BT-Drucksache 16/6202

Praxis der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX bei Aufgriff von Flüchtlingen in internationalen Gewässern

Vom 6. August 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6202
16. Wahlperiode 06. 08. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jan Korte und der Fraktion
DIE LINKE.

Praxis der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX bei Aufgriff
von Flüchtlingen in internationalen Gewässern

Zur Koordination der Grenzschutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten wurde die
Europäische Grenzschutzagentur (FRONTEX) eingerichtet. In einer Mittei-
lung der EU-Kommission an den Rat heißt es zur Arbeit von FRONTEX:
„Ständige Operationen auf See würden nicht nur das Abfangen einer größeren
Zahl von Schiffen mit illegalen Einwanderern ermöglichen (…), sondern auch
als Abschreckung wirken und damit den Druck auf diesen Teil der Außen-
grenzen abmildern und verhindern, dass potenziell kritische Situationen wie in
diesem Jahr eskalieren.“ (Mitteilung der Kommission an den Rat – Ausbau von
Grenzschutz und -verwaltung an den südlichen Seegrenzen der Europäischen
Union – KOM/2006/0733 endg., Punkt 22). Zu diesem Zweck verfügt
FRONTEX inzwischen über ein technisches Zentralregister mit Gerätschaften,
der sog. tool-box. Durch die Änderung der Verordnung 2007/2004 des Rates zur
Einrichtung von FRONTEX durch die Verordnung vom 11. Juli 2007 stehen
nun Soforteinsatzteams aus den EU-Staaten für die Sicherung des Grenzschut-
zes zur Verfügung. Der Umgang mit Flüchtlingen an den Außengrenzen ist er-
wartungsgemäß kein Gegenstand der Verordnung über einen Mechanismus zur
Bildung von Soforteinsatzteams.

Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen neben der ungeklärten Frage,
wie bei einem technisch und personell hochgerüsteten Grenzschutz der Flücht-
lingsschutz noch sichergestellt werden soll, die hohe Zahl an Toten im Mittel-
meer. Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung an den Rat zum
Ausbau von Grenzschutz und -verwaltung an den südlichen Seegrenzen der
EU (KOM(2006)733 endg.) die Verhinderung weiterer „Tragödien unter den
illegalen Einwanderern“ an den südlichen EU-Außengrenzen gefordert. Unter
anderem wird die schnellere Identifizierung von Schutzbedürftigen bei „ge-
mischten Migrationsströmen“ angestrebt, sowie die Klärung offener Fragen des
Seerechts, etwa beim „Abfangen von Schiffen“, bei der Bestimmung des auf-
nehmenden Hafens (und damit der Verantwortung zur Durchführung von Asyl-
verfahren und ggf. zur Gewährung von Schutz) und hinsichtlich der Wirkung
des Refoulement-Verbots der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. der

Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf hoher See. Die Kom-
mission will eine Studie zu den Rechtslücken des Seerechts vorlegen und hierzu
„praktische Leitlinien“ erarbeiten. Bisher arbeiten FRONTEX und die Sofort-
einsatzteams also, ohne dass letztlich zentrale menschen- und völkerrechtliche
Fragen geklärt worden sind.

Drucksache 16/6202 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was sind genau die Aufgaben der von der Europäischen Grenzschutzagen-
tur FRONTEX eingesetzten Schiffe, Hubschrauber, Flugzeuge und des ein-
gesetzten, anderen technischen Materials?

2. Welche Gegenstände hat die Bundesregierung für das Zentralregister für
technische Ausrüstungsgegenstände (tool box) von FRONTEX gemeldet,
und welche Gerätschaften sind für die „tool box“ insgesamt gemeldet wor-
den?

3. Wie viele Vertreterinnen und Vertreter welcher deutschen Behörden sind
derzeit zu FRONTEX abgeordnet worden (Angabe mit Dienstgrad und Aus-
bildung)?

Welche Aufgaben haben sie dort, und an welchen Operationen sind sie 2007
beteiligt (gewesen)?

4. Wie viele Vertreterinnen und Vertreter deutscher Behörden wird die Bun-
desregierung voraussichtlich für die geplanten Soforteinsatzteams für
Grenzsicherungszwecke (KOM (2006) 401 endg.) zur Verfügung stellen,
und welche Anforderung an Fähigkeiten und Qualifikationen müssen durch
sie erfüllt werden (Angabe mit Dienstgrad)?

5. Welche Behörde wird „nationale Kontaktstelle“ für die Soforteinsatzteams
im Sinne von Artikel 8f in der durch die „Verordnung (…) über einen Me-
chanismus zur Bildung von Soforteinsatzteams usw.“ geänderten Verord-
nung (EG) 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004?

