BT-Drucksache 16/715

Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus Hamburg und anderen Bundesländern

Vom 15. Februar 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/715
16. Wahlperiode 15. 02. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dagdelen, Heike Hänsel, Kersten Naumann
und der Fraktion DIE LINKE.

Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus Hamburg und anderen Bundesländern

Das ARD-Nachrichtenmagazin „Panorama“ berichtete am 12. Januar 2006 über
die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge nach Afghanistan durch die Auslän-
derbehörde in Hamburg. Die Abschiebung erfolgte entgegen eines richterlichen
Beschlusses, der das Verbot der Abschiebung festgestellt hatte und damit illegal.
Sie erfolgte außerdem in einen Staat, der keinesfalls als sichere Zuflucht gelten
kann; ferner wurde gezeigt, dass die Abgeschobenen nun dort in einem elenden
Flüchtlingscamp leben müssen. In einem ausführlichen Bericht des Informa-
tionsverbundes Asyl e. V. und der Stiftung PRO ASYL über eine Reise nach
Afghanistan, die im April 2005 erfolgte (http://www.proasyl.de/fileadmin/pro-
asyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/AfghBro.pdf), wird auf eine Reihe von
Umständen hingewiesen, die eine Rückführung von Flüchtlingen nach Afgha-
nistan aus humanitären Gründen als nicht hinnehmbar erscheinen lassen. Auf-
grund der ökonomischen Lage sei es der Regierung in Kabul nicht möglich,
rückkehrenden Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben zu garantieren. Mit
den Niederlanden, Dänemark und Großbritannien seien Abkommen unter Ein-
schluss des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge
(UNHCR) geschlossen worden, die die Aufnahme freiwillig zurückkehrender
Flüchtlinge regeln; diese Abkommen regeln die Bereitstellung entsprechender
Mittel für die Wiedereingliederung dieser Menschen. Die Bundesregierung hat
kein solches Abkommen geschlossen; nach den Angaben im genannten Bericht
scheiterte dies an der Weigerung der Bundesregierung, entsprechende Mittel für
Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Wohnraum stehe aber gerade für jene
Flüchtlinge, die sich mehrere Jahren nicht in Afghanistan aufgehalten hatten,
kaum zur Verfügung. Selbst wenn sie noch Familienangehörige in Afghanistan
haben, könnten sie bei diesen oftmals nicht unterkommen bzw. könnten sie diese
nicht erreichen, weil sie wegen fehlender finanzieller Mittel Kabul nicht verlas-
sen können. Alte und kranke Menschen, die sich nicht selbst versorgen können,
allein stehende oder allein erziehende Frauen sowie allein reisende Kinder hät-
ten nahezu keine Chance, sicher unterzukommen, da in Afghanistan allein der
Familienverbund für eine soziale Sicherung sorge. Fehle dieser oder nehme er
die betreffende Person aus Gründen der Tradition nicht auf, müssten die Betrof-
fenen ohne jede Hilfe auskommen. Für allein stehende Frauen gebe es keinerlei

Schutz vor Übergriffen. Hinzu kämen Schwierigkeiten für jene, die schon lange
in europäischen Ländern gelebt haben oder hier aufgewachsen sind, sich an die
patriarchalische Kultur anzupassen und Rechte und Freiheiten aufzugeben.
Selbst auf Kinder, die in den benachbarten Ländern Zuflucht gefunden hätten,
habe die Einstellung auf die neuen Lebensumstände negative psychologische
Auswirkungen. Schließlich sei auch die Sicherheitslage für Rückkehrerinnen
und Rückkehrer aus westlichen Ländern extrem schlecht. Weil unterstellt würde,

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sie seien wohlhabend, seien sie überdurchschnittlich häufig von Entführungen
betroffen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sind der Bundesregierung Fälle wie der in „Panorama“ geschilderte
bekannt, in denen Ausländerbehörden trotz gegenteiliger Beschlüsse von
Gerichten Abschiebungen durchführen, und welche Schritte hat die Bundes-
regierung unternommen, geplant oder im Rahmen der Innenministerkonfe-
renz (IMK) angeregt, um solchen Rechtsbrüchen bzw. -beugungen entge-
genzuwirken?

2. Welche Praktiken im Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan (ausnahms-
lose Rückführung, Fortsetzung der Duldung, Erteilung eines Aufenthalts-
titels aufgrund des § 24 Abs. 4 oder 5 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG
etc.) sind der Bundesregierung aus den Bundesländern bekannt?

3. Plant die Bundesregierung eine Initiative bei der IMK, die Praxis der
Bundesländer zu vereinheitlichen bzw. einen generellen Abschiebestopp für
afghanische Flüchtlinge zu erwirken?

4. Wie viele ausreisepflichtige Afghaninnen und Afghanen befinden sich der-
zeit in Deutschland, und wie viele wurden seit dem 1. Januar 2003 abge-
schoben (bitte nach Bundesländern und Jahren auflisten)?

5. Wie viele Afghaninnen und Afghanen sind seit dem 1. Januar 2003 freiwil-
lig ausgereist?

6. Bei wie vielen Afghaninnen und Afghanen wurde die Flüchtlingsanerken-
nung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge widerrufen?

7. Welche tatsächlichen Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Le-
benslage von nach Afghanistan abgeschobenen Flüchtlingen, insbesondere
was die besonders schutzbedürftigen Gruppen – alte und kranke Menschen,
unbegleitete Kinder, allein stehende Frauen und allein erziehende Mütter –
betrifft, und welche Schlüsse zieht sie aus diesen Erkenntnissen?

8. Welche Einschätzung hat die Bundesregierung zur menschenrechtlichen
Situation in Afghanistan?

a) Gilt Afghanistan derzeit als „sicheres Herkunftsland“, auf welchen
Erkenntnissen beruht diese Einstufung, und welche Angaben enthält der
Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Lage in Afghanistan genau?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zur Bedrohungslage allein
einreisender Frauen bzw. allgemein zur Situation von Frauen und ihrer
rechtlichen Stellung?

c) Befinden sich Frauen wegen ihres Geschlechts oder Homosexuelle wegen
ihrer sexuellen Orientierung in einer besonderen Bedrohungslage?

9. Warum hat die Bundesregierung kein Abkommen mit der Islamischen
Republik Afghanistan und dem UNHCR über die Rückführung von Flücht-
lingen abgeschlossen, wie dies die Niederlande, Dänemark und Großbritan-
nien getan haben?

10. Plant die Bundesregierung die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der
Islamischen Republik Afghanistan und dem UNHCR, um ein solches trila-
terales Abkommen abzuschließen?

11. Falls die Bundesregierung kein solches Abkommen plant, gehört die Islami-
sche Republik Afghanistan zu den Staaten, bei denen die Zuweisung von
Mitteln im Rahmen der Entwicklungshilfe bzw. -zusammenarbeit von der

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/715

Kooperation bei der Rückführung von Flüchtlingen abhängig gemacht
wird?

12. Welche Praxis ist der Bundesregierung von anderen Mitgliedstaaten der EU
bezüglich der Abschiebung afghanischer Flüchtlinge bekannt?

Berlin, den 13. Februar 2006

Ulla Jelpke
Sevim Dagdelen
Heike Hänsel
Kersten Naumann
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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