BT-Drucksache 16/6599

Soziale Gerechtigkeit statt Generationenkampf - Für eine nachhaltige Politik des Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt

Vom 10. Oktober 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6599
16. Wahlperiode 10. 10. 2007

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Katja Kipping, Jan Korte, Sevim Dag˘delen,
Cornelia Hirsch, Michael Leutert, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Soziale Gerechtigkeit statt Generationenkampf – Für eine nachhaltige Politik
des Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine sichere und solidarische Zukunft für Jung und Alt ist nur mit einem verläss-
lichen und starken Sozialstaat zu erreichen. Das Gebot der Stunde ist heute: In-
vestitionen in die Zukunft, nachhaltiger Ausbau der sozialen Sicherungssysteme
und der öffentlichen Infrastruktur, Wahrung der materiellen und natürlichen Le-
bensgrundlagen sowie Sicherung von Teilhaberechten für alle Generationen.
Generationengerechtigkeit herzustellen, erfordert gerade heute, den Ausbau des
Sozialstaates voranzutreiben, damit junge wie ältere Menschen einer sozialen
und gesicherten Zukunft entgegengehen können. Dies schließt ein, dass die Zu-
kunft der Jungen nicht auf dem Rücken der Alten erkauft wird, die den vorhan-
denen gesellschaftlichen Reichtum erwirtschaftet haben. Sie haben ein Recht
auf Altern in sozialer Absicherung, Würde und mit menschlicher Wärme.

Der interfraktionelle Gesetzentwurf zur Verankerung der Generationengerech-
tigkeit im Grundgesetz ist zentraler Bestandteil einer Kampagne, die maßgeb-
lich von wirtschaftsnahen Lobbyistinnen und Lobbyisten vorangetrieben wird
und insbesondere junge Abgeordnete für ihre Zwecke zu gewinnen sucht. Eine
Schlüsselrolle dabei spielt die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generatio-
nen“, die sich maßgeblich aus wirtschaftsnahen Quellen speist, unter anderem
der Bertelsmann- und der Bosch-Stiftung. Die Initiative wurde auch vor dem
Hintergrund der Auseinandersetzung um die Neuordnung der Bund-Länder-
Finanzbeziehungen im Rahmen der Föderalismusreform II eingebracht. Sie be-
fördert die Politik zugunsten eines Wettbewerbsföderalismus neoliberalen Zu-
schnitts, bei der im Kern das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes zur Dispo-
sition gestellt werden soll. Diese Initiative wirbt für einen marktradikalen Poli-
tikwechsel.

Die derzeitige Debatte über Generationengerechtigkeit ist ein Vorwand für eine
Politik des radikalen Sozialabbaus und der Privatisierung sozialer Risiken. Pri-
vate Vorsorge begünstigt die Versicherungswirtschaft und jene, die genug haben,

um vorzusorgen. Gerade junge Generationen werden durch den Abbau des
Sozialstaates belastet, da in ihre Zukunft nicht mehr investiert wird. Sie werden
zukünftig mehr zahlen für ihre Ausbildung, die Betreuung ihrer Kinder, ihre
Altersvorsorge und die Wahrung ihrer Gesundheit. Nur Wohlhabende können
sich dies leisten.

Im Gegensatz ist es erforderlich, die Interessen der heutigen und zukünftigen
Generationen zu schützen und sie nicht gegeneinander auszuspielen. Die Forde-

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rung nach einem Verschuldungsverbot des Staates widerspricht auch vor diesem
Hintergrund jeder wirtschafts- und finanzpolitischen Vernunft und ist sozial-
politisch unverantwortlich. Nicht der Abbau von Sozial- und Arbeitsmarktstan-
dards gehört auf die politische Tagesordnung, sondern eine politische Renais-
sance der sozialen Gerechtigkeit.

Gerechtigkeit setzt Umverteilung voraus. Das Grundgesetz muss nicht geändert,
sondern umgesetzt werden. Es gebietet, dass der Staat allen seinen Bürgerinnen
und Bürgern eine gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten muss. Es fordert,
dass Eigentum dem Allgemeinwohl verpflichtet ist und bei Bedarf sogar in Ge-
meineigentum überführt werden kann. Dafür gilt es einzutreten, statt unter dem
Vorwand von Generationengerechtigkeit die Lebensbedingungen der großen
Mehrheit der Gesellschaft weiter zu verschlechtern und den Weg in eine unsoli-
darische Gesellschaft fortzusetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. keine Grundgesetzänderung vorzulegen, die eine weitere Schuldenbegren-
zung impliziert und zudem eine Senkung der Staatsquote nach sich zieht;

