BT-Drucksache 16/6128

Haltung der Bundesregierung zur gegenwärtigen und früheren Berufsverbotepraxis

Vom 23. Juli 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6128
16. Wahlperiode 23. 07. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Cornelia Hirsch, Jan Korte, Kersten Naumann,
Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der
Fraktion DIE LINKE.

Haltung der Bundesregierung zur gegenwärtigen und früheren
Berufsverbotepraxis

Im Januar 1972 beschlossen die Regierungschefs des Bundes und der Länder
den so genannten Radikalenerlass. Die daraufhin folgende Praxis, Personen auf-
grund ihres politischen Engagements eine Anstellung im öffentlichen Dienst zu
verweigern, war und ist in der Europäischen Union einmalig. Insgesamt wurden
bis 1991 gegen ca. 1 100 Personen Berufsverbote ausgesprochen, 130 Personen
wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen (vgl. http://www.wdr.de/themen/
kultur/stichtag/2006/05/19.jhtml).

Der Radikalenerlass wurde im In- und Ausland aufgrund seiner Demokratie-
feindlichkeit von breiten gesellschaftlichen Bündnissen scharf kritisiert. Auf-
grund dieser Kritik stellte der Bund im Jahr 1979 die Regelanfrage beim Verfas-
sungsschutz auf die Verfassungstreue von Bewerberinnen und Bewerbern für den
öffentlichen Dienst ein. Die Länder folgten in den 80er Jahren, das Schlusslicht
bildete Bayern, das die Regelanfragen als letztes Bundesland 1991 einstellte.

Die Regelanfrage gehört somit der Vergangenheit an, die Praxis der Berufsver-
bote wurde hierdurch jedoch nicht vollständig abgeschafft. Vielmehr wurde die
Regelanfrage durch die so genannte Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz er-
setzt. Hiernach erfolgt eine Anfrage dann, wenn sich angeblich konkrete Anzei-
chen einer Gegnerschaft zur verfassungsmäßigen Ordnung ergeben. Im Jahr
1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg,
dass der Radikalenerlass gegen die Menschenrechte der Meinungsfreiheit und
Koalitionsfreiheit sowie gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen
habe. Damit wurde nach dreiundzwanzig Jahren unseliger Gesinnungsprüfun-
gen zumindest juristisch ein Schlussstrich gezogen (vgl. Urteil des EGMR im
Fall D. Vogt vom 26. September 1995).

Für erhebliches Aufsehen und Befürchtungen, die überwunden geglaubte Praxis
könne wiederaufleben, sorgte in den letzten Jahren das Berufsverbot gegen
einen Lehramtsanwärter in Baden-Württemberg. Ihm wurde die Übernahme in
den Schuldienst mit dem Hinweis auf sein antifaschistisches Engagement

verwehrt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des früheren Bundeskanzlers Willy
Brandt, dass der 1972 erlassene so genannte Radikalenerlass ein Irrtum ge-
wesen sei (bitte mit Begründung)?

Drucksache 16/6128 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

2. a) Ist die Bundesregierung angesichts des Vorfalls, dass noch in der jüngsten
Vergangenheit einem Lehramtsanwärter in Baden-Württemberg die Über-
nahme in den Schuldienst mit dem Hinweis auf sein antifaschistisches
Engagement verweigert wurde und er erst nach einer erfolgreichen Klage
die Möglichkeit hatte, sich auf den von ihm gewünschten Beruf zu bewer-
ben, im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz initiativ geworden
oder beabsichtigt die Bundesregierung, dies zu tun (bitte mit Erläute-
rung)?

b) Wie bewertet die Bundesregierung diesen Vorfall?

3. a) Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über die bestehenden Regelun-
gen in den einzelnen Bundesländern, die zu einer Verweigerung der Über-
nahme in den Schuldienst aufgrund von politischem Engagement führen
können (bitte für die jeweiligen Bundesländer einzeln aufschlüsseln)?

b) Wie bewertet die Bundesregierung diese Regelungen?

4. a) Wie bewertet die Bundesregierung das Urteil des Europäischen Gerichts-
hofes für Menschenrechte (EGMR) vom 26. September 1995 bezüglich
des Falls von Dorothea Vogt, nach dem der „Radikalenerlass“ gegen ele-
mentare Bestandteile der Menschenrechte verstoßen habe?

b) Welche politischen Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen,
um Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen, insbesondere in Hinsicht auf
andere von Berufsverboten betroffene Personen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung die getroffenen Maßnahmen?

d) Welche Maßnahmen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung von den
Bundesländern getroffen?

e) Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung nach diesem Urteil keine
Initiative ergriffen, um die am 17. Januar 1979 neu gefassten „Grundsätze
für die Prüfung der Verfassungstreue“ ersatzlos zu streichen und den Bun-
desländern zu empfehlen, die für ihren Verantwortungsbereich ähnlich
lautenden Grundsätze aufzuheben?

