BT-Drucksache 16/6878

Rehabilitierung so genannter Kriegsverräter der Wehrmacht (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/1849)

Vom 24. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6878
16. Wahlperiode 24. 10. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dag˘delen und der Fraktion
DIE LINKE.

Rehabilitierung so genannter Kriegsverräter der Wehrmacht
(Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 16/1849)

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage „Aufhebung der NS-Militärgerichts-
urteile wegen Kriegsverrats“ lehnte die Bundesregierung eine pauschale Aufhe-
bung der NS-Urteile gegen so genannte Kriegsverräter noch ab und behauptete,
eine Einzelfallprüfung sei geboten. Es komme darauf an, ob „infolge des Verrats
zusätzliche Opfer unter der Zivilbevölkerung und/oder deutschen Soldaten zu
beklagen waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer gerade vermieden
wurden.“

Aus Sicht der Fragesteller läuft diese Argumentation darauf hinaus, das Leben
von Wehrmachtssoldaten über das Leben von Soldaten der Anti-Hitler-Koalition
und das Leben von Konzentrationslager-Häftlingen zu stellen. Denn die Voraus-
setzung für die Befreiung Europas vom Faschismus war die militärische Nieder-
ringung der Wehrmacht. Jeder Schlag gegen die Wehrmacht war ein Schlag ge-
gen die Naziherrschaft und damit zugleich ein Schlag zur Befreiung vom
Faschismus und zur Rettung von Menschenleben insbesondere in den Konzent-
rationslagern.

Deswegen ist widerständisches Verhalten von Soldaten grundsätzlich zu begrü-
ßen. Mit dem Kriegsverrats-Paragraphen verfolgte die Wehrmachtsjustiz Hal-
tungen oder Verhaltensweisen von Soldaten, die geeignet waren, den feindlichen
Mächten „Vorschub“ zu leisten und die eigene militärische Kraft zu schädigen.
Vor allem in der Endphase des Krieges entpuppte sich dieser Paragraph immer
mehr als Bestandteil des „Durchhalte“-Terrors.

Neue Forschungen des Militärhistorikers Wolfram Wette lassen erkennen, dass
wegen Kriegsverrats Verurteilte durchweg eine humanistische, bisweilen auch
explizit antifaschistische Motivation für ihr angebliches Delikt hatten. Die
Bundesregierung selbst erkennt mittlerweile offenbar die Unzulänglichkeit der
bisherigen Rehabilitationsregelungen, es bleibt aber offen, ob sie daraus gesetz-
geberischen Änderungsbedarf ableitet (Bundestagsdrucksache 16/6163).

Aus Sicht der Fragesteller ist es indes dringend geboten, Kriegsverräter zu reha-
bilitieren. Während „loyales“ Dienen in der Wehrmacht dazu geeignet war, den

Krieg und damit auch den Faschismus zu verlängern, lief Kriegsverrat darauf
hinaus, den Krieg zu verkürzen. Das muss durch die pauschale Aufhebung der
Unrechtsurteile anerkannt werden.

Drucksache 16/6878 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass der militärische
Sieg der Alliierten und der Widerstandsbewegungen unbedingt zu begrüßen
ist, und aus diesem Grund auch jede Schädigung der Kampfkraft der Wehr-
macht zu begrüßen ist?

2. Hält die Bundesregierung trotz des Umstandes, dass es für die Befreiung
Europas vom Faschismus unerlässlich war, Opfer unter deutschen Soldaten
zu verursachen, die Mitwirkung deutscher Deserteure und Kriegsverräter in
Armeen der Alliierten und Partisanenverbänden für potentiell verbreche-
risch, so dass die faschistischen Unrechtsurteile einer Einzelfallprüfung be-
dürften (bitte begründen)?

3. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass die Übermittlung
von Informationen über die deutsche Kriegsplanung, die den Sieg der Alliier-
ten befördert haben, ebenfalls zu begrüßen ist, und wenn ja, warum hält sie
dennoch eine Einzelfallprüfung der faschistischen Unrechtsurteile für not-
wendig?

4. Sind der Bundesregierung konkrete Fälle bekannt, in denen Kriegsverräter
„verbrecherisch“ oder „verwerflich“ gehandelt haben, und wenn ja, welche
(bitte detailliert benennen)?

5. Sind der Bundesregierung konkrete Fälle bekannt, in denen Soldaten, die den
faschistischen Vernichtungskrieg verraten haben, dazu beigetragen haben,
Einheiten der Wehrmacht in Fallen zu locken (bitte ggf. detailliert benennen),
und wie beurteilt sie diese Fälle?

6. Sind der Bundesregierung konkrete Fälle bekannt, in denen Soldaten, die den
faschistischen Vernichtungskrieg verraten haben, an die alliierten Truppen
Informationen über den Standort von Wehrmachtseinheiten geliefert haben,
die bis dahin den alliierten Truppen noch nicht vorgelegen hatten und unmit-
telbar zum Beschuss der Wehrmachtseinheiten geführt haben (bitte ggf. kon-
kret benennen), und wenn ja, wie beurteilt sie diese?

7. Ist der Bundesregierung bekannt, dass den Forschungen von Professor
Wolfram Wette zufolge die Verräter am faschistischen Vernichtungskrieg
ganz überwiegend moralisch-ethisch und politisch motiviert waren, und
wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

8. Bleibt die Bundesregierung dabei, die Bewertung von Kriegsverrat danach zu
beurteilen, ob durch den Verrat an der Kriegführung der Nazis zusätzliche
Opfer unter deutschen Soldaten entstanden sind, und wenn ja, warum?

9. Ist der Bundesregierung bekannt, dass auch das Attentat des 20. Juli 1944
zusätzliche Opfer unter deutschen Soldaten verursacht hat, zuallererst bei
denjenigen, die an der Lagebesprechung im Führerhauptquartier anwesend
waren?

a) Ist der Bundesregierung bekannt, dass andere, gescheiterte Attentatsver-
suche der Verschwörer des 20. Juli im Falle ihres Gelingens ebenso
zusätzliche Opfer unter deutschen Soldaten und möglicherweise auch
Zivilisten verursacht hätten (beispielsweise das beabsichtigte Selbstmord-
attentat des Freiherr von Gersdorff im Berliner Zeughaus oder die Platzie-
rung einer Bombe in einem von Hitler genutzten Flugzeug)?

b) Hat die Bundesregierung jemals erwogen, aus diesem Umstand die
Schlussfolgerung zu ziehen, die Verschwörer des 20. Juli nicht weiter zu
ehren?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6878

10. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer Haltung, die Attentäter des 20. Juli,
die bekanntermaßen zahlreiche Kriegsverbrechen begangen haben (Weiter-
leitung und Umsetzung des Kommissarbefehls, Verhungernlassen von
Hunderttausenden von Rotarmisten durch den Generalquartiermeister
Eduard Wagner, Propagierung so genannter toter Zonen einschließlich der
Erschießung Unschuldiger, Anleitung von und Beteiligung an Massen-
erschießungen von meist jüdischen Zivilistinnen und Zivilisten unter dem
Vorwand der Partisanenbekämpfung beispielsweise durch die Generale
Henning von Tresckow und Carl Heinrich von Stülpnagel usw.), trotz die-
ser Verbrechen pauschal zu würdigen, Kriegsverräter hingegen nur unter
der Bedingung einer Einzelfallprüfung als rehabilitiert einzuschätzen, und
wenn ja, warum?

Berlin, den 23. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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