2. sich für ein gerechteres Steuersystem einzusetzen, das Gewinne, Vermögen,
Erbschaften und hohe Einkommen stärker für den Aufbau einer sozial ge-
rechten Gesellschaft heranzieht und damit die Basis für eine solidarische Po-
litik der sozialen Umverteilung von oben nach unten bildet;

3. die Massenarbeitslosigkeit entschieden zu bekämpfen, um der wachsenden
Armut zu begegnen und so auch nachhaltig und sinnvoll zur Ausgabenredu-
zierung des Staates beizutragen;

4. einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der sich in seiner Höhe am Ni-
veau vergleichbarer europäischer Länder orientiert, um die gestiegene Armut
von Erwerbstätigen zu verhindern und nachhaltig die Finanzierungsbasis des
Sozialstaates zu verbessern;

5. mehr und bessere Investitionen in die soziale Infrastruktur zu tätigen, um die
aktuellen Defizite abzubauen und zukünftigen Generationen eine sichere und
sozial gerechte Zukunft zu gewährleisten und Chancengerechtigkeit herzu-
stellen. Hierzu gehören insbesondere:

– mehr Investitionen in Kinderbetreuung und Bildung, Ganztagsschulen
und gebührenfreie Hochschulen, um Chancengleichheit im Bildungs- und
Gesellschaftssystem zu erwirken;

– durch eine Stärkung der Finanzkraft der Kommunen diese in die Lage zu
versetzen, eine Rekommunalisierung von Aufgaben der öffentlichen Da-
seinsvorsorge vorzunehmen, um nachfolgenden Generationen auch in die-
sem Bereich eine funktionstüchtige soziale Infrastruktur zu hinterlassen;

– eine repressionsfreie, bedarfsorientierte soziale Grundsicherung einzufüh-
ren, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht für Menschen, denen Er-
werbstätigkeit nicht möglich ist;

– für eine konsequente Beseitigung der Kinderarmut Sorge zu tragen durch
eine Erhöhung und Verbesserung des Kindergeldes, des Kinderzuschlags
und deren Ausbau zu einer bedarfsorientierten Kindergrundsicherung;

– Förderung einer familiengerechten Arbeitswelt durch geeigneten Eltern-
Kündigungs- und Rückkehrschutz, Vereinbarkeit von Beruf und Familie
sowie geeignete Arbeitszeitpolitik;

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6. die sozialen Sicherungssysteme auszubauen, um allen Generationen einen
nachhaltigen Schutz und soziale Absicherung zu gewährleisten. Hierzu gehö-
ren insbesondere:

– für eine gesetzliche, umlagefinanzierte dynamische Rente einzutreten, die
die Sicherung des Lebensstandards ebenso wie den Schutz vor Alters-
armut zum Kern der Rentenpolitik erklärt;

– eine solidarische Bürgerversicherung in der Gesundheit und Pflege einzu-
führen, um Bedarf und Finanzierbarkeit zu vereinbaren;

– den Versicherungsschutz bei Arbeitslosigkeit deutlich auszubauen, gerade
für ältere Menschen mit höheren Risiken;

7. Umwelt- und Klimaschutz als sozial sensible Aufgabe von und für Alt wie
Jung in Gegenwart und Zukunft zu betreiben;

8. Ausgaben für mehr Rüstung und die Beteiligung an internationalen militäri-
schen Interventionen zu unterlassen und die Mittel umzuwidmen für soziale,
ökologische und friedensfördernde Maßnahmen.