5. a) Welche politischen Maßnahmen stehen aus Sicht der Bundesregierung auf
Bundes- bzw. auf Länderebene nach wie vor aus?

b) Plant die Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode entspre-
chende Maßnahmen vorzunehmen bzw. die Bundesländer zu entsprechen-
den Maßnahmen aufzufordern?

6. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf Bundesländer einzu-
wirken, deren Berufsverbotepraxis in Anlehnung an das Urteil des EGMR
gegen elementare Bestandteile der Menschenrechte verstößt?

7. Wird die Bundesregierung die Initiative zu einem „Wiedergutmachungs- und
Rehabilitierungsgesetz“ ergreifen, um alle von der Berufsverbotepraxis Be-
troffenen juristisch, politisch und persönlich zu rehabilitieren sowie materiell
zu entschädigen?

a) Wenn ja, wann, und in welcher Form?

b) Wenn nein, warum nicht?

Auf welche Art und Weise sollen die Betroffenen ansonsten eine entspre-
chende Entschädigung erhalten?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/6128

8. a) Welcher Schadensersatz und welche weitergehende Ausgleichsleistun-
gen für berufliche Benachteiligungen (z. B. Ausgleich von Nachteilen in
der Rentenversicherung) sind den von der Berufsverbotepraxis Betroffe-
nen gewährt worden?

b) Hält die Bundesregierung diese Ausgleichsleistungen für angemessen
und ausreichend (bitte mit Begründung)?

9. a) Inwieweit sind die in Verbindung mit den Berufsverboteverfahren ange-
legten Dossiers nach Kenntnis der Bundesregierung weiterhin in Verfas-
sungsschutz- und Personalakten enthalten?

b) Welche Nachteile entstehen daraus für die Betroffenen?

c) Wird die Bundesregierung sich für die Entfernung der entsprechenden
Dossiers einsetzen?

Falls ja, wann und in welcher Form?

Falls nein, warum nicht?

10. a) Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über das Ausmaß von Verwei-
gerung der Aufnahme in den öffentlichen Dienst oder Entfernungen aus
dem öffentlichen Dienst nach 1990 aufgrund von politischen Aktivitäten
in der DDR?

b) Welche Art politischer Aktivitäten in der DDR war ausschlaggebend für
die jeweiligen Aufnahmeverweigerungen bzw. Entlassungen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung diese neuere Praxis der Berufsverbote?

11. a) Welche Materialien zur Aufklärung über die Berufsverbotepraxis gibt es
bei der Bundeszentrale für politische Bildung?

b) Welche weiteren Publikationen sind geplant?

12. a) Wie viele Wiederaufnahmeverfahren von Angehörigen des öffentlichen
Dienstes bei Bundesbehörden sind derzeit bei deutschen Gerichten an-
hängig, und welche Position vertritt die Bundesregierung in diesen Ver-
fahren?

b) Wie viele Wiederaufnahmeverfahren von Angehörigen des öffentlichen
Dienstes bei Bundesbehörden sind derzeit auf europäischer Ebene an-
hängig, und welche Position vertritt die Bundesregierung in diesen Ver-
fahren?

13. a) Wie viele Verfahren wegen Rehabilitierung und/oder Entschädigung von
Angehörigen des öffentlichen Dienstes bei Bundesbehörden sind derzeit
bei deutschen Gerichten anhängig, und welche Position vertritt die Bun-
desregierung in diesen Verfahren?

b) Wie viele Verfahren wegen Rehabilitierung und/oder Entschädigung von
Angehörigen des öffentlichen Dienstes bei Bundesbehörden sind derzeit
auf europäischer Ebene anhängig, und welche Position vertritt die Bun-
desregierung in diesen Verfahren?

14. a) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über entsprechende Ver-
fahren von Angehörigen des öffentlichen Dienstes auf kommunaler bzw.
Länderebene?

b) Beabsichtigt die Bundesregierung, diese Thematik gegenüber den Län-
dern anzusprechen, und wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 19. Juli 2007
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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