesministeriums
des Innern weisen auch nicht die Zahl der Widerrufe von früheren Anerken-
nungen aus. Da diese in Deutschland europaweit einmalig hoch ist, bleibt so
verborgen, dass in den letzten Jahren mehr Ab- als Anerkennungen ausgespro-
chen wurden, d. h. dass die Zahl der in Deutschland lebenden anerkannten
Flüchtlinge sinkt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Asylanträge wurden seit November 2006 nach § 14a Abs. 2 des
Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) von Amts wegen für hier geborene Kin-
der von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen gestellt (bitte monatlich auf-
listen und den jeweiligen Anteil an der Gesamtzahl der Erstanträge angeben)?

a) Wie viele dieser Anträge endeten mit einer Anerkennung nach Artikel 16a
GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. mit der Anerkennung von Abschie-
bungshindernissen?

b) Falls genaue Erkenntnisse hierzu nicht vorliegen: Welche Angaben lassen
sich zum Ausgang und zur Länge dieser Verfahren machen?

c) Ist die Bundesregierung bereit, diese von Amts wegen gestellten Asyl-
anträge statistisch und in den monatlichen Pressemitteilungen gesondert
auszuweisen und sie aus der Zahl der Erstasylantragstellerinnen und
-antragsteller herauszurechnen, um dem falschen Eindruck entgegenzu-
wirken, hier handele es sich um nach Deutschland zugewanderte Personen
bzw. um von Asylsuchenden zu Unrecht gestellte Anträge?

Wenn nein, warum nicht?

2. Wie hoch war der Anteil so genannter Dublin-II-Entscheidungen im Jahr
2007 (bitte monatlich auflisten und den jeweiligen Anteil an der Gesamtzahl
der Erstanträge angeben)?

a) Ist die Bundesregierung bereit, diese Entscheidungen in den monatlichen
Pressemitteilungen regelmäßig gesondert auszuweisen und sie bei der
Berechnung der Anerkennungsquote nicht zu berücksichtigen, da in die-
sen Fällen keine inhaltliche Bewertung der Fluchtgründe vorgenommen
wurde?

Wenn nein, warum nicht?

b) Ist die Bundesregierung bereit, auch sonstige formelle Entscheidungen bei
der Berechnung der Anerkennungsquote nicht zu berücksichtigen, da auch
in diesen Fällen keine inhaltliche Bewertung der Asylanträge vorgenom-
men wurde und dem falschen Eindruck entgegengewirkt werden sollte, in
den Fällen formeller Entscheidungen handele es sich um unbegründete
oder gar missbräuchliche Asylanträge?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/7592

3. Wie hat sich die Gesamtschutzquote (siehe Vorbemerkung) in den letzten
15 Jahren in Deutschland entwickelt (bitte jährlich auflisten)?

4. Wie hoch sind in etwa die Gesamtschutzquoten der anderen EU-Mitglied-
staaten zum letzten verfügbaren vergleichbaren Stand?

5. Wie hoch wäre in etwa die Gesamtschutzquote in den Jahren 2005, 2006 und
2007, wenn die in Frage 1 benannten Entscheidungen infolge der von Amts
wegen nach § 14a Abs. 2 AsylVfG gestellten Anträge und die in Frage 2 be-
nannten formellen Entscheidungen (z. B. in Dublin-II-Fällen) bei der Berech-
nung der Anerkennungsquote nicht berücksichtigt würden?

6. Wie hoch war die Gesamtschutzquote in den letzten 15 Jahren in Deutschland
jährlich, wenn die Anerkennungen auf die tatsächlich inhaltlich entschiede-
nen Asylerstanträge (ohne formelle Entscheidungen) bezogen werden, und
wie waren bzw. sind im Vergleich hierzu die offiziellen Zahlen?

7. Welche Angaben zur Gesamtschutzquote lassen sich unter Einbeziehung der
Ergebnisse von Asylentscheidungen der Verwaltungsgerichte machen (so-
weit möglich bitte aktuelle und rückblickende Angaben machen)?

Falls keine Angaben gemacht werden können, weshalb verschafft sich die
Bundesregierung keine Kenntnis über die Spruchpraxis der Verwaltungs-
gerichte, und sind solche Kenntnisse nicht von entscheidender Bedeutung,
um die Qualität und Beständigkeit von Verwaltungsentscheidungen des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge beurteilen zu können?

8. Ist die Bundesregierung bereit, in ihren monatlichen Pressemitteilungen zu
Asylantrags- und -entscheidungszahlen in verständlicher Form und an erster
Stelle die Gesamtschutzquote auszuweisen, um dem falschen Eindruck ent-
gegenzuwirken, es würden nur ca. 1 Prozent aller Asylsuchenden in Deutsch-
land als schutzbedürftig anerkannt (siehe Vorbemerkung)?

Wenn nein, warum nicht?

9. Denkt die Bundesregierung – auch in Anbetracht der Weiterentwicklung des
Flüchtlingsrechts z. B. in Bezug auf Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge
durch die so genannte EU-Qualifikationsrichtlinie – an eine Gesetzesinitia-
tive zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes, wonach als „offensichtlich
unbegründet“ abgelehnt wird, wer „einer kriegerischen Auseinandersetzung“
entgehen wollte (§ 30 Abs. 2 AsylVfG), und wenn nein, warum nicht?

a) Denkt die Bundesregierung zumindest daran, solche Ablehnungen wegen
einer Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen in den monatlichen
Pressemitteilungen zu Asylantrags- und - entscheidungszahlen kenntlich
zu machen, um dem falschen Eindruck entgegenzuwirken, bei solchen
Ablehnungen handele es sich um missbräuchliche Asylgesuche?