Berlin, den 10. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Generationengerechtigkeit ist eines der gegenwärtig am meisten bemühten so-
zialpolitischen Schlagwörter. Beinahe täglich wird in Deutschland die Überalte-
rung und der fehlende Nachwuchs der Familien beklagt. Umso erstaunlicher ist
es, dass in unserer so reichen Gesellschaft über 2,6 Millionen Kinder in sozialen
Notlagen leben und betagte Menschen vielfach in Pflegeheimen unterversorgt
und vereinsamt ihren Lebensabend fristen. In öffentlichen Diskussionen zur
Reform der sozialen Sicherungssysteme, der wachsenden Staatsverschuldung
sowie der Entwicklung von Sozialbeiträgen und Steuerabgaben wird die Frage
gestellt, ob man nicht stärker zwischen Alt und Jung umverteilen müsse, um
einen drohenden „Krieg der Generationen“ zu verhindern. Die gesellschaftliche
Polarisierung verläuft aber nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Arm
und Reich. Von Ausgrenzung und Armut sind Rentnerinnen und Rentner ebenso
betroffen wie Erwerbslose, Arbeiterinnen und Arbeiter in prekären Beschäf-
tigungsverhältnissen, Studierende, Auszubildende und Schülerinnen und Schü-
ler. Die derzeitige politisch motivierte Verwendung des Begriffs Generationen-
gerechtigkeit verschleiert die Tatsache, dass die geforderten Einschnitte vor
allem diejenigen treffen, die auf die Unterstützung der Gesellschaft am meisten
angewiesen sind. Die Folge sind Ausgrenzung und Armut für einen immer grö-
ßeren Teil der Bevölkerung. Soziale Fragen und Probleme als Folge der unglei-
chen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums werden zu demografischen
Katastrophenszenarien und Generationenkonflikten umgedeutet. Im Zusammen-
hang mit Forderungen nach mehr Generationengerechtigkeit werden in unver-
antwortlicher Weise unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen gegeneinander
aufgehetzt und ausgespielt, um den Abbau des Sozialstaates als unabwendbare
natürliche Notwendigkeit gerade auch gegenüber den Betroffenen zu legiti-
mieren.

Fragwürdig sind demografische Krisenszenarien, die auf Basis zweifelhafter

Prognosen Sachzwänge zum Abbau solidarischer Sicherungssysteme suggerie-
ren. Unerwähnt bleibt dabei in der Regel, dass demografische Veränderungen

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mit einer Steigerung der Produktivität einhergehen. So kann sich heute die Ge-
sellschaft leisten, dass mehr Nichterwerbstätige an der wachsenden gesellschaft-
lichen Wertschöpfung partizipieren, die durch weniger Erwerbsarbeit geschaf-
fen wird. Zudem bedeutet öffentliche Verschuldung zunächst einmal nur, dass
der Staat, das Land, die Kommune weniger eingenommen als ausgegeben
haben. Dabei bestehen die jeweiligen Generationen immer gleichzeitig aus
Schuldnern und Gläubigern. Die nächste Generation erbt also Forderungen und
Verbindlichkeiten. Deren ungerechte Verteilung innerhalb der alten wie inner-
halb der jungen Generationen ist das eigentliche Problem und rührt aus dem so-
zial ungerechten Steuern- und Abgabensystem sowie der ungleichen Reichtums-
verteilung. Selbst Produktivitätszuwächse werden nicht mehr an die Erwerbs-
tätigen weitergegeben, wie die sinkende Reallohnentwicklung zeigt. Zudem ist
der Zweck öffentlicher Verschuldung entscheidend. Investitionen in Wirtschafts-
subventionen, Waffensysteme, Atommüll und Umweltverschmutzung sind
sicherlich als Verschuldungstitel anders zu bewerten als zukunftsträchtige Inves-
titionen in den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) oder in
beitragsfreie Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und Universitäten.

Das Gerede über mangelnde Generationengerechtigkeit wird begleitet vom
Schweigen über die soziale Ungleichheit in allen Altersgruppen. Denn die so-
ziale Polarisierung wirkt als Folge der neoliberalen Politik von CDU, CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in fast allen Lebensbereichen innerhalb
aller Generationen. Bei den Jüngeren wie bei den Älteren geht die zunehmende
Armut einher mit wachsendem Wohlstand und vermehrtem Reichtum.

Es ist falsch zu behaupten, die ältere Generation müsse den Gürtel enger schnal-
len, damit die jüngere eine gesicherte Zukunft habe. Die derzeitige Renten- und
Bildungspolitik entpuppt dies in aller Deutlichkeit: Die Erhöhung des Renten-
zugangsalters von 65 auf 67 Jahre verschlechtert die Arbeitsmarktchancen der
kommenden Generationen und erhöht deren Ausgaben für die Altersvorsorge.
Seit Jahren bestätigen internationale Organisationen der Bundesregierung, dass
die derzeitige Bildungspolitik strukturelle soziale Ungleichheit verfestigt und
soziale Ausgrenzung von Kindern aus ärmeren Familien produziert. Der Staat
unterlässt notwendige Reformen und Investitionen in das öffentliche Bildungs-
system und verantwortet damit die Chancenungleichheit der jungen Armen. Wir
brauchen mehr Generationensolidarität und eine Politik, die dafür Sorge trägt,
dass die heutigen Generationen und die zukünftigen noch einen entwickelten
Wohlfahrtsstaat, soziale Sicherheit, eine intakte Umwelt und natürliche Res-
sourcen vorfinden. Investieren in die Zukunft und Ausbau des Sozialstaates ist
das Gebot der Stunde. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten, die
Armen nicht.

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