6. Wie viele Seefahrzeuge, die sich auf dem Weg in oder schon in Hoheits-
gewässer(n) von EU-Mitgliedstaaten befanden, wurden unter Beteiligung
deutscher Beamter aufgebracht bzw. zur Umkehr gebracht (bitte nach Jah-
ren auflisten)?

7. Welche Kooperationsvereinbarungen bestehen zwischen FRONTEX und
deutschen Behörden (insbesondere der Bundespolizei), welches ist ihr
jeweiliger Zweck, und welche konkreten Projekte sind aus dieser Zu-
sammenarbeit bisher hervorgegangen?

8. Aus welchen Ländern der EU und außerhalb der EU haben seit 2002 Sicher-
heitskräfte an Trainingsprogrammen zum Grenzschutz von Seiten der Bun-
despolizei teilgenommen (bitte nach Jahren auflisten)?

9. In welchen Fällen hat sich die Bundesregierung über finanzielle Beihilfen
oder im Rahmen binationaler Konsultationen an der Vermittlung von
Sicherheitstechnologie zum Zweck der Grenzsicherung an andere Staaten
beteiligt,

a) innerhalb der EU-Mitgliedstaaten,

b) außerhalb der EU-Mitgliedstaaten

(bitte ab 2002 auflisten)?

10. Welche deutschen Behörden geben für die Bekämpfung illegaler Migration
relevante Informationen an FRONTEX weiter, um welche Art von Infor-
mationen handelt es sich dabei, und wie werden diese von FRONTEX ver-
arbeitet?

11. Welche deutschen Behörden und gemeinsame Einrichtungen von Behörden
erhalten für die Bekämpfung illegaler Migration relevante Informationen
von FRONTEX, um welche Art von Informationen handelt es sich dabei,
und wie werden sie verarbeitet?

12. An welchen europäischen Institutionen, Einrichtungen und Ausschüssen ist
FRONTEX beteiligt bzw. ist in ihnen vertreten?
13. Welche Stellen in der EU und der Bundesrepublik Deutschland erhalten
vollständigen Einblick in die Tätigkeitsberichte von FRONTEX?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6202

14. Wie bewertet die Bundesregierung allgemein das Fehlen jeder parlamen-
tarischen Kontrolle von FRONTEX (s. Bundestagsdrucksache 16/1752,
Vorbemerkung der Bundesregierung und Frage 31; Bundestagsdrucksache
16/5019, Frage 7), auch vor dem Hintergrund ihrer Einbindung in die
Europäische Sicherheitsarchitektur?

15. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zum Vorschlag der Kommis-
sion ein, einen Expertenpool für Asylrecht einzurichten, der Mitgliedstaaten
bei der asyl- und flüchtlingsrechtskonformen „Abfertigung großer gemisch-
ter Migrationsströme“ (KOM (2006) 733 endg., 25.) unterstützt?

Welche Initiativen hat die Bundesregierung im Rahmen ihrer Präsident-
schaft in diese Richtung ergriffen?

16. Welche Maßnahmen sieht die Bundesregierung als notwendig an, damit die
internationalen und gemeinschaftlichen Schutzverpflichtungen gegenüber
Flüchtlingen integraler Bestandteil der von FRONTEX koordinierten Tätig-
keiten und Operationen werden, und welche Maßnahmen hat die Bundes-
regierung selbst ergriffen oder angestoßen?

17. Inwieweit gelten für Vollzugsbeamte in den zukünftigen Soforteinsatzteams
bzw. bereits jetzt in den sonstigen Operationen von FRONTEX die in der
Europäischen Union geltenden menschen- und flüchtlingsrechtlichen Bin-
dungen, soweit Kontrollmaßnahmen

a) außerhalb der 12-Meilen-Zone,

b) innerhalb der bis zu 24 Meilen umfassenden Anschlusszone,

c) oder in den territorialen Gewässern der nordafrikanischen Staaten in Ko-
operation mit deren Sicherheitsbehörden,

durchgeführt werden?

18. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung ganz allgemein zu der
völkerrechtlichen Frage, inwieweit eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit
beteiligter Rechtspersonen bereits durch solche hoheitlichen Akte begrün-
det wird, die generell im Zusammenhang mit der Grenzkontrolle stehen?

19. Welche Einschätzung vertritt die Bundesregierung in diesem Zusammen-
hang zur Position des UNHCR (UN-Flüchtlingskommissar), dass das
Nichtzurückweisung-Gebot keine geographische Begrenzung hat, sondern
sich auf die Tätigkeit aller Vertreter des Staats auch außerhalb seines
Hoheitsgebiets erstreckt?

20. Wie ist der Stand der Ausarbeitung der von der Kommission angekündigten
„praktischen Leitlinien“ zu den offenen Fragen des Seerechts und Umgangs
mit Flüchtlingsschiffen auf hoher See?