Wenn nein, warum nicht?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie viele Asyl-
anträge mit dieser inhaltlichen Begründung einer Flucht vor Krieg und
Bürgerkrieg abgelehnt werden (wenn möglich bitte aktuelle und rück-
blickende Auskünfte geben)?

Wenn sie keine Kenntnisse hierzu hat, wird sie diese Zahlen künftig erhe-
ben, und wenn nein, warum nicht?

c) In wie vielen Fällen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den
Ausländerbehörden seit Oktober 2006 (bitte monatlich aufschlüsseln) mit-
geteilt, dass eine einjährige Aufenthaltserlaubnis nach § 60 Abs. 7 Auf-
enthG zu erteilen sei (wenn möglich bitte auch differenzieren nach Satz 1,

2 bzw. 3 der Vorschrift)?

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10. a) Wie hoch war die jährliche Gesamtzahl der Widerrufe von Asyl- oder
Flüchtlingsschutzanerkennungen in den Jahren ab 2000?

b) Wie hoch war die jährliche Zahl der Anerkennungen (Gesamtschutz-
quote) in den Jahren ab 2000?

c) Wie bewertet die Bundesregierung dieses Verhältnis von An- bzw. Ab-
erkennungen des Flüchtlingsstatus?

11. Beabsichtigt die Bundesregierung, die Zahl der Widerrufsverfahren bzw.
der tatsächlich erfolgten Widerrufe in ihren monatlichen Pressemitteilungen
anzugeben, um ein realistisches Bild der Asylgewährung bzw. -aberken-
nung in Deutschland zu vermitteln, und wenn nein, warum nicht?

12. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass etwa 50 Prozent aller
Asylerstanträge (2005: 51,1 Prozent, 2006: 45,5 Prozent) von Minderjähri-
gen bzw. (von Amts wegen) für Minderjährige gestellt wurden, und zwar
ganz überwiegend von unter 16-Jährigen?

a) Wie werden diese Asylgesuche entschieden?

b) Beabsichtigt die Bundesregierung, die Zahl der minderjährigen Asyl-
antragstellerinnen und -antragsteller in ihren monatlichen Pressemittei-
lungen anzugeben, um ein realistisches Bild der Asylsuche in Deutsch-
land zu vermitteln, und wenn nein, warum nicht?

13. Beabsichtigt die Bundesregierung, in ihren Statistiken getrennt zu erheben
und in ihren regelmäßigen Pressemitteilungen anzugeben, wie viele Asyl-
anträge von Personen gestellt werden, die in den letzten zwölf Monaten ein-
gereist sind, um die ungefähre Zahl derjenigen, die tatsächlich vorrangig
wegen eines Asylgesuchs nach Deutschland eingereist sind, erfassen zu
können, und wenn nein, warum nicht?

Welche Erkenntnisse liegen über die Voraufenthaltszeit von Asylerst-
antragstellern bzw. Asylerstantragstellerinnen überhaupt vor?

14. Wie hoch war die Zahl der Folgeanträge von 1980 bis 1994 jährlich bzw.
– falls diese Zahl nicht bekannt ist, weil bis 1994 Erst- und Folgeanträge zu-
sammen erfasst wurden – welche Angaben lassen sich für diesen Zeitraum
zum Verhältnis der Zahl der Asylerstanträge zur Zahl der Asylfolgeanträge
machen?

a) Wie ist das Verhältnis von Erst- und Folgeanträgen in den Jahren ab 1995
bis heute im Durchschnitt?

b) Wie hoch ist seit 1985 bis heute die Zahl der erkannten Mehrfachanträge
jährlich (gemeint ist die Zahl der Anträge, die z. B. aufgrund des Finger-
abdruckidentifizierungssystems AFIS als Zweitanträge identischer Per-
sonen unter anderem Namen identifiziert wurden)?

c) Wie wird in den offiziellen Asylstatistiken mit Mehrfachanträgen umge-
gangen, sind sie in der veröffentlichten Zahl der Asylanträge enthalten
oder werden sie herausgerechnet?

15. a) Stimmt die Bundesregierung der Einschätzung zu, dass die bis heute
offiziell verkündete Höchstzahl der Asylanträge im Jahr 1992 mit
438 191 bei einer realistischen Betrachtung und nach heute verwandten
Kriterien vermutlich um ca. 166 000 auf etwa 272 000 nach unten korri-
giert werden müsste, wenn eine Quote von 14,5 Prozent Mehrfachan-
trägen (vgl. Asyl-Erfahrungsbericht des Bundesministeriums des Innern
von 1993, S. 37) und 23,4 Prozent Folgeanträgen (z. B. für das Jahr
1995, in dem dies offiziell erstmalig erfasst wurde) gemessen an der

Gesamtantragszahl angenommen wird?

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b) Wird die Bundesregierung angesichts der politischen Bedeutung dieser
Zahlen die Asylstatistiken (Anträge, Anerkennungsquoten) rückwirkend
– insbesondere bis zum Jahr 1994 (keine Trennung von Erst- und Folge-
anträgen), aber auch ab 2005 (siehe Frage 1) – überarbeiten und in geän-
derter Fassung bekanntmachen?

Wenn nein, warum nicht?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die erheblichen asyl- und leistungsrecht-
lichen Verschärfungen der letzten 15 Jahre und deren aktuelle Berechtigung
angesichts der Tatsache, dass der politischen Begründung dieser Verschär-
fungen nicht die in den obigen Fragen skizzierten realistischen Antragszah-
len bzw. Schutzquoten zugrunde lagen?

Berlin, den 13. Dezember 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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