21. Wer genau erarbeitet in welchem Gremium diese Leitlinien, und welche
Position/Rolle nimmt die Bundesregierung bzw. ihre Vertretung hierbei ein?

22. Wie ist die Position der Bundesregierung zu nachfolgenden Fragen des See-
rechts bzw. welche Position nimmt sie in den Verhandlungen/Beratungen
auf europäischer Ebene hierzu ein:

a) Ist ein Abdrängen von Booten mit „illegalen Einwanderern“ auf hoher
See nach Ansicht der Bundesregierung rechtens?

Von welchen EU-Ländern wird dies praktiziert?

Wie soll beim Abfangen von Schiffen verfahren werden?

b) Hat das Refoulement-Verbot der GFK bzw. der EMRK (bitte jeweils un-
ter Benennung der Rechtsgrundlagen/Rechtsprechung gesondert beant-
worten!) „exterritoriale Wirkung“, d. h. ist z. B. Deutschland für die
Durchführung eines Asylverfahrens (und ggf. für die Gewährung von

Schutz) zuständig, wenn auf hoher See von einem Schiff mit deutscher
Flagge „illegale Einwanderer“ aus Seenot gerettet werden?

Drucksache 16/6202 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Wie ist diese Frage bei von FRONTEX koordinierten Einsätzen zu be-
antworten?

c) Ist ein Abdrängen von Booten/Absetzen von Geretteten in Länder, die
die GFK nicht unterzeichnet haben (z. B. Libyen), zulässig/rechtens?

23. Setzt sich die Bundesregierung für eine verbindliche europäische Bestim-
mung ein, wonach Transporteure/Kapitäne nicht bestraft oder sanktioniert
werden dürfen, wenn sie Seenot-Gerettete zu einem Hafen in der EU brin-
gen (und wenn nein, warum nicht)?

24. Warum sträubt sich die Bundesregierung gegen eine schnelle Änderung der
Dublin-II-Verordnung bzw. gegen eine schnelle Lastenverteilungsregelung
innerhalb der EU (wie etwa von Malta gefordert), obwohl die Dublin-II-
Verordnung zumindest indirekt dazu führt, dass z. B. Malta seinen Pflichten
zur Flüchtlingsaufnahme und Lebensrettung nicht nachkommt, weil es sich
mit der Aufnahme von Flüchtlingen angesichts der dortigen Zuständigkeits-
regelung überfordert sieht?

25. Wie ist die Aussage des Bundesministers des Innern, Dr. Wolfgang
Schäuble, es sei „kein Zweifel daran erlaubt“, dass es bei den FRONTEX-
Aktionen in erster Linie um die Rettung Schiffbrüchiger gehe (DIE WELT,
26. Juni 2007), mit der Aussage des FRONTEX-Chefs, Ilkka Laitinen, ver-
einbar, wonach Such- und Rettungsaufgaben gerade nicht der Auftrag seien,
den FRONTEX von der EU erhalten habe (FAZ, 13. Juni 2007)?

26. Wie sehen die Vereinbarungen mit den Bundesländern konkret aus, mit
denen Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble die Voraussetzungen
dafür geschaffen haben will, dass Seenot-Gerettete auch nach Deutschland
gebracht werden können (DIE WELT, 26. Juni 2007), und wie viele wurden
bislang nach Deutschland gebracht?

27. In welchen EU-Ländern werden Grenzschutzaufgaben ganz oder teilweise
vom Militär übernommen?

Welche Beiträge (Personal, Gerätschaft, intelligence), die Deutschland ge-
genüber FRONTEX erbringt oder erbracht hat, kommen aus dem Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung (bitte auch kon-
kret benennen)?

28. Auf welcher Rechtsgrundlage basiert die Einbeziehung der deutschen mili-
tärischen Ressourcen in die FRONTEX-Aktivitäten?

29. a) Welche technischen Mittel (einschließlich Satellitensysteme) werden
von FRONTEX zur luftseitigen Beobachtung des Mittelmeers, der West-
küste Afrikas und der östlichen Land-Außengrenzen der EU sowie des
Ostseeraums eingesetzt?

b) Mit welchen Staaten, multilateralen Staatenbünden und privaten Unter-
nehmen arbeitet FRONTEX dabei zusammen, und inwiefern wird diese
Zusammenarbeit von deutscher Seite unterstützt?

c) Wie werden die so gewonnenen Informationen zur Grenzsicherung ver-
wendet, und mit welchen Institutionen und Organisationen arbeitet
FRONTEX in diesem Zusammenhang in Fällen der Seenotrettung zu-
sammen?

Berlin, den 1. August 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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